OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30.01.2008 - 3 L 75/06 - asyl.net: M12975
https://www.asyl.net/rsdb/M12975
Leitsatz:

1. Die fingierte Asylantragstellung in § 14a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG verletzt nicht die negative Willensentschließungs- und Willenserklärungsfreiheit des minderjährigen Kindes bzw. seines gesetzlichen Vertreters.

2. Die in der BRD geborene Klägerin, die nach Angaben ihrer Eltern yezidischer Religionszugehörigkeit ist, hat im Falle ihrer (erstmaligen) Rückkehr nach Syrien, als dem Land ihrer Staatsangehörigkeit, eine Gruppenverfolgung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten.

 

Schlagwörter: Syrien, Berufung, Begründungserfordernis, Berufungsverfahren, Asylantrag, Antragsfiktion, in Deutschland geborene Kinder, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Altfälle, Beurteilungszeitpunkt, Verfassungsmäßigkeit, isolierte Anfechtungsklage, Rechtsschutzinteresse, Minderjährige, Bekanntmachung, Zustellung, Verwaltungsakt, Kurden, Jesiden, Gruppenverfolgung, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Verfolgungsdichte, Hassake, Afrin, interne Fluchtalternative, Existenzminimum, religiöses Existenzminimum
Normen: VwGO § 124a Abs. 6; VwGO § 124a Abs. 3; AsylVfG § 14a Abs. 2; AsylVfG § 14a Abs. 3; BGB § 1629 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

1. Die fingierte Asylantragstellung in § 14a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG verletzt nicht die negative Willensentschließungs- und Willenserklärungsfreiheit des minderjährigen Kindes bzw. seines gesetzlichen Vertreters.

2. Die in der BRD geborene Klägerin, die nach Angaben ihrer Eltern yezidischer Religionszugehörigkeit ist, hat im Falle ihrer (erstmaligen) Rückkehr nach Syrien, als dem Land ihrer Staatsangehörigkeit, eine Gruppenverfolgung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Berufung ist auch begründet.

Dabei ergibt sich der Erfolg der Berufung der Beklagten nicht schon aus einem Mangel des Rechtsschutzbedürfnisses für die von der Klägerin erhobene Anfechtungsklage. Die isolierte Anfechtung des Bundesamtsbescheids ist statthaft. Die isolierte Anfechtung bietet gegenüber einem Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens nach § 14 a Abs. 3 AsylVfG den Vorteil, dass dessen nachteilige Folgen, die denjenigen einer bestandskräftigen Ablehnung entsprechen (§ 71 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG), bei einem Erfolg der Klage nicht eintreten, weil der negative Bescheid des Bundesamtes ersatzlos aufgehoben wird. Dies legitimiert auch die Zulassung der isolierten Anfechtung als alleiniges Ziel einer Klage wie hier, die sich nur dagegen wendet, dass der angefochtene Bescheid des Bundesamtes wegen Verstoßes gegen § 14 a Abs. 2 AsylVfG rechtswidrig ist (vgl. wegen weiterer Einzelheiten BVerwG v. 21.11.2006 – 1 C 10/06 – a.a.O., Rdnr. 16 ff.).

Die Berufung ist indes begründet, weil sich der Bescheid der Beklagten vom 11. Juli 2005 in der Fassung vom 30. Januar 2008, die er durch Aufhebung der Offensichtlichkeitsurteile in Nr. 1 und 2 des Bescheides erhalten hat, als rechtmäßig erweist.

Das Verwaltungsgericht ist zu Unrecht von der Nichtanwendbarkeit des § 14 a Abs. 2 AsylVfG auf – wie die Klägerin – vor dem 1. Januar 2005 in Deutschland geborene Kinder ausgegangen. Soweit das Bundesamt ein Asylverfahren nach § 14 a Abs. 2 AsylVfG eingeleitet und durchgeführt hat, ist dies rechtlich nicht zu beanstanden; an einem beachtlichen Asylantrag der Klägerin im Sinne der genannten Vorschrift mangelt es nicht. § 14 a Abs. 2 AsylVfG (i.d.F. des Zuwanderungsgesetzes v. 30.7.2004, BGBl. I, S. 1950, a.F. 2004) gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch für vor dem 1. Januar 2005 in Deutschland geborene Kinder.

Soweit die Klägerin verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Fiktion einer Antragstellung geltend macht, weil das Asylverfahren nicht von Amts wegen eingeleitet werde, sondern ihr eine Willenserklärung unterstellt werde, was sie in ihrem Recht auf negative Willensentschließungs- und Willenserklärungsfreiheit und damit in ihren Grundrechten nach Art. 1 GG, Art. 2 GG und Art. 3 GG verletze, teilt der Senat diese Bedenken nicht. Abgesehen davon, dass es mangels Geschäfts- und rechtlicher Handlungsfähigkeit der Klägerin (vgl. § 12 Abs. 1 AsylVfG i. V. m. §§ 104 Nr. 1, 105 Abs. 1 BGB) nicht auf ihre, sondern auf die Willensentschließungs- und Willenserklärungsfreiheit ihrer Eltern oder sonstiger sorgeberechtigter Personen bzw. gesetzlicher Vertreter ankommt, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 21. November 2006 (- 1 C 10/06 - Rdnr. 34) bereits festgestellt, dass dem Interesse des minderjährigen Kindes bzw. seiner gesetzlichen Vertreter, den Zeitpunkt der Einleitung eines Asylverfahrens selbst und unabhängig von einer gesetzlichen Antragsfiktion bestimmen zu können, durch die Verzichtsklausel des § 14 a Abs. 3 AsylVfG und die Möglichkeit, einen weiteren Asylantrag nach Maßgabe des § 71 Abs. 1 AsylVfG stellen zu können, ausreichend Rechnung getragen wird. Gemäß § 14 a Abs. 3 AsylVfG kann der Vertreter des Kindes i.S. von § 12 Abs. 3 AsylVfG jederzeit auf die Durchführung eines Asylverfahrens für das Kind verzichten, indem er erklärt, dass dem Kind keine politische Verfolgung droht. Die Freiheit des Einzelnen und seine Dispositionsbefugnis, kein Asylverfahren durchführen zu wollen, ist hierdurch gewahrt. Steht andererseits der Abgabe einer Verzichtserklärung eine tatsächliche oder vermeintliche politische Verfolgungsgefahr entgegen, bestünde für ein Hinauszögern der Stellung eines Asylantrages und damit für die Verhinderung einer zeitnahen Klärung des aufenthaltsrechtlichen Status des Minderjährigen kein sachlicher Grund. Ein solches Verhalten des gesetzlichen Vertreters des Minderjährigen wäre als Verfahrensverschleppung und rechtsmissbräuchliches Taktieren zu bewerten und ist weder nach verfassungsrechtlichen noch einfach gesetzlichen Maßstäben schutzwürdig. Für nachträglich eintretende Asylgründe bietet das Asylfolgeverfahren gem. § 71 AsylVfG ausreichenden Schutz (ebenso OVG NRW, Urt. v. 11.8.2006 – 1 A 1437/06.A – juris; OVG Rheinl.-Pfalz, Urt. v. 25.4.2006 – 6 A 10211/06 – AuAS 2006, 153; vgl. auch Nds. OVG, Urt. v. 15.3.2006 – 10 LB 7/06 – juris, Rdnr. 52 ff.).

Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass das Asylrecht als Status grundsätzlich erst nach Erwirkung des Anerkennungsaktes geltend gemacht werden kann und die Verwirklichung des Asylrechts nicht der alleinige Zweck des Asylverfahrens ist; neben der Abwehr unberechtigter Asylbegehren dient es auch bei begründeten Ansprüchen der Rechtssicherheit. Wie bei zahlreichen Statusentscheidungen besteht ein dringendes Interesse der Rechtsordnung an einem, den Status feststellenden Formalakt, wenn anders nicht das Asylrecht in jedem entscheidungserheblichen Fall von neuem der Feststellung bedürfte. Verfahren, die in dieser Weise mit gleichsam konstitutiver Wirkung die Geltendmachung einer grundgesetzlichen Gewährleistung regeln, müssen von Verfassungs wegen sachgerecht, geeignet und zumutbar sein; dies kann auch besondere, von allgemeinen Verwaltungsverfahren abweichende Ausgestaltungen erfordern. Dem Gesetzgeber kommt dabei in Bezug auf Organisation und Verfahren eine weite Gestaltungsfreiheit zu (BVerfG, Beschl. v. 20.4.1982 – 2 BvL 26/81 – BVerfGE 60, 253). Er darf jede Regelung treffen, die der Bedeutung des Asylrechts gerecht wird und die eine zuverlässig und sachgerechte Prüfung von Asylgesuchen ermöglicht (BVerfG, Beschl. v. 25.2.1981 – 1 BvR 413/80 – BVerfGE 56, 216). Aus den materiellen Grundrechten lassen sich hierfür nur elementare, rechtsstaatlich unverzichtbare Verfahrensanforderungen ableiten (BVerfGE 60, 253).

Es ist rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Bescheid vom 11. Juli 2005 nur die Mutter als gesetzliche Vertreterin bezeichnet. Bei Minderjährigen genügt gem. § 1629 Abs. 1 Satz 2 2. Halbs. BGB die Bekanntgabe des Verwaltungsaktes an einen Elternteil (vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 5. Aufl., § 41 Rdnr. 56).

Der Bescheid der Beklagten vom 11. Juli 2005 in der Fassung vom 30. Januar 2008 erweist sich auch in der Sache als rechtmäßig. Der Klägerin steht weder ein Anspruch auf Asyl gem. Art. 16 a Abs. 1 GG noch Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 1 bis Abs. 7 des im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats anzuwendenden Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) – Art. 1 Zuwanderungsgesetz – im Folgenden: AufenthG – vom 30. Juli 2004 (BGBl. I, S. 1950 f.), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I, S. 1970) i.V.m. Art. 1 A Nr. 2, 33 GFK, zu.

Ausgehend vom Status der Klägerin als syrische Staatsangehörige und einer somit gegebenen Rückkehrmöglichkeit nach Syrien, kommt ihre Anerkennung als Asylberechtigte gem. Art. 16 a GG auch nicht in Betracht, soweit sie sich auf eine politische Verfolgung in eigener Person beruft. Eine in Syrien bestehende Verfolgungsgefahr aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der yezidischen Kurden kann nicht angenommen werden.

Dies gilt zum einen in Bezug auf eine Gruppenverfolgung, und zwar sowohl hinsichtlich einer unmittelbaren staatlichen als auch einer mittelbaren Gruppenverfolgung. Zum anderen gilt dies aber auch in Bezug auf eine mögliche Individualverfolgung; denn die Klägerin ist in jedem Fall vor Übergriffen moslemischer Araber - wenn nicht im Hassake-Gebiet - so doch im Afrin-Gebiet hinreichend sicher.

Anhand der vorliegenden Erkenntnismittel lässt sich auch nicht feststellen, dass die in Syrien und insbesondere auch die im Nordosten Syriens lebenden Yeziden einer mittelbaren Gruppenverfolgung durch Dritte unterliegen, welche sie landesweit in eine ausweglose Lage brächte. Eine solche Annahme ist weder gegenwärtig noch für absehbare Zeit begründet (ebenso die mittlerweile std. Rspr. d. Nds. OVG, vgl. Urt. v. 27.3.2001 – 2 L 2505/98 – juris m.w.N.).

Der Senat sieht in Übereinstimmung mit der übrigen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. Urt. d. Senats v. 27.6.2001 - A 3 S 482/98 -; Nds. OVG, Urt. v. 27.3.2001, a.a.O.; OVG des Saarlandes, Urt. v. 28.5.1999, a.a.O.; OVG NRW, Urt. v. 21.4.1998, a.a.O.) den Nordosten Syriens (Distrikt Hassake) als räumlich abgrenzbaren Teil des syrischen Staatsgebiets an, in dem sich ein Verfolgungsgeschehen unter den dortigen ethnischen und historischen Bedingungen nach eigenen Gesetzmäßigkeiten vollzieht. Die Yeziden leben als Gruppe kenntlich nicht über das gesamte syrische Staatsgebiet verstreut, sondern siedeln massiert in angestammten Siedlungsgebieten. Es sind dies das Hassake-Gebiet und das Afrin-Gebiet.

Setzt man – von den Zahlen des Yezidischen Kulturforums im Gutachten vom 21. November 2000 ausgehend – die Anzahl der Verfolgungsschläge in den Jahren 1990 bis 2000 ins Verhältnis zur Kopfstärke der yezidischen Bevölkerung, so ergibt sich bei 77 Verfolgungsschläge in 10 Jahren ein Durchschnittswert von 7,7 pro Jahr. Dem steht eine Bevölkerungszahl von 12.232 Yeziden im Jahre 1999 bzw. von 4.093 Yeziden im Jahr 2000 gegenüber. Rein rechnerisch waren damit bezogen auf das Jahr 1990 0,06 v.H. Yeziden und bezogen auf das Jahr 2000 0,19 v.H. Yeziden von asylerheblichen Übergriffen betroffen. Dies erreicht nicht die für eine Gruppenverfolgung nötige Verfolgungsdichte.

Eine Bedrohung von politischer Verfolgung in Form einer mittelbaren Gruppenverfolgung wegen Zugehörigkeit zur Minderheit der Yeziden lässt sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch weder in den Folgejahren noch für die absehbare Zukunft feststellen.

Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Syrien individuelle Verfolgungsgründe wegen der angespannten Situation zwischen Moslems und Yeziden in der Provinz Hassake mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hätte. Soweit es möglichen Belästigungen und Benachteiligungen nicht bereits an der asylrechtlichen Relevanz mangelt, weil sie sich noch in dem Rahmen bewegen, was die yezidische Bevölkerung in dieser Region allgemein hinzunehmen hat, ist in jedem Fall davon auszugehen, dass die Klägerin mit ihren Eltern vor ethnisch-religiös motivierten Übergriffen arabischer Moslems - wenn nicht im Hassake-Gebiet - so doch im Afrin-Gebiet hinreichende Sicherheit für den Fall ihrer Rückkehr nach Syrien finden wird (ebenso OVG Saarlouis, Urt. v. 28.5.1998 - 3 R 74/98 -, S. 47, 59; OVG LSA, Urt. v. 4.12.2002 - 3 L 280/01 -). Die Klägerin und ihre Familienangehörigen sind deshalb nach dem Grundsatz der Subsidiarität des Asylrechts auf dieses Gebiet als inländische Fluchtalternative zu verweisen.