VG Aachen

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VG Aachen, Beschluss vom 21.09.2006 - 8 L 204/06 - asyl.net: M12913
https://www.asyl.net/rsdb/M12913
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Ehegattennachzug, Visum nach Einreise, Eheschließung, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Visumsverfahren, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Antrag, Erlaubnisfiktion, Duldungsfiktion, Fortgeltungsfiktion, einstweilige Anordnung, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Schutz von Ehe und Familie, Rechtsweggarantie, Beurteilungszeitpunkt, Duldung, Befristung, Nebenbestimmung
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AufenthG § 81 Abs. 4; AufenthG § 81 Abs. 3; VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 60a Abs. 2; AufenthV § 39 Nr. 5; GG Art. 19 Abs. 4; AufenthG § 30; BGB § 188; VwVfG § 31 Abs. 1
Auszüge:

Der Hilfsantrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, bis zur – rechtskräftigen – Entscheidung über den Erlaubnisantrag der Antragstellerin vom 21. Dezember 2006 von Abschiebungsmaßnahmen abzusehen, hat jedoch Erfolg.

Die Abschiebung erweist sich als rechtlich unmöglich, weil die Antragstellerin aufgrund der am 21. Dezember 2006 erfolgten Eheschließung nach Maßgabe des § 39 Nr. 5 AufenthV berechtigt ist, die erforderliche Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug – nach der Einreise – im Bundesgebiet einzuholen. Die Verwirklichung dieser Rechtsposition wäre ohne Sicherung im Wege einer einstweilige Anordnung gefährdet.

Zwar scheidet die Erteilung einer Duldung bzw. die Gewährung von Abschiebungsschutz für die Dauer des Aufenthaltsgenehmigungsverfahrens grundsätzlich aus gesetzessystematischen Gründen aus, wenn – wie hier – ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels bis zu seiner Ablehnung ein vorläufiges Bleiberecht nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG nicht zur Folge gehabt hat und ein nach Antragsablehnung gestellter Aussetzungsantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO damit unzulässig ist. Die Erteilung einer Duldung widerspräche in diesem Fall der in den Vorschriften der §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 1 und 2, 81 Abs. 3 und 4 AufenthG zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Wertung, für die Dauer eines Genehmigungsverfahrens nur unter bestimmten Voraussetzungen ein Bleiberecht zu gewähren. Von diesem Grundsatz ist jedoch zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes – GG –) eine Ausnahme zu machen, wenn nur mit Hilfe einer einstweiligen Anordnung und einer Duldung bzw. der Gewährung von Abschiebungsschutz sichergestellt werden kann, dass eine ausländerrechtliche Regelung ihrem Sinn und Zweck nach auch dem begünstigten Personenkreis zugute kommt (vgl. zu § 32 AuslG (heute: § 23 AufenthG): OVG NRW, Beschluss vom 15. April 2004 - 18 B 471/04 - NWVBl. 2004, 391 und vom 20. April 1999 - 18 B 1338/97 -, InfAuslR 1999, 449).

Die Annahme einer solchen – weiteren – Ausnahme ist mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG aber auch in dem Fall geboten, dass – wie hier – die in § 39 Nr. 5 AufenthV vorgesehene Berechtigung zur Einholung eines Aufenthaltstitels zum Zwecke des Familiennachzuges im Bundesgebiet geltend gemacht wird. Andernfalls liefe diese Vorschrift, die gerade eine Ausnahme von dem in § 5 Abs. 2 AufenthG im Grundsatz normierten Erfordernis der ordnungsgemäßen Durchführung eines Visumverfahrens vorsieht, leer, wenn trotz Erfüllung ihrer Voraussetzungen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unter Hinweis auf die Nichteinhaltung des Visumverfahrens verweigert und auf die Einholung des Aufenthaltstitels vom Ausland aus verwiesen würde. Dass die in § 39 Nr. 5 AufenthV vorgesehene Fallkonstellation mangels eines vorherigen rechtmäßigen Aufenthaltes – mit oder ohne Aufenthaltstitel – nicht von § 81 AufenthG erfasst wird, steht dieser Wertung nicht entgegen. § 81 AufenthG erweist sich unter Berücksichtigung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG insoweit gerade nicht als abschließend.

Die Voraussetzungen des § 39 Nr. 5 AufenthV sind in der Person der Antragstellerin auch erfüllt.

Nach der im Eilverfahren möglichen und gebotenen summarischen Prüfung spricht ganz Überwiegendes dafür, dass die Antragstellerin aufgrund der Eheschließung mit ihrem (türkischen) Ehemann einen (Rechts-) Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 30 AufenthG (Ehegattennachzug) erworben hat. Anhaltspunkte dafür, dass es – abgesehen von der Nichteinhaltung der Visumserfordernisses nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG – sonst an einer allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 AufenthG fehlt, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Die Abschiebung der Antragstellerin war bei Beantragung der Aufenthaltserlaubnis am 21. Dezember 2006 auch gemäß § 39 Nr. 5 AufenthV ausgesetzt. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzung "Aussetzung der Abschiebung" ist – wie auch schon bei der Vorgängervorschrift des § 9 Abs. 2 Nr.1 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG) – der Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis. Entscheidend ist damit allein, ob die Abschiebung im Zeitpunkt der Antragstellung ausgesetzt war. Ein späteres Erlöschen der Duldung ist unerheblich (vgl. zu § 9 Abs. 2 DVAuslG: Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht (GK-AuslG),Band II, Stand: September 2004, Rdnr. 96 zu § 3 AuslG; so offenbar auch OVG NRW, Beschluss vom 15. März 2004 - 19 B 106/04 -, das den Tag der Antragstellung als maßgeblich hervorhebt; anderer Ansicht noch OVG NRW, Beschluss vom 26. November 2001 - 18 B 242/01 -; offengelassen vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 3. Juni 1997 - 1 C 1/97 -, BVerwGE 105, 28, NVwZ 1998, 187. Auf einem noch weiter gehenden Verständnis scheint der Erlass des Innenministeriums Nordrhein-Westfalen vom 21. Juli 2006 1539.10.012Eheschließung – zu beruhen, der unter bestimmten Umständen auch Fälle der faktischen Duldung erfasst).

Dies folgt daraus, dass der Gesetzgeber in § 39 Nr. 5 AufenthV sowohl die Rechtsfolge des Einholens des Aufenthaltstitels, also der Antragstellung im Inland, als auch die Voraussetzung der Aussetzung der Abschiebung im Präsens formuliert hat. Durch die Wahl derselben Zeitform wird damit die Voraussetzung der Aussetzung der Abschiebung an den Zeitpunkt der Antragstellung geknüpft ("... kann der Ausländer einen Aufenthaltstitel ... einholen ..., wenn seine Abschiebung . . . ausgesetzt ist und

er ... einen Anspruch ... erworben hat."). Entsprechend war bereits die Vorgängervorschrift des § 9 Abs. 2 DVAuslG gefasst ("... kann die Aufenthaltserlaubnis ... einholen, wenn er sich ... geduldet ... aufhält ...") (vgl. Funke-Kaiser in GK-AuslG, a.a.O., Rdnr. 96 zu § 3 AuslG).

Dass damit auf die Antragstellung als maßgeblichen Zeitpunkt für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzung abzustellen ist und nicht etwa auf den späteren Zeitpunkt einer Entscheidung – auch des Gerichts – über die Erteilung des Aufenthaltstitels, ergibt sich im Übrigen auch aus einem Vergleich mit den weiteren Ziffern der Vorschrift des § 39 AufenthV. Hier wird die Möglichkeit der Einholung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels im Bundesgebiet jeweils an den Besitz eines bestimmten Aufenthaltstitels (in § 39 Nr. 1 AufenthV: nationales Visum oder Aufenthaltserlaubnis, in § 39 Nr. 3 AufenthV: Schengen-Visum und in § 39 Nr. 6 AufenthV: Aufenthaltstitel eines Schengen-Mitgliedstaates) bzw. einer Aufenthaltsgestattung (§ 39 Nr. 5 AufenthV) oder an einen – rechtmäßigen – titelfreien Aufenthalt (§ 39 Nr. 2 und 3 AufenthV) geknüpft und dabei ebenfalls im Präsens formuliert ("besitzt" bzw. "aufhält"). Insoweit ist zu berücksichtigen, dass gerade der Besitz eines nationalen Visums im Sinne von § 6 Abs. 4 AufenthG oder eines Schengen-Visums im Sinne von § 6 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ebenso wie der – rechtmäßige – titelfreie Aufenthalt von Staatsangehörigen eines der in Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 aufgeführten Staaten – sog. Positivstaater – schon titelbedingt bzw. kraft Gesetzes lediglich auf einen kurzen Zeitraum beschränkt ist. Wollte man in diesen Fällen verlangen, dass der Titel auch – noch – im Zeitpunkt der – gerichtlichen – Entscheidung über den Erlaubnisantrag vorliegen muss, kämen diese Regelungen nahezu nie zum Tragen, weil zu diesem Zeitpunkt die Geltungsdauer der Visa bzw. die rechtmäßige titelfreie Aufenthaltsdauer regelmäßig abgelaufen sein wird. Wenn aber aus der Erwägung, dass das Eingreifen der Vorschrift nicht von der Bearbeitungsdauer des Erlaubnisantrags bzw. der Dauer eines Rechtsbehelfsverfahrens abhängen kann, und auch nach dem eindeutigenWortlaut der Vorschrift hinsichtlich des Besitzes der Aufenthaltstitel auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen ist, gilt nichts anderes im Hinblick auf die Aussetzung der Abschiebung in § 39 Nr. 5 AufenthV.

Die gegenteilige, auf die Begründungserwägungen des Gesetzgebers in der Bundesrats-Drucksache 921/01, S. 144, gestützte Auffassung des Antragsgegners gebietet keine andere Bewertung. Zwar soll nach der Begründung des Gesetzentwurfs zu § 5 Abs. 2 AufenthG, der die Einholung des erforderlichen Visums zur allgemeinen Erteilungsvoraussetzung für längerfristige Aufenthaltstitel macht, die Durchführung des Visumverfahrens als wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung die Regel bleiben und auf sie nur in besonders gelagerten Einzelfällen verzichtet werden. Nach dem Willen und der Gesetz gewordenen Konzeption des Gesetzgebers gilt dieser Grundsatz jedoch nicht ausnahmslos. Neben der in das Ermessen der Ausländerbehörde gestellten Möglichkeit des Absehens von dem Visumserfordernis nach Maßgabe des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG sind in der Aufenthaltsverordnung, die aufgrund der Verordnungsermächtigung des § 99 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG – Einholung des Aufenthaltstitels nach der Einreise – ergangenen ist, weitere Ausnahmen von diesem grundsätzlichen Erfordernis vorgesehen. Daraus folgt, dass der § 39 Nr. 5 AufenthV gegenüber dem generellen Visumserfordernis des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG eine – speziellere – Ausnahmevorschrift darstellt. Dem Ausländer, der die Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet beantragt hat und in dessen Person die Voraussetzungen des § 39 Nr. 5 AufenthV gegeben sind, kann und soll danach gerade nicht mehr mit Erfolg entgegengehalten werden, dass er nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist ist. Hierin liegt keine "Aushöhlung" des Visumsverfahrens oder "Prämierung" der Einreise ohne Visum, sondern eine bewusste gesetzgeberische Entscheidung, in bestimmten Fällen über die im Aufenthaltsgesetz geregelten Fälle hinaus Ausnahmen zuzulassen. Die Ausnahme des § 39 Nr. 5 AufenthV trägt der Erwägung Rechnung, dass nach Eheschließung (oder Geburt eines Kindes) das Bestehen auf Ausreise und Einholung eines Visums als unverhältnismäßig erscheinen kann (vgl. auch Ziffn. 5.2.1 und 5.2.1.1 der Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern vom 22. Dezember 2004).

In den Fällen des § 39 Nr. 5 AufenthV kommt es entgegen der Ansicht des Antragsgegners auch nicht auf die Frage der erlaubten oder unerlaubten Einreise an (vgl. zu § 9 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG: Funke-Kaiser in GK-AuslG, a.a.O., Rdnr. 98 zu § 3 AuslG).

Die Vorschrift setzt gerade nicht – wie früher z. B. § 9 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 DVAuslG – eine erlaubte Einreise des Ausländers mit dem erforderlichen Visum voraus. Ein solches Erfordernis kann entgegen dem eindeutigen Wortlaut des § 39 Nr. 5 AufenthV auch nicht unter Hinweis auf die übrigen Bestimmungen des § 39 AufenthV in die Vorschrift hineingelesen werden. Wenn in den anderen Ziffern des § 39 AufenthV bezogen auf den Zeitpunkt der Antragstellung auf den Besitz eines Aufenthaltstitels bzw. eines rechtmäßigen titelfreien Aufenthalts abgestellt wird, knüpft § 39 Nr. 5 AufenthV entsprechend dieser Systematik "nur" an die Aussetzung der Abschiebung an, die gerade unabhängig von einer ursprünglich erlaubten oder unerlaubten Einreise zu erfolgen hat. Dementsprechend kann dem Ausländer eine Einreise ohne Visum auch nicht als etwaiger Ausweisungsgrund (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. §§ 94 Abs. 1 Nr. 3, 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) entgegengehalten werden.

Die Abschiebung der Antragstellerin war zum Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis am 21. Dezember 2006 auch noch ausgesetzt.

Zwar enthielt die der Antragstellerin erteilte Duldung die Nebenbestimmungen "Die Gültigkeit der Duldung erlischt mit der Eheschließung." und "gültig bis 21. Dezember 2006", d.h. bis zum Tag der Eheschließung, an dem sie auch den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG gestellt hat. Bei der ersten Nebenbestimmung handelt es sich auf den ersten Blick um eine auflösende Bedingung, d.h. die Wirksamkeit der Duldung hängt von dem Eintritt eines (ungewissen) zukünftigen Ereignisses ab (vgl. § 158 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB –). Allerdings muss es sich dabei um ein ungewisses zukünftiges Ereignis handeln. Der Eheschließungstermin war hier aber bei Ausstellung der Duldung bekannt, weshalb hier in Wahrheit eine Befristung vorliegt. Eine solche stellt auch die zweite Nebenbestimmung dar. Durch eine Befristung wird die Wirksamkeit der Duldung an einen Zeitablauf geknüpft (§ 163 BGB). Die Duldung war also bis zum 21. Dezember 2006, dem Ende der Befristung, d. h. bis zum Ablauf des 21. Dezember 2006 gültig. Dies folgt aus § 188 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) i.V.m. § 31 Abs. 1 VwVfG NRW, wonach der Ablauf des Tages der Befristung maßgeblich ist. Dieses Verständnis trägt im Übrigen auch der Praxis Rechnung, dass eine Duldung grundsätzlich tageweise erteilt wird (vgl. ebenso Funke-Kaiser in GK-AufenthG, a.a.O., Rdnr. 61 zu § 60 a AufenthG).

Demnach war zum maßgeblichen Zeitpunkt des noch am Tag der Eheschließung, am 21. April 2006, gestellten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis die der Antragstellerin erteilte Duldung noch nicht erloschen und die Abschiebung auch noch im Sinne von § 39 Nr. 5 AufenthV ausgesetzt.