VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 28.01.2008 - 4 UZ 2110/07.A - asyl.net: M12976
https://www.asyl.net/rsdb/M12976
Leitsatz:

Der Ausschluss von subjektiven Nachfluchtgründen im Folgeverfahren gem. § 28 Abs. 2 AufenthG ist mit der Qualifikationsrichtlinie zu vereinbaren.

 

Schlagwörter: Türkei, Folgeantrag, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Anerkennungsrichtlinie, Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, PKK, Folter, Misshandlungen, Antragstellung als Asylgrund, Kriegsdienstverweigerung
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 5 Abs. 3; AsylVfG § 28 Abs. 2
Auszüge:

Der Ausschluss von subjektiven Nachfluchtgründen im Folgeverfahren gem. § 28 Abs. 2 AufenthG ist mit der Qualifikationsrichtlinie zu vereinbaren.

(Leitsatz der Redaktion)

 

In der vom Kläger formulierten allgemeinen Fassung würde sich die Frage in dem vom Kläger angestrebten Berufungsverfahren nicht stellen, sondern allenfalls in der konkretisierten Form, ob bei einem Antragsteller, der - wie der Kläger - einen Asylfolgeantrag gestellt hat, die Qualifikationsrichtlinie dahingehend anzuwenden ist, dass bei selbst geschaffenen Nachfluchtgründen eine Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu erfolgen habe. In dieser Fassung lässt sich die aufgeworfene Frage ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens ohne Weiteres aus dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - Qualifikationsrichtlinie - beantworten. Diese Vorschrift lautet: "Unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention können die Mitgliedstaaten festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen der Herkunftslandes selbst geschaffen hat." Danach steht fest, dass nach der Qualifikationsrichtlinie bei selbst geschaffenen Nachfluchtgründen nicht in jedem Fall eine Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu erfolgen hat, da die Richtlinie es bei Folgeantragstellern zulässt, dass selbst geschaffene Nachfluchtgründe in der Regel nicht zur Anerkennung als Flüchtling führen. Diesen in Art. 5 Abs. 3 Qualifikationsrichtlinie festgelegten Maßstab setzt § 28 Abs. 2 AsylVfG in der ab. 28. August 2007 geltenden Fassung um (ebenso OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 29. August 2007 - 1 A 10074/06 -). Ohne dass es hierauf für die Entscheidung noch ankommt, weist der Senat darauf hin, dass - bezogen auf die hier allein maßgebliche tatsächliche Fallkonstellation - auch die im Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung geltende Fassung des § 28 Abs. 2 AsylVfG (vom 30. Juli 2004, gültig ab 1. Januar 2005 bis 27. August 2007) im Einklang mit Art. 5 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie bestimmte, dass unter anderem Asylfolgeanträge, die auf selbst geschaffenen Nachfluchtgründe gestützt waren in der Regel nicht zur Feststellung eines Abschiebungshindemisses nach § 60 Abs. 1 AufenthG führen konnten (ebenso Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 5. März 2007 - 2 B 06.31019 -). Die Auffassung des Verwaltungsgerichts Lüneburg (Urteil vom 15. Januar 2007 - 1 A 115/04 -) und des sich hieran anschließenden Verwaltungsgerichts Meiningen (Urteil vom 3. April 2007 - 2 K 20183/06 -), § 28 Abs. 2 in der Fassung vom 30. Juli 2004 stehe nicht im Einklang mit Art. 5 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie, da Art. 5 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie allein persönliche Umstände des Asylbewerbers zum Gegenstand habe, nicht aber dessen politische Aktivitäten betreffe, findet in dem Wortlaut der genannten Richtlinie keine Grundlage und ist auch mit Sinn und Zweck dieser Vorschrift nicht vereinbar (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 16. Juni 2006 - 9 LB 104/06 -, InfAuslR 2006, 421).

Auch die weitere vom Kläger aufgeworfene Frage, ob in die Türkei zurückkehrende kurdische Volkszugehörige, denen dort Verfolgung aus politischen Gründen droht, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch mit der Anwendung von Folter zu rechnen haben, rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung.

Wie der 4. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes in seinem Urteil vom 17. Dezember 2007 - 4 UE 202/05.A - im Anschluss an das Urteil des 6. Senats des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 2. März 2005 - 6 UE 972/03.A - ausgeführt hat, muss ein als Asylbewerber identifizierter Rückkehrer bei der Einreise regelmäßig damit rechnen, dass er zunächst festgehalten und einer intensiven Überprüfung unterzogen wird. Dies gilt insbesondere, wenn gültige Reisedokumente nicht vorgewiesen werden können. In diesem Fall erfolgt regelmäßig eine genaue Personalienfeststellung (unter Umständen Kontaktaufnahme mit der Personenstandsbehörde und Abgleich mit dem Fahndungsregister) sowie eine Befragung nach Grund und Zeitpunkt der Ausreise aus der Türkei, Grund der Abschiebung, eventuellen Vorstrafen in Deutschland, Asylantragstellung und Kontakten zu illegalen türkischen Organisationen im In- und Ausland. Diese Einholung von Auskünften, während der der Rückkehrer meist in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache festgehalten wird, konnte in der Vergangenheit bis zu mehreren Tagen dauern. In jüngster Zeit sind dem Auswärtigen Amt allerdings Fälle, in denen eine Befragung bei Rückkehr länger als mehrere Stunden dauerte, nicht mehr bekannt geworden (Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 25.10. 2007, S. 37). Da den türkischen Behörden bekannt ist, dass viele türkische Staatsbürger aus wirtschaftlichen Gründen mit dem Mittel der Asylantragstellung versuchen, in Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu erlangen, werden Verfolgungsmaßnahmen nicht allein deshalb durchgeführt, weil der Betroffene in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 27.10.2007, S. 38). Besteht der Verdacht einer Straftat (z.B. Passvergehen, illegale Ausreise), werden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Wehrdienstflüchtige haben damit zu rechnen, festgenommen, gemustert und ggf. einberufen zu werden und zwar unter Umständen nach Durchführung eines Strafverfahrens. Es sind laut aktuellem Lagebericht mehrere Fälle bekannt geworden, in denen Suchvermerke zu früheren Straftaten oder über Wehrdienstentziehung von den zuständigen türkischen Behörden versehentlich nicht gelöscht worden waren, was bei den Betroffenen zu kurzfristiger Ingewahrsamnahme bei der Einreise führte (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 27.10.2007, S. 37).

Werden Rückkehrer aber wegen konkreter Anhaltspunkte für die Begehung von politischen Straftaten, insbesondere durch Unterstützung der PKK, an die politische Abteilung der Polizei überstellt, ist eine andere Beurteilung geboten. Mit der Überstellung an die politische Polizei war bislang die reale Gefahr von Misshandlung und Folter verbunden (Auswärtiges Amt an VG Wiesbaden vom 02.02.1993, S. 2 sowie Lageberichte vom 07.12.1995, S. 10 und vom 07.09.1999).