VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 26.02.2008 - 2 K 447/07 - asyl.net: M12900
https://www.asyl.net/rsdb/M12900
Leitsatz:
Schlagwörter: Bosnien-Herzegowina, Aufenthaltserlaubnis, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung, Situation bei Rückkehr, Suizidgefahr, Retraumatisierung
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Dem Kläger steht gegenüber dem Beklagten ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG zu.

Danach muss von der Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt werden, sofern im Einzelfall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt und daneben keine atypische Ausnahmesituation gegeben ist. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

Bereits aus dem von dem Kläger im Verwaltungsverfahren vorgelegten psychologischen Attest der Dipl.-Psych. B. Sch. von der Therapie Interkulturell e. V. vom 06.11.2006 sowie der behördlicherseits eingeholten Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Landkreises A-Stadt vom 16.11.2006 geht hervor, dass der Kläger aufgrund seiner Erlebnisse im Bürgerkrieg an einer ausgeprägten posttraumatischen Belastungsstörung (F 43.1 nach ICD-10) leidet, die einer sofortigen psychotherapeutischen Behandlung bedarf. Dass bei dem Kläger aufgrund traumatisierender Erlebnisse in der Kindheit eine behandlungsbedürftige posttraumatische Belastungsstörung besteht, ergibt sich auch aus den ärztlichen Bescheinigungen des behandelnden Facharztes für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie Dr. med. Dipl.-Psych. S. B. vom 24.01.2007 sowie 15.02.2008 und findet im Weiteren seine Bestätigung durch das von der Kammer eingeholte psychotherapeutisch-psychosomatische Fachgutachten des Leitenden Oberarztes am Institut für Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin des Universitätsklinikums des Saarlandes Dr. med. H. G. vom 05.11.2007. Letzterem ist zu entnehmen, dass bei dem Kläger neben einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10 F 43.1) auch ein Versagen genitaler Reaktionen (ICD-10 F 52.2) sowie eine gemischte Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F 61) im Sinne einer Persönlichkeit mit abhängigen und ängstlich vermeidenden Zügen zu diagnostizieren ist, wobei sich bei der bereits bestehenden Chronifizierung und der wechselseitigen Ergänzung der Persönlichkeitskomponente und der posttraumatischen Symptomatik eine komplexe psychische Störung entwickelt hat, die in ihren konkreten Auswirkungen einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung entspricht. Wie aus dem Gutachten weiter hervorgeht, würde eine erzwungene Rückkehr nach Bosnien ohne die von dem Gutachter Dr. med. H. G. als dringend erforderlich angesehene Psychotherapie den erneuten Verlust einer relativen Sicherheit bedeuten und mit großer Wahrscheinlichkeit über ein Persistieren der bereits bestehenden Symptomatik, die von dem Gutachter als Intrusionen in Form von Albträumen und Erinnerungen, vegetative Übererregbarkeit und Vermeidungsverhalten sowie depressive Verstimmungen, Gereiztheit, soziales Rückzugsverhalten und Suizidgedanken beschrieben wird, hinaus zu einer wesentlichen Verschlimmerung der neurotischen Symptomatik und des regressiven Verhaltens, vor allem des sozialen Rückzugsverhaltens und der depressiven Verstimmungen führen. Die dann zu erwartende Verfestigung der neurotischen Anteile der Persönlichkeit hätte letztlich auch eine Abnahme der Therapierbarkeit zur Folge, wobei nach Einschätzung des Gutachters vor dem Hintergrund der wahrscheinlich zunehmenden sozialen Isolation und der damit verbundenen beruflichen Problematik, der fraglichen Entwicklung des weiteren familiären und ehelichen Zusammenlebens suizidale Handlungen des Klägers nicht auszuschließen wären, auch wenn gegenwärtig keine Suizidalität bestehe und anamnestisch eine solche nicht zu eruieren gewesen sei.

Angesichts dieser von Dr. med. H. G. getroffenen gutachterlichen Feststellungen, an deren Richtigkeit zu zweifeln die Kammer mit Blick auf die insoweit übereinstimmenden fachärztlichen Diagnosen und Einschätzungen keine Veranlassung hat, steht zu erwarten, dass sich die psychische Erkrankung des Klägers bei einer erzwungenen Rückkehr nach Bosnien und Herzegowina wegen der dortigen unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten alsbald mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wesentlich verschlimmern wird. Die im Fall des Klägers als dringend indiziert angesehene Psychotherapie ist in Bosnien und Herzegowina nämlich nach wie vor nicht in adäquater Weise möglich. Da die dort spärlich vorhandenen Therapieeinrichtungen schon von den derzeit in Bosnien lebenden traumatisierten Personen über die Kapazität hinaus in Anspruch genommen werden, werden die meisten Patienten lediglich medikamentös behandelt. Nach der Auskunftslage wird eine Psychotherapie in Bosnien und Herzegowina lediglich als eine Art kurzfristige Nachbehandlung nach Abklingen akuter psychotischer Symptome durchgeführt, hingegen nicht als in Fällen von Traumatisierung notwendige Dauertherapie, so dass bestenfalls vorübergehend eine Verschlechterung des Zustandes vermieden werden kann. Insgesamt ist eine Therapie von Traumatisierten in Bosnien und Herzegowina daher derzeit als kaum möglich anzusehen (vgl. zu vorstehendem Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Bosnien und Herzegowina vom 07.08.2006 und 29.08.2005 - 508-516.80/3 BIH - sowie Auskunft an BAMF vom 27.06.2007 - 508-516.80/45023 -; ferner Deutsche Botschaft in Sarajewo, Bericht an BAMF vom 11.07.2005 - RK-10-b-516.50 E - sowie an VG Düsseldorf vom 29.07.2005 - RK-PoL-10-516.50 E -).

Vor diesem Hintergrund letztlich unzureichender Behandlungsmöglichkeiten für psychisch Erkrankte in Bosnien und Herzegowina kann der Kläger auch nicht auf das Bestehen einer Verschlimmerung seiner psychischen Erkrankung entgegenwirkender rein medikamentöser Behandlungsmöglichkeiten verwiesen werden. Davon, dass bei einer rein medikamentösen Behandlung der psychischen Erkrankung des Klägers der von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorausgesetzte Gefährdungsgrad verhindert würde, ist die Kammer entgegen der Auffassung des Beklagten und des beteiligten Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nicht überzeugt. Die Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung ausschließlich mit Psychopharmaka ohne Psychotherapie stellt ausweislich der ergänzenden Stellungnahme des Gutachters Dr. med. H. G. vom 15.02.2008 nach heutigen Maßstäben eine inadäquate Therapie dar, was im Fall des Klägers in besonderem Maße gelte, da er bereits einige Jahre Therapie mit Psychopharmaka erfahren habe, ohne dass damit die Chronifizierung seiner Erkrankung habe verhindert werden können und er eine befriedigende symptomatische Besserung erfahren habe, die ihn sein Leben wesentlich erträglicher gemacht hätte.