OLG Hamburg

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Zitieren als:
OLG Hamburg, Beschluss vom 06.06.2007 - 2 Wx 49/07 - asyl.net: M12911
https://www.asyl.net/rsdb/M12911
Leitsatz:

Das Aufenthaltsgesetz ist auf Unionsbürger unabhängig davon nicht anwendbar, ob sie von ihrer Freizügigkeit gem. § 2 FreizügG/EU Gebrauch machen; eine bis zum 31.12.2004 ergangene Ausweisung steht nicht der Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit gem § 6 FreizügG/EU gleich.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Zurückschiebungshaft, Unionsbürger, Freizügigkeitsgesetz/EU, Anwendbarkeit, Freizügigkeit, Verlust, Nichtbestehensfeststellung, Altfälle, Ausweisung, Übergangsregelung, Zuwanderungsgesetz
Normen: AufenthG § 62 Abs. 2; AufenthG § 57 Abs. 3; AufenthG § 1 Abs. 2 Nr. 1; FreizügG/EU § 1; FreizügG/EU § 7 Abs. 1; FreizügG/EU § 6; AufenthG § 102
Auszüge:

Das Aufenthaltsgesetz ist auf Unionsbürger unabhängig davon nicht anwendbar, ob sie von ihrer Freizügigkeit gem. § 2 FreizügG/EU Gebrauch machen; eine bis zum 31.12.2004 ergangene Ausweisung steht nicht der Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit gem § 6 FreizügG/EU gleich.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Landgericht auf Antrag des Betroffenen, dessen Haft sich durch die Abschiebung erledigt hatte, festgestellt, dass die Haftanordnung zur Sicherung der Zurückschiebung des Betroffenen gemäß Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 18. Januar 2007 rechtswidrig war.

Die Haftanordnung kann ihre Grundlage allein in § 62 Abs. 2 (hier i. V. m. § 57 Abs. 3) AufenthG finden. Dieser ist jedoch auf Grund der Regelungen des seit dem 1. Januar 2005 geltenden FreizügG/EU als Rechtsgrundlage nicht anwendbar.

1. Das Aufenthaltsgesetz findet gemäß seines § 1 Abs. 2 Nr. 1 keine Anwendung auf Ausländer, deren Rechtsstellung von dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern geregelt ist, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist.

Für dieses Rangverhältnis kommt es nicht darauf an, ob dem Betroffenen als portugiesischem Staatsangehörigen, der nach Aktenlage ersichtlich seit dem Jahre 2000 immer wieder zum Zwecke der Begehung von Straftaten, u.a. dem Handeln mit Betäubungsmitteln, eingereist ist, das Recht auf Freizügigkeit materiell im Ergebnis zusteht.

Das Freizügigkeitsgesetz/EU entscheidet zwar seinem Wortlaut nach in verschiedenen Vorschriften zwischen Unionsbürgern einerseits und freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern andererseits. Die Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts ergeben sich aus den Einzeltatbeständen des § 2 Abs. 2 Ziff. 1 bis 7 gegebenenfalls i. V. m. §§ 3 u. 4 FreizügG/EU. Gemäß dem eindeutigen Wortlaut des § 1 FreizügG/EU gilt das Gesetz aber für alle Unionsbürger, unabhängig davon, ob sie die Voraussetzungen nach §§ 2 bis 4 erfüllen oder nicht (vgl. HansOLG Hamburg, InfAuslR 2006, 118, Az.: 1 Ws 212/05 betreffend die Frage der Strafbarkeit einer Wiedereinreise eines vor dem Jahre 2005 ausgewiesenen Unionsbürgers; HessVGH NVwZ 2005, 837 = InfAuslR 2005, 130).

Das heißt: unabhängig davon, ob dem Betroffenen das Freizügigkeitsrecht im Ergebnis zusteht oder nicht, ist er ein "Ausländer", dessen "Rechtsstellung von dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern geregelt ist" im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, womit das Aufenthaltsgesetz grundsätzlich keine Anwendung findet.

2. Zu einer Anwendung des Aufenthaltsgesetzes kann es dann nur auf Grund einer speziellen anderweitigen gesetzlichen Regelung kommen.

a) Ausdrückliche Verweisungen auf einzelne Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes enthält § 11 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU. § 62 AufenthG ist dabei nicht genannt.

b) Insgesamt Anwendung findet das Aufenthaltsgesetz, wenn die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des Freizügigkeitsrechts gemäß § 2 Abs. 1 oder 5 FreizügG/EU festgestellt hat. Auch daran fehlt es vorliegend:

aa) Unionsbürger bedürfen gemäß § 2 Abs. 4 S. 1 FreizügG/EU unabhängig von den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Ziff. 1 bis 7 für die Einreise keines Visums und für den Aufenthalt keines Aufenthaltstitels. Es wird lediglich gemäß § 5 Abs. 1 FreizügG/EU eine Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht ausgestellt. Ausreisepflichtig sind Unionsbürger gemäß § 7 Abs. 1 FreizügG/EU (verbunden mit dem Verbot der Wiedereinreise gemäß § 7 Abs. 2) nur, wenn die Ausländerbehörde durch Verwaltungsakt unanfechtbar gemäß § 6 FreizügG/EU festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg InfAuslR 2006, 259).

Es ist mithin nicht Aufgabe der ordentlichen Gerichte, im Rahmen der Überprüfung einer Freiheitsentziehung zu klären, ob das Freizügigkeitsrecht entzogen werden könnte. Aus dem Regelungszusammenhang der §§ 2, 5, 6, 7, 11 Abs. 2 FreizügG/EU ergibt sich vielmehr, dass das Freizügigkeitsrecht des in § 1 des Gesetzes beschriebenen Personenkreises zunächst vermutet wird, bis der Feststellungsakt der Ausländerbehörde tatsächlich ergangen ist (Renner, a.a.O., § 11 FreizügG/EU, Vorläufige Anwendungshinweise Ziff. 11.2.1. a.E.). Es handelt sich um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 35 VwVfG, der mit Widerspruch und Klage angefochten werden kann (Renner, a.a.O., § 6 FreizügG/EU Rdn. 15). Im Streitfall hat die Ausländerbehörde einen solchen Verwaltungsakt bisher nicht erlassen.

bb) Der Senat schließt sich der überzeugenden Ansicht an, wonach – entgegen der von der Beteiligten vertretenen Meinung – einem solchen Verwaltungsakt nach § 6 FreizügG/EU nicht eine bis Ende 2004 nach altem Recht ergangene Ausweisungsverfügung gleichgestellt werden kann (HansOLG Hamburg, a.a.O., S. 119 Leitsatz 1, S. 120; OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O., S. 259, 260).

Dies beruht auf der zutreffenden Erwägung, dass der Gesetzgeber mit dem Freizügigkeitsgesetz/EU eine Gesamtrevision des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger in Deutschland durchführen wollte (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes BT-Drs. 15/420 S. 101; Renner, a. a.O., Vorbemerkung zum FreizügG/EU Rdn. 6). Die Ausübung des Freizügigkeitsrechts sollte erleichtert werden (vgl. Renner, a.a.O., § 1 FreizügG/EU, Vorläufige Anwendungshinweise Ziff. 1.1.). Dies zeigt sich insbesondere darin, dass die neuen Regelungen nicht mit den alten in § 45, § 46 AuslG, § 12 AufenthG/EWG deckungsgleich sind, sondern die Anforderungen an den Rechtsverlust gemäß § 6 FreizügG/EU erhöht sind (vgl. die obigen Zitate der Rechtsprechung sowie Renner, a.a.O., § 6 FreizügG/EU, Vorläufige Anwendungshinweise Ziff. 6.3. a.E.; auch Ziff. 6.1.1.: Die Ausweisung ist als Instrument gegenüber Unionsbürgern nicht anwendbar).

cc) Ein anderes Ergebnis kann auch nicht über § 102 AufenthG erzielt werden.

Aus der Tatsache, dass die vor dem 1. Januar 2005 erlassenen Ausweisungen wirksam bleiben, darf nicht gefolgert werden, dass die in einer Ausweisungsverfügung enthaltenen bloßen rechtlichen Erwägungen oder Begründungen als ein Verwaltungsakt gemäß § 6, § 11 Abs. 2 des neuen FreizügG/EU qualifiziert werden, dessen Wertungen mit der alten Gesetzeslage nicht übereinstimmen, von der Behörde also noch gar nicht berücksichtigt werden konnten.

Die gegen den Betroffenen ergangene Ausweisungsverfügung des Jahres 2004 enthält eben keinen feststellenden Verwaltungsakt, sondern lediglich eine Begründung dafür, dass auf Basis der damaligen Rechtslage (AufenthG/EWG und FreizügigkeitsVO/EG) keine Veranlassung bestand, von der Regelausweisung nach dem damaligen Ausländergesetz abzusehen.