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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 24.01.2008 - C-294/06 - asyl.net: M13005
https://www.asyl.net/rsdb/M13005
Leitsatz:

Der Erwerb der Rechte nach Art. 6 ARB Nr. 1/80 setzt nicht voraus, dass der türkische Staatsangehörige als Arbeitnehmer in den Mitgliedstaat eingereist ist, so dass auch Studenten oder Au-pair-Kräfte die Arbeitnehmereigenschaft nach Art. 6 ARB Nr. 1/80 erlangen können.

 

Schlagwörter: Großbritannien (A), Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Arbeitnehmerbegriff, Studenten, Au-pair
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 6 Abs. 1; RL 2004/114/EG Art. 4 Abs. 1 Bst. a
Auszüge:

Der Erwerb der Rechte nach Art. 6 ARB Nr. 1/80 setzt nicht voraus, dass der türkische Staatsangehörige als Arbeitnehmer in den Mitgliedstaat eingereist ist, so dass auch Studenten oder Au-pair-Kräfte die Arbeitnehmereigenschaft nach Art. 6 ARB Nr. 1/80 erlangen können.

(Leitsatz der Redaktion)

 

19 Die Vorlagefragen stimmen in den beiden Verfahren überein und beziehen sich zum einen auf Au-pair-Kräfte und zum anderen auf Studenten.

20 Aus diesen Fragen geht hervor, dass das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob der Umstand, dass einem türkischen Staatsangehörigen gestattet worden ist, als Au-pair-Kraft oder als Student in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen, ihm die Eigenschaft als "Arbeitnehmer" nimmt und ihn von der Zugehörigkeit zum "regulären Arbeitsmarkt" dieses Mitgliedstaats im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ausschließt, so dass er sich nicht auf diese Vorschrift berufen kann, um eine Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis zu erhalten und in den Genuss des entsprechenden Aufenthaltsrechts zu kommen.

35 Dazu ist zunächst hervorzuheben, dass der etwaige soziale Zweck der Studenten oder Aupair-Kräften erteilten Einreisegenehmigung und des ihnen eingeräumten Rechts zu arbeiten für sich genommen nichts daran ändert, dass die von diesen ausgeübte Tätigkeit regulär ist, und dass er daher kein Hindernis für ihre Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats ist. Der Gerichtshof hat in Randnr. 51 des Urteils Birden entschieden, dass der Begriff "regulärer Arbeitsmarkt" nicht dahin auszulegen ist, dass er den allgemeinen Arbeitsmarkt im Gegensatz zu einem besonderen Arbeitsmarkt bezeichnet, der sozialen Zwecken dient und von öffentlichen Stellen gefördert wird.

36 Ferner ist daran zu erinnern, dass der Beschluss Nr. 1/80 die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt lässt, Vorschriften sowohl über die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet als auch über die Voraussetzungen für deren erste Beschäftigung zu erlassen, und in seinem Art. 6 lediglich die Stellung der türkischen Arbeitnehmer regelt, die bereits ordnungsgemäß in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats eingegliedert sind (Urteil vom 30. September 1997, Ertanir, C-98/96, Slg. 1997, I-5179, Randnr. 23).

37 Nach ständiger Rechtsprechung bezweckt Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80, die Situation türkischer Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat schrittweise zu festigen (vgl. u.a. Urteil vom 10. Januar 2006, Sedef, C-230/03, Slg. 2006, I-157, Randnr. 34).

38 Diese Bestimmung erfasst somit die türkischen Staatsangehörigen, die im Aufnahmemitgliedstaat die Eigenschaft als Arbeitnehmer haben, ohne jedoch zu verlangen, dass sie als Arbeitnehmer in die Gemeinschaft eingereist sind. Sie können diese Eigenschaft nach ihrer Einreise in die Gemeinschaft erlangt haben. So war in der Rechtssache Birden Herr Birden, dem die Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gestattet worden war, in diesem Mitgliedstaat zunächst arbeitslos, bevor er dort eine entgeltliche Beschäftigung aufnahm. In der Rechtssache Kurz wurde dem betreffenden türkischen Staatsangehörigen die Einreise in die Gemeinschaft nicht als Arbeitnehmer gestattet, sondern damit er eine Berufsausbildung als Installateur absolvierte.

39 Nach Ablauf des ersten Arbeitsjahrs kann der türkische Staatsangehörige, wenn er die in Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, eine Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber und ein entsprechendes Aufenthaltsrecht verlangen.

40 Bei der Prüfung, ob türkische Staatsangehörige diese Voraussetzungen erfüllen, wird der Zweck, zu dem den Betreffenden die Einreise in das Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats gestattet wurde, nicht berücksichtigt. Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 die in ihm vorgesehenen Rechte der türkischen Arbeitnehmer nicht von dem Grund abhängig macht, aus dem diesen Arbeitnehmern die Einreise, eine Arbeitstätigkeit und der Aufenthalt ursprünglich gestattet wurden (vgl. Urteil vom 30. September 1997, Günaydin, C-36/96, Slg. 1997, I-5143, Randnrn. 51 und 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass ein türkischer Staatsangehöriger durch die von ihm zum Ausdruck gebrachte Absicht, nach einem mehrjährigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat in sein Herkunftsland zurückzukehren, nicht daran gehindert wird, sich auf die von Art. 6 Abs. 1 verliehenen Rechte zu berufen. Etwas anderes gälte nur dann, wenn der Betreffende versucht hätte, die zuständigen Behörden durch die wahrheitswidrige Bekundung einer solchen Absicht zu täuschen, nur um sie zu veranlassen, ihm zu Unrecht die erforderlichen Erlaubnisse zu erteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil Günaydin, Randnrn. 54 und 60).

41 Wie sich aus dem Urteil Günaydin ergibt, wird der betreffende türkische Staatsangehörige dadurch, dass ihm die Einreise gestattet worden war, um ein Studium zu absolvieren, und seine Aufenthaltserlaubnis zunächst mit einem Verbot der Ausübung einer entgeltlichen Tätigkeit versehen war, nicht daran gehindert, sich auf die Bestimmungen von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 zu berufen, sofern er anschließend rechtmäßig eine Arbeit erhalten und wenigstens ein Jahr bei demselben Arbeitgeber gearbeitet hat.

42 Auch die eventuelle Befristung des Arbeitsvertrags kann kein Hindernis für die Anwendung von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 darstellen. Wie der Gerichtshof nämlich entschieden hat, könnten die Mitgliedstaaten, wenn eine Befristung des Arbeitsverhältnisses genügte, um die Ordnungsgemäßheit der Beschäftigung, die der Betroffene rechtmäßig ausübt, in Frage zu stellen, den türkischen Wanderarbeitnehmern, denen sie die Einreise in ihr Hoheitsgebiet gestattet haben und die dort ununterbrochen während eines Jahres eine ordnungsgemäße wirtschaftliche Tätigkeit verrichtet haben, die Rechte vorenthalten, die diese unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 herleiten können (vgl. Urteil Birden, Randnr. 64).

43 Um festzustellen, ob sich ein rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereister türkischer Staatsangehöriger, nachdem er ein Jahr in diesem Gebiet gearbeitet hat, auf die von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 verliehenen Rechte berufen kann, ist daher zu prüfen, ob der Betreffende die objektiven Voraussetzungen nach dieser Bestimmung erfüllt, ohne dass dabei die Gründe, aus denen ihm die Einreise ursprünglich gestattet wurde, oder eine zeitliche Beschränkung, an die sein Recht zu arbeiten eventuell geknüpft war, zu berücksichtigen sind. Nach ständiger Rechtsprechung sind die nationalen Behörden nicht befugt, diese Rechte Bedingungen zu unterwerfen oder ihre Ausübung einzuschränken, weil dies die praktische Wirksamkeit dieses Beschlusses beeinträchtigen würde (vgl. Urteile Günaydin, Randnrn. 37 bis 40 und 50, Birden, Randnr. 19, Kurz, Randnr. 26, vom 21. Oktober 2003, Abatay u. a., C-317/01 und C-369/01, Slg. 2003, I-12301, Randnr. 78, und Sedef, Randnr. 34).

44 Demzufolge werden die betroffenen türkischen Staatsangehörigen in Fällen wie denen der Ausgangsverfahren durch die Gründe, aus denen ihnen die Einreiseerlaubnis erteilt wurde – Ausübung einer Tätigkeit als Au-pair-Kraft oder das Studium –, als solche nicht daran gehindert, sich auf die Bestimmungen von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 zu berufen. Das Gleiche gilt hinsichtlich der von diesen Staatsangehörigen verlangten Absichtserklärungen, nicht länger als zwei Jahre im Aufnahmemitgliedstaat bleiben oder diesen mit Ende ihres Studiums verlassen zu wollen, und hinsichtlich von Befristungen ihrer Aufenthaltserlaubnis.

46 Unter diesen Umständen kann dem Vorbringen der Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht haben, dass ein Student oder eine Au-pair-Kraft die Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats umgehen könne, um schrittweise einen Anspruch auf unbeschränkten Zugang zu dessen Arbeitsmarkt zu erlangen, nicht gefolgt werden. Denn eine Umgehung dieser Rechtsvorschriften kann nicht vorliegen, wenn die Betreffenden nur ein Recht ausüben, das im Beschluss Nr. 1/80 ausdrücklich vorgesehen ist. Etwas anderes gälte nur dann, wenn die Betreffenden einen Anspruch auf Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats durch Täuschung erlangt hätten, indem sie wahrheitswidrig die Absicht bekundeten, zu studieren oder eine Au-pair-Tätigkeit auszuüben. Wenn dagegen das Bestehen dieser Absicht dadurch bestätigt wird, dass sie tatsächlich studieren oder eine Au-pair-Tätigkeit ausüben, wenn sie rechtmäßig eine Arbeit im Aufnahmemitgliedstaat erhalten und wenn sie die Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllen, können die Betreffenden in vollem Umfang die Rechte geltend machen, die ihnen diese Bestimmung verleiht.

47 Die deutsche und die niederländische Regierung berufen sich schließlich auf die Richtlinie 2004/114. Aus der Systematik dieser Richtlinie leiten sie ab, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber Studenten habe ermöglichen wollen, beschäftigt zu werden und eine bestimmte Anzahl von Stunden zu arbeiten, ohne dass sie jedoch als Arbeitnehmer angesehen würden und so den Zugang zum Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats erlangen könnten.

48 Diese Richtlinie ist jedoch nicht einschlägig. Denn aufgrund ihres Art. 4 Abs. 1 Buchst. a findet sie nur vorbehaltlich günstigerer Bestimmungen in bi- oder multilateralen Übereinkünften zwischen der Gemeinschaft oder der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und einem oder mehreren Drittstaaten andererseits Anwendung. Folglich kann sich aus dieser Richtlinie, wie die Generalanwältin in Nr. 57 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, weder ein restriktives Verständnis von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ergeben, noch ermöglicht sie eine Auslegung der letztgenannten Vorschrift.

49 Auf die Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass der Umstand, dass einem türkischen Staatsangehörigen gestattet worden ist, als Au-pair-Kraft oder als Student in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen, ihm nicht die Eigenschaft als "Arbeitnehmer" nehmen und ihn nicht von der Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ausschließen kann. Dieser Umstand hindert diesen Staatsangehörigen daher nicht daran, sich auf diese Vorschrift zu berufen, um eine Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis zu erhalten und in den Genuss eines entsprechenden Aufenthaltsrechts zu kommen.