VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 13.02.2008 - 8 G 1906/07 (2) - asyl.net: M12890
https://www.asyl.net/rsdb/M12890
Leitsatz:

Berührt eine Ausweisung nach Artikel 2, 6 GG oder 8 EMRK geschützte Belange des betroffenen Ausländers, ist auch in den Fällen des § 53 AufenthG zu prüfen, ob die Ausweisung einen noch angemessenen Eingriff in die geschützten Rechtspositionen darstellt.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, zwingende Ausweisung, Schutz von Ehe und Familie, Privatleben, volljährige Kinder, familiäre Lebensgemeinschaft, Abwägung, Sachaufklärungspflicht, Ausländerbehörde, Ermessen, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Sofortvollzug, Rechtsweggarantie, Suspensiveffekt
Normen: AufenthG § 53 Nr. 1; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8; VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 80 Abs. 2; GG Art. 19 Abs. 4
Auszüge:

Berührt eine Ausweisung nach Artikel 2, 6 GG oder 8 EMRK geschützte Belange des betroffenen Ausländers, ist auch in den Fällen des § 53 AufenthG zu prüfen, ob die Ausweisung einen noch angemessenen Eingriff in die geschützten Rechtspositionen darstellt.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Den am 26.11.2007 (Eingang bei Gericht) gestellten Antrag auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gleichzeitig erhobenen Klage des Antragstellers gegen die ausländerrechtliche Verfügung des Oberbürgermeisters der Stadt Darmstadt vom 22.10.2007 (Az.: 8 E 1907/07) legt das Gericht im wohlverstandenen Interesse des Antragstellers dahin aus, dass er sich mit seiner Klage nicht nur gegen seine Ausweisung und die Androhung seiner Abschiebung wendet, sondern auch die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bzw. eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zur erneuten Entscheidung über den hierauf gerichteten Antrag verfolgt.

Er ist auch begründet.

I. Die Ausweisung des Antragstellers findet ihre Rechtsgrundlage nicht in den allein in Betracht kommenden §§ 53 ff AufenthG.

Gleichwohl erweist sich die Ausweisung des Antragstellers mit Verfügung der Antragsgegnerin vom 22.10.2007 nicht schon aufgrund des Vorliegens eines Ausweisungstatbestandes des § 53 AufenthG als rechtmäßig. Dies begründet sich darauf, dass es die Antragsgegnerin versäumt hat, hinreichend zu prüfen, ob eine Ausweisung des Antragstellers unangemessen in seine durch Art. 2 und 6 GG sowie Art. 8 EMRK geschützten Rechtspositionen, nämlich sein Recht auf Schutz der Familie und sein Recht auf Achtung seines Privatlebens, eingreift.

Dieser Auffassung liegt zugrunde, dass nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wie sie das erkennende Gericht versteht und sich ihr angeschlossen hat, einer Ausweisungsentscheidung grundsätzlich die Frage voranzustellen ist, ob von der Ausweisung nach Art. 2 und 6 GG oder Art. 8 EMRK geschützte Belange berührt werden. Dies begründet sich darauf, dass in diesen Fällen grundsätzlich eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles geboten ist, um dem durch höherrangiges Recht garantierten Schutz hinlänglich Rechnung zu tragen. Das standardisierte Prüfschema von Ist- und Regelausweisung einschließlich der Abstufung nach § 56 AufenthG wird den sich aus höherrangigem Recht ergebenden Anforderungen nämlich nicht gerecht, weil eine angemessene Gewichtung der widerstreitenden Interessen nicht gewährleistet ist. Dies zeigt sich am vorliegenden Fall besonderes plastisch, in dem zwar kein besonderer Ausweisungsschutz besteht, jedoch gleichwohl durch Art. 2 und 6 GG sowie Art. 8 EMRK geschützte Belange nicht unerheblich tangiert sind.

Dieses Rechtsverständnis hat zur Überzeugung des erkennenden Gerichts allerdings nicht zur weiteren Konsequenz, dass trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 53 AufenthG selbst dann eine Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG zu treffen ist, wenn kein Fall des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 56 AufenthG gegeben ist, auch wenn dessen ungeachtet durch die Ausweisung des Ausländers verfassungsrechtlich oder durch supranationales Recht gewährleistete Rechtspositionen tangiert werden. Es führt aber auch in diesen Fällen dazu, dass zu prüfen ist, ob eine "Ist-Ausweisung" unzulässig in den Schutzbereich höherrangigen Rechts eingreift, mithin unangemessen ist. Dies bedingt wiederum, dass auch hier eine umfassende Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles vorgenommen wird.

Dies hat auch vorliegend zu gelten. Dies begründet sich darauf, dass der 25 Jahre alte Antragsteller im Bundesgebiet geboren wurde, anschließend 8 Jahre hier gelebt hat und sich seit seiner erneuten Einreise am 08.09.1996 seit inzwischen wiederum mehr als 11 Jahren im Bundesgebiet aufhält. Nach der im Eilverfahren nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sachlage hat der Antragsteller insbesondere in seiner Familie und seiner früheren Freundin enge soziale Anbindungen im Bundesgebiet. Eine weitere Anbindung hat er in dem ihm von seinem früheren Ausbildungsbetrieb für die Zeit nach seiner Haftentlassung angebotenen Ausbildungsplatz.

Vor diesem Hintergrund sind nach Art. 2 und 6 GG sowie Art. 8 EMRK geschützte Belange des Antragstellers in einem Ausmaß berührt, das eine umfassende Einzelfallwürdigung gebietet. Von der Antragsgegnerin waren mithin neben dem Vorliegen eines Ausweisungstatbestandes auch die übrigen für, aber auch die gegen eine Ausweisung streitenden Gründe zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen.

Damit wäre von der Antragsgegnerin zu prüfen gewesen, inwieweit eine Ausweisung des Antragstellers in dessen durch höherrangiges Recht geschützte Rechtspositionen eingreift und ob ein solcher Eingriff angemessen ist. Für die Prüfung der Angemessenheit einer Ausweisung ist auf die begangenen Straftaten und die sonstigen Lebensumstände des Ausländers abzustellen. Entsprechend der Regelung in § 55 Abs. 3 AufenthG gehören zu letzterem insbesondere die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Antragstellers im Bundesgebiet, die Folgen der Ausweisung für seine Eltern, in deren Haushalt der Antragsteller außerhalb der Haft lebt, sowie die in § 60a Abs. 2 AufenthG genannten Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung. Greift eine Ausweisung in durch höherrangiges Recht geschützte Rechtspositionen ein, ist sie nur angemessen, wenn sie aufgrund überwiegender öffentlichen Interessen an einer Beendigung des Aufenthaltes des straffällig gewordenen Ausländers gerechtfertigt ist, sei es aus generalpräventiven, sei es aus spezialpräventiven Gründen. Diese Feststellung bedarf wiederum einer Aufklärung der subjektiven und objektiven Umstände der Straftat und der persönlichen Entwicklung des straffällig gewordenen Ausländers seit der Tatbegehung. Bei der Abwägung der für und gegen eine Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers sprechenden Umstände darf, soweit durch höherrangiges Recht geschützte Belange betroffen sind, der Straftat nicht per se das größere Gewicht beigemessen werden. Vielmehr müssen die betroffenen Belange ergebnisoffen in Verhältnis zueinander gesetzt und angemessen gegeneinander abgewogen werden. Da es sich bei der Angemessenheitsprüfung um eine reine Rechts- und keine Ermessensentscheidung handelt, unterliegt sie nicht nur der umfänglichen gerichtlichen Kontrolle, sondern hat das Gericht erforderlichenfalls die behördliche Entscheidung beziehungsweise deren Begründung zu ersetzen und im Hauptsacheverfahren eine noch fehlende Sachverhaltsaufklärung nachzuholen.

Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Kammerbeschluss vom 25.10.1995 - 2 BvR 901/95 (NVwZ 1996, 1099, hier zitiert nach juris) ausgeführt hat, ergeben sich aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen zugunsten eines volljährigen "Kindes" aus Art. 6 GG, wenn ein Familiemitglied auf seine Lebenshilfe angewiesen ist und sich diese Lebenshilfe nur im Bundesgebiet erbringen lässt. Unter diesen Voraussetzungen, so das Bundesverfassungsgericht, erfüllt die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft, ohne dass darauf abgestellt werden darf, ob die Hilfe von einem anderen erbracht werden kann.

Für die Beurteilung dessen, welches Gewicht die von einem Ausländer begangenen Straftaten dem öffentlichen Interesse an seiner Ausweisung gegenüber seinem Recht auf Schutz von Ehe und Familie geben, kann grundsätzlich nicht allein auf den Typus der Straftat als solche oder die Höhe des Strafmaßes abgestellt werden. Wie das Bundesverfassungsgericht zur Prüfung der Angemessenheit einer Ausweisung in seinem Kammerbeschluss vom 10.08.2007 - 2 BvR 535/06 (NVwZ 2007, 1300, hier zitiert nach juris) im Fall einer generalpräventiv begründeten Ausweisung ausgeführt hat, muss vielmehr auf die Tatumstände und Täterpersönlichkeit abgestellt werden.

Wie sich aus den vorstehend wiedergegebenen Ausführungen ergibt, besteht wegen des Ermittlungsbedarfes jedenfalls dann grundsätzlich die Notwendigkeit einer Beiziehung der Strafakten und der Strafvollzugsakten, wenn den zur Ausländerakte gelangten Unterlagen (wie die ergangenen Strafurteile) die subjektiven und objektiven Tatumstände und eine Beschreibung der Täterpersönlichkeit nicht hinlänglich entnommen werden können.

Ferner hat die Antragsgegnerin aber auch die für eine rechtmäßige Güterabwägung unabdingbare umfassende Aufklärung der maßgeblichen persönlichen Verhältnisse des Antragstellers versäumt.

Die gleichen Maßstäbe, die für die Beurteilung der Angemessenheit eines Eingriffs in den Schutz der Familie gelten, sind auch hinsichtlich eines Eingriffs in das Recht des Antragstellers auf Achtung seines Privatlebens aus Art. 8 EMRK anzulegen.

Für eine spezialpräventiv begründete Ausweisung haben gemessen am Maßstab des Art. 8 EMRK zur Überzeugung des Gerichts die gleichen Kriterien zu gelten, wie bei der Ausweisung eines Unionsbürgers.

Gebietet demzufolge auch das Regime des Art. 8 EMRK eine umfassende Einzelfallwürdigung, gelten hier die gleichen Prüfungsmaßstäbe, wie vorstehend dargelegt. Dies ergibt sich auch zwanglos aus der bereits zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts.

Vorliegend kann daher hinsichtlich der Anforderungen an die Ermittlung von Tatumständen und Täterpersönlichkeit zur Vermeidung von Wiederholungen auf die bereits gemachten Ausführungen Bezug genommen werden. Soweit zudem auch eine Ermittlung der privaten, nach Art. 8 EMRK über die Gewährleistung der Achtung des Privatlebens geschützten, Belange des Antragstellers geboten waren, ist die Ausweisungsentscheidung der Antragsgegnerin auch insoweit bereits wegen fehlender Aufklärung derselben rechtsfehlerhaft. Die Antragsgegnerin hat sich zwar mit dem Familienleben des Antragstellers auseinandergesetzt, nicht hingegen mit seinen weiteren schützenswerten Bindungen im Bundesgebiet.

Die Anordnung des Sofortvollzugs würde sich aber auch ungeachtet der vorstehenden Ausführungen als rechtswidrig erweisen. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin wird ihre hierauf gerichtete Entscheidung nämlich auch ungeachtet einer Rechtswidrigkeit der Ausweisung nicht der in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Garantie eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes gerecht. Zu den sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Anordnung des Sofortvollzugs hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Kammerbeschluss vom 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 (in NVwZ 2007, 946 hier zitiert nach juris) ausgeführt: ...

Wie das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung weiterhin ausgeführt hat, ist für die Feststellung eines besonderen Interesses am Sofortvollzug maßgeblich darauf abzustellen, ob die begründete Besorgnis besteht, dass sich die vom betroffenen Ausländer ausgehende und mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr bereits vor dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren wird. Der Feststellung dieses besonderen öffentlichen Interesses kommt dabei im besonderen Maße dann erhebliches Gewicht zu, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache einer vertieften Befassung mit der Sache bedarf, also im Eilverfahren keine zuverlässige Prognoseentscheidung getroffen werden kann.