VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 18.03.2008 - 1 A 2466/05 - asyl.net: M12980
https://www.asyl.net/rsdb/M12980
Leitsatz:
Schlagwörter: Russland, Tschetschenen, Tschetschenien, Vorverfolgung, Lagerhaft, Razzien, Verdacht der Unterstützung, Separatisten, Vergewaltigung, posttraumatische Belastungsstörung, traumatisierte Flüchtlinge, Glaubwürdigkeit, Kinder, interne Fluchtalternative, Verfolgungssicherheit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet. Die Kläger haben Anspruch auf die beantragte Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Wenn ein Ausländer vor seiner Einreise in die Bundesrepublik im Staat seiner Staatsangehörigkeit bereits einmal von Verfolgung betroffen oder unmittelbar bedroht war, ist er als vorverfolgt anzusehen, wenn die Wiederholung der Verfolgungsmaßnahme nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Davon ist im vorliegenden Fall für alle Kläger auszugehen.

Der Kläger zu 1) ist zwar - auch seinen Angaben nach - nicht von besonders gravierenden Verfolgungsmaßnahmen bedroht gewesen. Dabei bleibt die Lagerhaft im Jahre 1996 außer Betracht, weil diese im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger schon mehrere Jahre zurück lag und deshalb nicht mehr kausal für die Flucht war. Aber auch nach der Lagerhaft ist der Kläger nicht zur Ruhe gekommen. Sicherheitskräfte wollten seiner habhaft werden und haben deshalb das Haus im Herbst 2003 überfallen. Diese Razzia hatte zwar nur eine sehr kurze Festnahme des Klägers zur Folge. Dennoch ist sie für die Entscheidung über sein Verfolgungsschicksal von Belang, weil die Sicherheitskräfte auch danach versucht haben, sich des Klägers zu bemächtigen. Im Januar 2004 sind sie wiederum in das Haus eingedrungen, konnten jedoch den Kläger nicht finden, weil er inzwischen untergetaucht war. Dass es zu diesem Überfall gekommen ist, steht zur Überzeugung des Gerichts aufgrund von Erklärungen der Klägerin zu 2) fest. Sie hat diesen Vorfall nicht nur bei der Vorprüfung erwähnt, sondern dieses traumatische Erlebnis ist wesentlicher Anlass für die intensive psychotherapeutische Betreuung, der der Klägerin zu 2) noch bedarf.

Neben dem Kläger zu 1) war auch die Klägerin zu 2) erheblicher Verfolgung ausgesetzt, die eine Rückkehr in die Russische Föderation auch in Gebiete außerhalb Tschetscheniens ausschließt. Zwar waren die Angaben der Klägerin zu 2) im Verwaltungsverfahren recht pauschal und auch wenig überzeugend. Inzwischen ist jedoch durch Fachärzte hinreichend sicher diagnostiziert, dass die Klägerin an einer psychotischen Dekompensation leidet, der eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung zugrunde liegt. Im Rahmen der Anamnese hat sich ergeben, dass die Klägerin zu 2) bei dem Überfall im Januar, als nach ihrem Mann gesucht wurde, nicht nur brutal geschlagen und beschimpft worden ist, sondern dass es dabei auch zu mehrfacher Vergewaltigung gekommen ist.

Nicht nur die bei Ausreise aus der Russischen Föderation erwachsenen Kläger zu 1) und zu 2), sondern auch die damals sämtlich noch minderjährigen Kinder, die Kläger zu 3) bis 6), sind Opfer politischer Verfolgung geworden, die Schutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG erfordert. Insbesondere die beiden Überfälle auf die Wohnung und die Übergriffe auf die Mutter haben bei den Kindern zu Angsterlebnissen geführt, die angesichts der geringen Belastbarkeit von Kindern einer politischen Verfolgung, wie sie zum Kernbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG gehört, gleichzusetzen ist. Deshalb ist in diesem Fall auch die Verfolgung der Eltern gleichzeitig eine Schutz begründende Verfolgung der Kinder, die diese miterlebt haben.

Wegen der bereits erlittenen Verfolgung in Tschetschenien können die Kläger nicht auf die sich sonst für die tschetschenische Bevölkerung bestehende Möglichkeit verwiesen werden, sich an anderen Orten innerhalb der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens niederzulassen (inländische Fluchtalternative). Da zumindest der Kläger zu 1) individuell bei den russischen Behörden in den Verdacht der Unterstützung tschetschenischer Separatisten geraten ist, ist landesweite Verfolgung nicht mit der erforderlichen Gewissheit auszuschließen.