OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 29.11.2007 - 11 LA 172/07 - asyl.net: M12909
https://www.asyl.net/rsdb/M12909
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Verfahrensrecht, Klagefrist, Anfechtungsklage, Zustellung, Verwaltungsakt, Prozessbevollmächtigte, Vollmacht, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Geschäftsfähigkeit, Drogenabhängigkeit, Beweislast
Normen: VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1; VwGO § 74 Abs. 1; VwZG § 1 Abs. 1; VwZG § 7 Abs. 1; VwVfG § 12; BGB § 104 Nr. 2
Auszüge:

Der Zulassungsantrag des Klägers ist nicht begründet.

1. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig abgewiesen.

Nach dem hier anwendbaren § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO muss die Anfechtungsklage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts erhoben werden. Ausweislich des vom Kläger unterzeichneten Empfangsbekenntnisses wurde ihm der Bescheid des Beklagten vom 7. Februar 2006 am 14. Februar 2006 in der JVA D. persönlich ausgehändigt. Seine Klage hätte deshalb vor Ablauf des 14. März 2006, einem Dienstag, beim Verwaltungsgericht eingehen müssen. Sie ging jedoch dort erst am 16. März 2006 und damit verspätet ein.

Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers wurde ihm der angefochtene Bescheid auch wirksam bekannt gegeben. Der Beklagte war nicht verpflichtet, den Bescheid an den ehemaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers zuzustellen oder diesem eine Abschrift des Bescheides zur Kenntnis zuzuleiten.

Gemäß § 1 Abs. 1 Nds. VwZG i. V. m. § 7 Abs. 1 Satz 1 VwZG in der ab dem 1. Februar 2006 geltenden Fassung können Zustellungen an den allgemeinen oder für bestimmte Angelegenheiten bestellten Bevollmächtigten gerichtet werden. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 VwZG sind sie an ihn zu richten, wenn er eine schriftliche Vollmacht vorgelegt hat. Eine derartige Vollmacht legte der ehemalige Prozessbevollmächtigte des Klägers jedoch weder der ursprünglich zuständigen Ausländerbehörde der Stadt Delmenhorst noch dem Beklagten vor. Allerdings zeigte er mit Schreiben vom 23. Februar 2005 gegenüber der Stadt Delmenhorst die rechtliche Vertretung des Klägers in dessen "Aufenthaltsangelegenheit" an und beantragte die Verlängerung der (am 09.02.2005 abgelaufenen) Aufenthaltserlaubnis; zugleich begehrte er Akteneinsicht. In diesem Zusammenhang versicherte er seine Bevollmächtigung anwaltlich und kündigte die umgehende Nachreichung einer Vollmacht an. Daraufhin teilte ihm die Stadt Delmenhorst mit Schreiben vom 2. März 2005 mit, er könne die betreffenden Ausländerakten beim Amtsgericht Bremen einsehen. Dies geschah dann am 9. März 2005. Der ehemalige Prozessbevollmächtigte des Klägers reichte aber in dem Verfahren auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis eine schriftliche Vollmacht nicht nach. Erst im Rahmen der Erhebung der Klage gegen die Ausweisungsverfügung vom 7. Februar 2006 legte er mit Schriftsatz vom 18. April 2006 eine vom Kläger am 20. März 2006 erteilte schriftliche Vollmacht vor. Hieraus ergibt sich, dass die Zustellung nicht zwingend an den ehemaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers zu richten war. Vielmehr war sie nach § 7 Abs. 1 Satz 1 VwZG in das Ermessen der seit dem 4. April 2005 (Verlegung des Klägers in die JVA D. zur Verbüßung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe) zuständigen Ausländerbehörde des Beklagten gestellt. Da es weder für den Vertretenen noch für den Vertreter eine unzumutbare Belastung darstellt, der Behörde eine Vollmacht vorzulegen, sofern der Vertretene eine Zustellung an sich selbst nicht will, setzt nach der gesetzlichen Regelung aus Gründen der Praktikabilität und Rechtssicherheit sogar eine ermessensfehlerhafte Zustellung an den Adressaten selbst die Rechtsmittelfrist in Lauf (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.10.1997 - 3 C 35.96 -, BVerwGE 105, 288 = NVwZ 1998, 1292; BFH, Urt. v. 30.02. 2004 - VII R 30/02 -, BFHE 204, 403 = NVwZ-RR 2005, 765; a. A. wohl: Sadler, VwVG-VwZG, 6. Aufl., § 7 VwZG Rdnr. 6). Denn die Behörde ist bei Nichtvorlage der Vollmacht lediglich berechtigt, aber nicht verpflichtet, den Bescheid an den Vertreter zu richten. Dass der Verwaltungsakt (auch) einem Bevollmächtigten bekanntgegeben werden kann (§ 7 Abs. 1 Satz 1 VwZG), stellt nur eine Erweiterung der der Behörde eröffneten Möglichkeit der Bekanntgabe dar (BVerwG, Urt. v. 30.10.1997, a.a.O.). Eine Ausnahme gilt jedoch dann, wenn der verfassungsrechtliche Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes (Gebot gleicher Entscheidungen bei gleichem Sachverhalt) willkürlich verletzt worden ist (vgl. BFH, Urt. v. 03.02.2004, a.a.O.; Engelhardt/App, VwVG-VwZG, 7. Aufl., § 7 VwZG Rdnr. 5). In einem solchen Fall würde eine Ermessensreduzierung auf "Null" vorliegen, die es der Behörde verbietet, an den Vertretenen zuzustellen. So darf die Behörde, die Zustellungen bislang ständig an den Bevollmächtigten gerichtet hat, den Zustellungsempfänger während des Verfahrens nicht willkürlich wechseln (vgl. BFH, Urt. v. 03.02.2004, a.a.O.; Engelhardt/App, a.a.O.). Ein solcher willkürlicher Wechsel des Zustellungsempfängers liegt hier jedoch nicht vor.

Ebenso wenig vermag der Senat dem Kläger darin zu folgen, dass an den Kläger auch deshalb nicht wirksam habe zugestellt werden können, weil er damals nicht geschäftsfähig im Sinne des § 104 BGB gewesen sei. Zum Zeitpunkt der Tatbegehung sei er drogenabhängig (Cannabis- und Alkoholmissbrauch) gewesen. Diese Drogenproblematik sei vor Erlass des Ausweisungsbescheides noch nicht vollständig abgearbeitet gewesen. Auch vor dem Hintergrund seiner eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten habe er sich deshalb damals in einem krankhaften Zustand seiner Geistestätigkeit befunden. Der Kläger hat diese Behauptung aber nicht glaubhaft gemacht.

Wer Rechte daraus herleitet, dass ein Verwaltungsakt dem Empfänger wegen Geschäfts- und Handlungsunfähigkeit (vgl. §§ 104 Nr. 2 BGB, 12 VwVfG) nicht wirksam bekannt gegeben worden sei, trägt hierfür die materielle Beweislast (BVerwG, Beschl. v. 11. 2. 1994 - 2 B 173.93 -, NJW 1994, 2633). Der Kläger hat sich auf eine mangelnde Handlungs- bzw. Geschäftsfähigkeit erst im Zulassungsverfahren berufen. Mit diesem Vortrag ist er zwar nicht von vornherein ausgeschlossen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 124 Rdnr. 7 b). An die Glaubhaftmachung sind jedoch um so höhere Anforderungen zu stellen, je weniger nachvollziehbar ein Unterlassen des Vorbringens in der ersten Instanz ist (vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl., § 124 Rdnr. 91). Der Kläger ist jegliche Erklärung dafür schuldig geblieben, weshalb er diesen Gesichtspunkt erst im Zulassungsverfahren geltend gemacht hat.