VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 14.12.2007 - 6 E 3344/06.A (1) - asyl.net: M12886
https://www.asyl.net/rsdb/M12886
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, Gefahr für die Allgemeinheit, Freiheitsstrafe, Jugendstrafe, Änderung der Sachlage, politische Entwicklung, Reformen, Menschenrechtslage, exilpolitische Betätigung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8
Auszüge:

Die zulässige Klage ist auch begründet, denn der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14.08.2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Zu Unrecht hat die Beklagte den auf dem Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 10.10.2000 beruhenden Bescheid vom 24.11.2000, mit dem das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt wurde, widerrufen.

Aufgrund der erfolgten Verurteilung des Klägers ist das Abschiebungshindernis des § 51 Abs. 1 AuslG nicht entfallen. Allerdings bestimmen § 51 Abs. 3 S. 1 AuslG und die inhaltsgleiche Nachfolgevorschrift des § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG, das § 51 Abs. 1 AuslG bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung finden, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonderen schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Der Kläger ist zwar durch das Landgericht Würzburg zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monate wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden, doch handelte es sich hierbei um eine Jugendstrafe. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfasst § 51 Abs. 3 AuslG allerdings nur Bestrafungen nach Erwachsenenstrafrecht, nicht hingegen Verurteilungen zu einer Jugendstrafe (Urteil vom 16.11.2000 - 9 C 4/00, BVerwGE 112, 180). Gleiches muss für § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG gelten (VG Münster, Urteil vom 12.01.2006 - 3 K 5265/03.A zitiert nach Juris).

Aber auch im Übrigen liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf des Bescheides vom 24.11.2000 nicht vor.

Bei Personen, die der Mitgliedschaft oder Unterstützung der PKK in der Türkei verdächtigt werden, kann nach der derzeitigen Erkenntnislage allerdings eine politische Verfolgung weiterhin nicht sicher ausgeschlossen werden. Zwar stellt das Antifolterkomitee des Europarats in der Türkei eine positive Entwicklung fest. Obwohl in türkischen Gefängnissen und auf Polizeiwachen nur noch "ausnahmsweise" gefoltert werde, sei das Gesamtbild "nicht vollkommen beruhigend" (Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 07.09.2006). Auch das Auswärtige Amt stellt in seinem jüngsten Lagebericht vom 25.10.2007 fest, dass in den letzten Jahren in der Türkei markante Fortschritte bei der Menschenrechtslage erzielt wurden, die insbesondere die Rechte Inhaftierter gestärkt haben und der Eindämmung von Folter und Misshandlung dienten. Übereinstimmend werde von Beobachtern der sich durch große Teile der Gesellschaft ziehende "Mentalitätswandel" gewürdigt. Dieser habe aber noch nicht alle Teile der Polizei, Verwaltung und Justiz vollständig erfasst (S. 28). Es ist der Regierung bislang noch nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden.

Es muss ferner festgehalten werden, dass es in der Türkei weiterhin zur strafrechtlichen Verfolgung missliebiger politischer Meinungsäußerungen, insbesondere aus dem kurdischen Spektrum, kommt.

Dies muss auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass es seit Mai 2005 wieder zu vermehrten gewaltsamen Zusammenstößen zwischen dem türkischen Militär und PKK-Terroristen gekommen ist.

Auch eine strafrechtliche Verfolgung exilpolitischer Aktivitäten kann in der Türkei nicht ausgeschlossen werden. Allerdings laufen nach Darstellung des Auswärtigen Amtes nur türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischem Gesetzen strafbar gemacht haben, Gefahr, dass sich die türkischen Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Es ist dabei davon auszugehen, dass sich eine mögliche strafrechtliche Verfolgung durch den türkischen Staat insbesondere auf Personen bezieht, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden (Lagebericht des Auswärtigen Amtes a.a.O., S. 25 f.).

Aus alledem zusammengenommen ergibt sich deshalb, dass die Gefahr einer politischen Verfolgung wegen Meinungsäußerungen zu in der Türkei als "brisant" erachteten Fragen wie beispielsweise die Stellung und Behandlung der türkischen Staatsbürger kurdischer Volkszugehörigkeit nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden kann, so dass allein die politische Entwicklung in der Türkei in den zurückliegenden Jahren noch keinen Widerrufsgrund für die Asylanerkennung bzw. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eines türkischen Asylbewerbers kurdischer Volkszugehörigkeit darstellt (im Ergebnis ebenso VG Münster, Urteil vom 12.01.2006 - 3 K 5265/03.A, zitiert nach juris; VG Berlin, Urteil vom 13.10.2006 - 36 X 67.06; VG Düsseldorf, Urteil vom 24.01.2007 - 20 K 4697/05.A, zitiert nach juris; VG Ansbach, Urteil vom 24.07.2007 - AN 1 K 07.30135, zitiert nach juris). Nach der Rechtsprechung des Niedersächsischen OVG können kurdische Volkszugehörige, die einer Zusammenarbeit mit der PKK oder sonstiger herausgehobener separatistischer bzw. terroristischer Aktivitäten konkret verdächtigt werden, trotz des Reformprozesses in der Türkei nach wie vor einer individuellen politischen Verfolgung ausgesetzt sein (Urteil vom 18.07.2006 - 11 LB 264/05). Die Beklagte hat ihren Widerrufsbescheid aber allein mit der Veränderung der allgemeinen Situation in der Türkei begründet.