VGH Bayern

Merkliste
Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 05.03.2008 - 5 B 05.1449 - asyl.net: M12891
https://www.asyl.net/rsdb/M12891
Leitsatz:

Tatsächliche Anhaltspunkte rechtfertigen die Annahme, dass die islamistische Organisation Tablighi Jamaat Bestrebungen verfolgt, die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet sind.

 

Schlagwörter: D (A), Einbürgerung, Anspruchseinbürgerung, verfassungsfeindliche Bestrebungen, Islamisten, Tablighi Jamaat, TJ, Unterstützung
Normen: StAG § 11 S. 1 Nr. 1; BVerfSchG § 4 Abs. 1 Bst. c
Auszüge:

Tatsächliche Anhaltspunkte rechtfertigen die Annahme, dass die islamistische Organisation Tablighi Jamaat Bestrebungen verfolgt, die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet sind.

(Amtlicher Leitsatz)

 

1. Der Kläger hat trotz seines langjährigen rechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland keinen Anspruch auf Einbürgerung.

Nach § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - die Bestimmung entspricht im wesentlichen wortgleich dem mit dem Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999 (BGBl I S. 1618) am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen § 86 Nr. 2 AuslG, der zum 1. Januar 2005 in § 11 Satz 1 Nr. 2 StAG übernommen worden war - ist die Einbürgerung ausgeschlossen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (vgl. § 4 Abs. 2 BVerfSchG), den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben oder die durch die Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, es sei denn, der Ausländer macht glaubhaft, dass er sich von der früheren Verfolgung oder Unterstützung derartiger Bestrebungen abgewandt hat.

Nach dem Willen des Gesetzgebers (BT-Drucks. 14/533 S. 18 f.) schließt die Vorschrift "den Einbürgerungsanspruch aus, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für eine Sicherheitsgefährdung durch den Einbürgerungsbewerber vorliegen. Dabei geht es in der ersten Alternative um verfassungsfeindliche Bestrebungen (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG), in der zweiten Alternative um den Ausländerextremismus (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 3 BVerfSchG). Dadurch soll die Einbürgerung etwa von PKK-Aktivisten (dazu BayVGH, U.v. 27.5.2003 – 5 B 01.1805, Juris) oder radikalen Islamisten (vgl. VGH BW, U.v. 16.5.2001 – 13 S 916/00, NVwZ 2001, 1434) auch dann verhindert werden, wenn entsprechende Bestrebungen nicht sicher nachgewiesen werden können.

a) Tatsächliche Anhaltspunkte rechtfertigen die Annahme, dass die islamistische Organisation Tablighi Jamaat (TJ) Bestrebungen verfolgt, die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet sind.

Nach der Legaldefinition des § 4 Abs. 1 lit. c BVerfSchG sind Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der darauf gerichtet ist, einen der in § 4 Abs. 2 BVerfSchG genannten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Die dort genannten Verfassungsgrundsätze sind:

- das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen,

- die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht,

- das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition,

- die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung,

- die Unabhängigkeit der Gerichte,

- der Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und

- die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte.

Bestrebungen, die auf die Errichtung eines "islamischen Staates" gerichtet sind, lassen sich mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung nicht vereinbaren. Im "islamischen Staat", dessen einendes Kriterium allein die islamische Religion, nicht aber die Nationalität seiner Bewohner ist, müssen nach der Vorstellung heutiger islamischer Fundamentalisten Verfassung und Gesetze auf den Vorschriften des Korans basieren und sich alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens (Verwaltung, Rechtsprechung, Sozialwesen, Erziehung und Wirtschaft) am Geist des Islam ausrichten. Grundlage für diese islamische Staatstheorie ist die Einheit von Religion und Staat, Politik und Glaubensgemeinschaft, wie sie unter Mohammed und den Kalifen bestanden hat. In dieser Staatstheorie stand zunächst die Frage nach dem legitimen Staats- und Gemeindeoberhaupt (Imam) im Vordergrund, später wurde für die Islamizität des Staates die Durchführung des islamischen Rechts für entscheidend gehalten. Nach westlichem Verständnis ist das Konzept der unmittelbaren Geltung der auf Gott als Gesetzgeber zurückgehenden Scharia im Staat mit den Prinzipien der Volkssouveränität und der aus ihr abgeleiteten Gesetzgebungsgewalt des Parlaments jedoch unvereinbar – es sei denn, man beschränkte diese Prinzipien wiederum wesensfremd auf die Regelung jener Fragen, die durch die Scharia nicht geregelt sind. Verfechter dieses "islamischen Staats" lehnen das Mehrparteiensystem meist als der Einheit der Gläubigen zuwiderlaufend und angesichts des für Politik und Recht eindeutig vorgegebenen Gotteswillens als überflüssig ab. Sie halten nach dem islamischen Recht an der Sonderstellung für Angehörige nichtislamischer Schriftreligionen fest, die zwar gegen Zahlung einer Sondersteuer die Beibehaltung ihres Glaubens, aber keine gleichberechtigte Teilhabe am staatlichen Leben gestattet. Insofern bringen Bestrebungen, einen "islamischen Staat" zu errichten, besonders Angehörige religiöser Minderheiten in die Gefahr des Verlustes ihrer vollen Bürgerrechte (vgl. Brockhaus, Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. Auflage 2006, Band 13, Stichwort "Islamischer Staat").

Nach dem Verfassungsschutzbericht 2006 des Bayerischen Staatsministeriums des Innern ist die TJ eine 1927 gegründete pietistische Missionierungsbewegung. Seit ihren Ursprüngen ist sie eng mit der Islamischen Hochschule von Deoband/Indien verbunden. Die Gemeinschaft vertritt eine streng orthodoxe Form des Islam indischer Prägung. Ziel der TJ ist die Islamisierung der Gesellschaft, um dadurch die Etablierung eines islamischen Staates zu erreichen. Sie hat den Charakter einer internationalen islamischen Massenbewegung, deren Anhänger sich nicht einer festen Gruppierung zugehörig fühlen, sondern sich als konsequente Muslime mit missionarischem Auftrag ansehen. Ihre Anhänger vertreten eine wörtliche Auslegung des Korans und der Sunna, die Ausgrenzung der Frau und eine Abgrenzungspolitik gegenüber Nicht-Muslimen. Das Tragen von traditioneller Gebetskleidung und die bis in Details verbindlichen Verhaltensregeln im Alltag sollen die absolute Hinwendung zum Propheten Mohammed ausdrücken. Charakteristisch für die Anhänger der TJ ist eine missionarische Reisetätigkeit, bei der sie Moscheen in ganz Europa aufsuchen. Die Missionierung dient der Rekrutierung neuer Mitglieder. Zur Ausbildung der Anhänger gehört eine vier Monate dauernde Schulung, die vornehmlich in Koranschulen in Pakistan absolviert wird. Die wenigsten Missionare verfügen über eine theologische Ausbildung. Zur Missionierung nutzen ihre Anhänger auch Moscheen, die keinen unmittelbaren Bezug zu TJ haben. Dazu dienen Veranstaltungen, bei denen die Anhänger über Tage oder Wochen hinweg beten, den Koran studieren und indoktriniert werden. Auch für Kinder und Jugendliche werden Koranschulungen durchgeführt. Direkte Aufrufe zum "Djihad" werden dabei vermieden, jedoch wird der ideologische Nährboden für den gewaltbereiten Extremismus bereitet. Durch die gemeinsame ideologische Basis mit militanten Gruppierungen besteht die Gefahr, dass die weltweiten Strukturen der Bewegung von terroristischen Netzwerken genutzt werden. Von Einzelpersonen, die die Schulung der TJ durchlaufen haben, ist bekannt, dass sie sich terroristischen Gruppierungen angeschlossen haben. Die Organisation betreibt in Bayern zwei Moscheen in München und Pappenheim. In mehreren Moscheen konnte die TJ an Einfluss gewinnen.

Bei einer Gesamtschau dieser Erkenntnisse aus den Verfassungsschutzberichten, den Schriften der TJ, aus Redebeiträgen ihrer führenden Funktionäre sowie den Angaben von Mitgliedern in Sicherheitsgesprächen rechtfertigen tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme, dass die TJ Bestrebungen verfolgt, die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet sind. Es besteht - wie der Verwaltungsgerichtshof bereits in - anderen - Prozesskostenhilfeverfahren ausgesprochen hat (BayVGH, Beschlüsse vom 17. und 18.7.2006 – 19 C 06.1494 und 1496) - kein Zweifel, dass die TJ eine islamistische Organisation ist, die die Islamisierung der Gesellschaft betreibt, um damit die Etablierung eines islamischen Staates zu erreichen, was generell das Ziel des Islamismus ist (vgl. Rohe, Islamismus und Schari’a, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Schriftenreihe Band 14, S. 120 ff.). Aufgrund der nachhaltigen Missionierungstätigkeit weisen die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichteten Bestrebungen der TJ auch eine über bloße Meinungen hinausgehende Zielstrebigkeit auf (dazu: Berlit, a.a.O., RdNr. 115 zu § 11 StAG). Gewaltbereitschaft ist dabei kein notwendiges Element verfassungsfeindlicher Bestrebungen i.S. des § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG (BVerwG vom 11.11.2004 BVerwGE 122, 182 <189>, juris RdNr. 37). Deshalb kann in diesem Zusammenhang auch offenbleiben, ob an der Einschätzung der Gewaltlosigkeit der TJ im Verfassungsschutzbericht des Bundes festzuhalten ist oder ob die TJ auch direkter bei terroristischen Gruppen involviert ist (vgl. dazu VG Bayreuth, B.v. 24.11.2005 – B 1 S 05.763 – juris RdNr. 38; Zusammenstellung der Personen, die terroristische Anschläge in verschiedenen Ländern begangen haben, aus Reihen der TJ rekrutiert wurden bzw. mit ihr in Verbindung standen, bei VG Ansbach, U.v. 15.1.2008 – AN 19 K 05.02681). Denn nachdem allgemein zugängliche Quellen früher über die Rekrutierung von Attentätern in bestimmten großen Moscheen des Westens, vor allem dort, wo diese in der Hand der radikalen fundamentalistischen TJ sind (taz 11.1.2002), oder darüber dass in vielen Terrorismusverfahren Spuren zur TJ führten (Spiegel 2/2005), berichteten (vgl. dazu auch VG Bayreuth, a.a.O., juris RdNr. 30 ff. m.w.N.), wird sie inzwischen als Mutterorganisation aller pakistanischen Dschihad-Gruppen bezeichnet (B. Schirra, "Ich war Osama’s Pilot", Cicero 7/2007), deren enge Verflechtungen zur Harakat-ul-Mujahideen, der früheren Harakat-ul-Islam, sowie zur Markaz Dawa und deren militärischen Arm, der Lashkar-e-Toiba wohl dokumentiert seien.

b) Es liegen zudem tatsächliche Anhaltspunkte vor, die die Annahme rechtfertigen, dass der Kläger die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichteten Bestrebungen der TJ jedenfalls unterstützt.

Ein Einbürgerungsbewerber "verfolgt" sicherheitsrelevante Bestrebungen, wenn er diese durch eigene Handlungen aktiv in Kenntnis der Tatsachen vorantreibt. Solche Handlungen liegen etwa in der aktiven und betätigten Mitgliedschaft in einer Organisation, die Bestrebungen i.S.d. § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG verfolgt, namentlich an herausgehobener Stelle (Führungsposition), die eigene Durchführung von Handlungen, welche die in der gesetzlichen Vorschrift genannten Ziele verfolgen, oder die maßgebliche, mitentscheidende oder -gestaltende Planung, Organisation oder Anleitung solcher Aktivitäten durch Dritte. Erforderlich, aber auch hinreichend ist, dass die eigenen Handlungen objektiv geeignet sind, die verfassungsfeindlichen Bestrebungen voranzutreiben. Nicht erforderlich ist eine kämpferisch aktive Haltung i.S.d. Art. 18 GG (Berlit, a.a.O., RdNrn. 94.1 und 95 zu § 11 StAG).

Als "Unterstützung" ist (bereits) jede eigene Handlung anzusehen, die für Bestrebungen i.S.d. § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG objektiv vorteilhaft ist; dazu zählen etwa die öffentliche oder nichtöffentliche Befürwortung von Bestrebungen i.S.v. § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG, die Gewährung finanzieller Unterstützung oder die Teilnahme an Aktivitäten zur Verfolgung oder Durchsetzung der inkriminierten Ziele (BayVGH, U. v. 27.5.2003 – 5 B 01.1805, juris; B.v. 13.10.2005 – 5 ZB 04.1781, juris; Berlit, a.a.O., RdNr. 96 zu § 11 StAG). Dass der Einbürgerungsbewerber sicherheitsrelevante Bestrebungen in diesem Sinne unterstützt, muss nicht mit dem üblichen Grad der Gewissheit festgestellt werden. Erforderlich, aber auch ausreichend ist vielmehr ein tatsachengestützter hinreichender Tatverdacht ("… wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass …"). Damit soll nach dem Willen des Gesetzgebers angesichts der Nachweisprobleme gegenüber vielfach verkappt agierenden Aktivisten unter Senkung der Nachweisschwelle die Einbürgerung von PKK-Aktivisten oder radikalen Islamisten auch dann verhindert werden, wenn entsprechende Bestrebungen nicht sicher nachgewiesen werden können (BT-Drs. 14/533 S. 18 f.). Dazu bedarf es einer wertenden Betrachtungsweise, bei der auch die Ausländern zustehenden Grundrechte (Art. 4, 5 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 3 GG) zu berücksichtigen sind; andererseits können grundsätzlich auch legale Betätigungen herangezogen werden (VGH BW U. v. 11.7.2002 - Az. 13 S 1111/01, juris; BayVGH, U. v. 27.5.2003 – 5 B 01.1805, juris). Mit § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG wird der Sicherheitsschutz im Einbürgerungsrecht mithin vorverlagert in Handlungsbereiche, die strafrechtlich noch nicht beachtlich sind und für sich betrachtet auch noch keine unmittelbare Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellen (BayVGH, U. v. 27.5.2003 – 5 B 01.1805, juris; B. v. 13.7.2005 – 5 ZB 05.901, juris).