OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18.03.2008 - 2 O 48/08 - asyl.net: M12992
https://www.asyl.net/rsdb/M12992
Leitsatz:

Die Ausübung des Umgangsrechts eines nichtsorgeberechtigten Elternteils kann ein zwingender Grund für die Erlaubnis zum Verlassen des Geltungsbereichs der Duldung gem. § 12 Abs. 5 S. 2 AufenthG sein.

 

Schlagwörter: D (A), Duldung, räumliche Beschränkung, vorübergehendes Verlassen, zwingende Gründe, Eltern-Kind-Verhältnis, Umgangsrecht, nichteheliche Kinder, Schutz von Ehe und Familie, Kindschaftsrechtsreform, Prozesskostenhilfe, Erfolgsaussichten, Fortsetzungsfeststellungsklage, Verpflichtungsklage, Rechtsschutzinteresse
Normen: VwGO § 166; ZPO § 114; AufenthG § 61 Abs. 1; AufenthG § 12 Abs. 5; GG Art. 6; BGB § 1684 Abs. 1
Auszüge:

Die Ausübung des Umgangsrechts eines nichtsorgeberechtigten Elternteils kann ein zwingender Grund für die Erlaubnis zum Verlassen des Geltungsbereichs der Duldung gem. § 12 Abs. 5 S. 2 AufenthG sein.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe in dem in der Beschwerde eingeschränkten Umfang zu Unrecht abgelehnt.

Die beabsichtigte Fortsetzungsfeststellungsklage dürfte zulässig sein. Nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO spricht das Gericht, wenn sich ein Verwaltungsakt vor der gerichtlichen Aufhebung durch Zurücknahme oder anders erledigt, auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat. Ein solcher Antrag ist auch bei einem erledigten Verpflichtungsbegehren statthaft (BVerwG, Urt. v. 27.03.1998 - 4 C 14.96 -, BVerwGE 106, 295). Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn sich das Verpflichtungsbegehren bereits vor Erhebung einer Klage erledigt hat (vgl. Käpp/Schenke, VWGO, 15. Aufl., 113, RdNr. 109, m. w. Nachw.).

Der Antragsteller hat voraussichtlich auch das erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse. Anstelle der konkreten Wiederholungsgefahr bei der Anfechtungsklage tritt bei der Verpflichtungsklage ein konkretes Weiterverfolgungsinteresse, das vorliegt, wenn die Gefahr besteht, dass die Behörde einen erneuten Antrag auf neuer Grundlage mit gleichen Gründen ablehnen wird (vgl. Gerhardt in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 113 RdNr. 102; Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl., § 113 RdNr. 311). Nach derzeitigem Stand ist der Antragsgegner nicht bereit, dem Antragsteller für den Besuch seines Sohnes und der Kindesmutter - außer bei besonderen Anlässen - eine Verlassenserlaubnis zu erteilen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass sich die rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse nach der ablehnenden Entscheidung wesentlich geändert haben (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 24.02.1983 - 3 C 56.80 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 129).

Die Fortsetzungsfeststellungsklage hat auch in der Sache hinreichende Aussicht auf Erfolg. Nach derzeitigem Sach- und Streitstand spricht Überwiegendes dafür, dass der Antragsgegner die begehrte Verlassenserlaubnis zu Unrecht verweigert hat.

Nach § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist der Aufenthalt eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers räumlich auf das Gebiet des Landes beschränkt. Die Ausländerbehörde, die die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebung gewährt hat, kann nach § 12 Abs. 5 Satz 1 AufenthG dem Ausländer das Verlassen des auf der Grundlage dieses Gesetzes beschränkten Aufenthaltsbereichs erlauben. Gemäß § 12 Abs. 5 Satz 2 AufenthG ist die Erlaubnis zu erteilen, wenn hieran eindringendes öffentliches Interesse besteht, zwingende Gründe es erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde.

Es spricht bereits einiges dafür, dass im Zeitpunkt der ablehnenden Entscheidung (Anfang Juli 2007) ein "zwingender Grund" im Sinne dieser Vorschrift vorgelegen hat. Nach Nr. 12.5.2.2 der vorläufigen Anwendungshinweise zum AufenthG sind "zwingende Gründe" solche von erheblichem Gewicht; sie können auch- familiärer Natur sein (z.B. Besuch schwer kranker Familienmitglieder oder Teilnahme an bedeutenden religiösen Riten und Festen). Im konkreten Fall geht, es dem Antragsteller, da er kein Sorgerecht für seinen Sohn hat, um die Wahrnehmung seines Umgangsrechts nach § 1684 Abs. 1 BGB, für dessen Anwendbarkeit gemäß Art. 21 EGBGB der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes maßgeblich ist. Danach hat das Kind das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil; jeder Elternteil ist zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt. Auch die Wahrnehmung dieses Rechts kommt als "zwingender Grund" im Sinne von § 12 Abs. 5 Satz 2 AufenthG in Betracht. Die mit dem Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts vom 16.12.1997 erfolgte Neuregelung des Umgangsrechts des nicht sorgeberechtigten Elternteils hat mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 und 2 GG eine nicht unbedeutende aufenthaltsrechtliche Akzentverschiebung ausgelöst; das Wohl des Kindes steht im Vordergrund und ist bei ausländerrechtlichen Entscheidungen in den Blick zu nehmen (vgl. Funke-Kaiser in: GK AufenthG, II - §60a RdNr. 160, m. w. Nachw.). Das bis dahin lediglich als Elternrecht ausgestaltete Umgangsrecht soll in der Neufassung des § 1684 BGB einen Bewusstseinswandel bei den Eltern bewirken, dass sie nicht nur ein Recht auf Umgang haben, sondern im Interesse des Kindes auch die Pflicht, diesen Umgang zu ermöglichen. Das Kind ist nicht nur Objekt des elterlichen Umgangs; vielmehr dient der Umgang der Eltern mit ihrem Kind ganz wesentlich dessen Bedürfnis, Beziehungen zu beiden Elternteilen aufzubauen und erhalten zu können. Die gesetzliche Umgangspflicht soll Eltern darauf hinweisen, dass der Umgang mit ihnen, auch und gerade wenn das Kind nicht bei ihnen lebt, für die Entwicklung und das Wohl des Kindes eine herausragende Bedeutung hat (vgl. BT-Drucks. 13/4899 S. 68; 13/8511 S. 67 f., 74). Die Vorstellung dessen, was "Familie" und schützenswert ist, die in der Wertentscheidung des Gesetzgebers des Kindschaftsrechtsreformgesetzes zum Ausdruck kommt, ist selbst vom Verfassungsrecht geprägt und kann auch unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung bei der Bewertung einer familiären Situation im Ausländerrecht nicht außer Betracht bleiben (BVerfG, Beschl. v. 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, InfAuslR 2006, 122). Dabei ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zum getrennt lebenden Elternteil und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient und das Kind beide Eltern braucht (BVerfG, a.a.O.). Gerade bei einem kleinen Kind schreitet die Entwicklung sehr schnell voran, so dass schon eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit im Lichte von Art. 6 Abs. 2 GG unzumutbar lang sein kann (vgl. BVerfG, Beschl, v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, NVwZ 2000, 59). Diese verfassungs- und familienrechtlichen Vorgaben dürfen auch bei der Entscheidung über die Erteilung einer Verlassenserlaubnis nach § 12 Abs. 5 AufenthG nicht außer Betracht bleiben. Bei Anlegung dieses Maßstabs und in Anbetracht des Umstands, dass der Antragsteller seinen Sohn zuletzt Ende Mai 2007 besucht hatte, spricht Vieles dafür, dass eine Verlassenserlaubnis für einige Tage im Juli 2007 hätte erteilt werden müssen.

Aber auch wenn die Wahrnehmung des Umgangsrechts (im Juli 2007) nicht als "zwingender Grund" im Sinne von § 12 Abs. 5 Satz 2 AufenthG anzusehen sein sollte, wäre der Antragsgegner jedenfalls verpflichtet gewesen, gemäß § 12 Abs. 5 Satz 1 AufenthG eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Anträge auf Erteilung einer Verlassenserlaubnis zu treffen und dabei das gesetzliche Umgangsrecht mit dem ihm zukommenden Gewicht bei seinen Ermessenswägungen zu berücksichtigen.

Dem Antragsteller kann voraussichtlich auch nicht entgegengehalten werden, er hätte am Aufenthaltsort seines Sohns eine Zweitduldung beantragen können. Zwar ermächtigt bzw. verpflichtet § 12 Abs. 5 AufenthG nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 05.04.2006 - 2 M 126/06 -, Juris, m. w. Nachw.) die Ausländerbehörde am Aufenthaltsort des Ausländers nur dazu, das Verlassen des gesetzlich beschränkten Aufenthaltsbereichs für eine begrenzte Zeit zu erlauben. Auf der Grundlage dieser Vorschrift ist es hingegen nicht möglich, eine Wohnsitznahme in einem anderen Bundesland auf Dauer zu gestatten. Jedoch verlangt die Wahrnehmung des Umgangsrechts nach § 1684 Abs. 1 BGB regelmäßig keinen Daueraufenthalt am Aufenthaltsort des Kindes.