VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 02.04.2008 - 3 A 462/07 - asyl.net: M13012
https://www.asyl.net/rsdb/M13012
Leitsatz:

Bei schwerwiegenden Erkrankungen (hier: HIV-Infektion) kann nicht schematisch auf eine mögliche Behandlung im Herkunftsstaat verwiesen werden, sondern müssen die individuellen Gesichtspunkte (v.a. Gesundheitszustand und persönliche Umstände) berücksichtigt werden; Abschiebungsverbot hinsichtlich Kameruns wegen extremer Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG wegen HIV-Erkrankung im Stadium CDC C3.

 

Schlagwörter: Kamerun, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, HIV/Aids, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Situation bei Rückkehr, Analphabeten, alleinstehende Personen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Bei schwerwiegenden Erkrankungen (hier: HIV-Infektion) kann nicht schematisch auf eine mögliche Behandlung im Herkunftsstaat verwiesen werden, sondern müssen die individuellen Gesichtspunkte (v.a. Gesundheitszustand und persönliche Umstände) berücksichtigt werden; Abschiebungsverbot hinsichtlich Kameruns wegen extremer Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG wegen HIV-Erkrankung im Stadium CDC C3.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger einen Anspruch gegen die Beklagte festzustellen, dass für ihn ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG bezüglich Kameruns besteht. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. November 2007 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Bei Gefahren in einem Land, denen die gesamte Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, welcher der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, wird Abschiebeschutz allerdings ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60 a AufenthG gewährt (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Diese grundlegende Entscheidung des Bundesgesetzgebers haben auch die Verwaltungsgerichte bei der Auslegung und Anwendung der §§ 60 und 60 a AufenthG zu respektieren (BVerwG; Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324-331).

Die Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG steht dem Abschiebungshindernis jedoch aufgrund verfassungskonformer Auslegung dann nicht entgegen, wenn durch die Abschiebung der Ausländer, dem ein anderweitiger Abschiebungsschutz nicht zur Verfügung steht, einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt würde.

Es mag auf sich beruhen, ob eine allgemeine Gefahrenlage im Sinne dieser Vorschrift anzunehmen ist, weil nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation ungefähr 5 % der sexuell aktiven Bevölkerung Kameruns HIV-Infizierte sind (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 22.05.2007 - 3 K 5382/06.A -, Juris, Rn. 17 m.w.N.), denn der Kläger erfüllt die vorgenannten Voraussetzungen.

Der Kläger leidet an einer chronischen HIV-Infektion und bedarf regelmäßiger und engmaschiger ärztlicher Betreuung. Eine hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART) unter entsprechenden regelmäßigen Kontrollen der Immunparameter ist beim Kläger erforderlich. Unter Therapie fanden sich bei letzter Bestimmung am 27. März 2008 nur 9 CD4-Zellen/μl (Normwert: >270). Der Kläger wird zurzeit nach HAART behandelt. Die Therapie, welche der Kläger in Deutschland erhält, kann nach dem gegenwärtigen Stand der ärztlichen Kunst zwar die Immunschwäche nicht heilen, aber sie kann das Leben des Klägers um viele Jahre verlängern (vgl. wikipedia: hochaktive antiretrovirale Therapie - HAART -).

Im Falle einer Therapieunterbrechung wäre mit einer raschen Verschlechterung der Immunparameter und dem Auftreten vital gefährdender opportunistischer Krankheiten zu rechnen (vgl. Attest vom 27.03.2008).

Diese schwersten Gesundheitsbeeinträchtigungen und der Tod würden bei einer Abschiebung des Klägers alsbald nach Eintreffen in Kamerun, innerhalb von Monaten, eintreten. Denn der Kläger ist im Stadium CDC C3 des Krankheitsverlaufs. Eine adäquate Gesundheitsversorgung ist für ihn nicht erreichbar.

Der Kläger würde in Kamerun keine auch nur ansatzweise dem Ausprägungsgrad in Gestalt des Vollbildes Aids angemessene Behandlung seiner HIV-Infektion erhalten. Zwar weist das Bundesamt im angefochtenen Bescheid zutreffend darauf hin, dass es seit Mai 2007 in Kamerun ein Programm gibt, nach dem HIV/Aids-Patienten in Kamerun kostenlos behandelt werden, jedoch beschränkt sich der angefochtene Bescheid vollständig auf die theoretische Darstellung der Möglichkeiten, die im optimalen Fall wohl gegeben sein könnten. Jegliches Eingehen auf die persönliche spezielle Situation des Klägers fehlt jedoch im angefochtenen Bescheid. Es liegt auf der Hand, dass bei der Bekämpfung so schwerwiegender Erkrankungen sowie Aids im Vollbild nicht schematisch auf (vielleicht sogar zuverlässig in Kamerun erhältliche) irgendwelche Medikamente zur Behandlung abgestellt werden kann. Vielmehr ist individuell nach dem jeweiligen Gesundheitszustand des Klägers insbesondere auch unter Berücksichtigung der sog. opportunistischen Infektionen ggf. auch sehr kurzfristig die Medikation umzustellen bzw. zu ändern. Dafür ist vorliegend aus den Erkenntnismitteln nichts zu entnehmen. Das Gericht ist vielmehr nach der Auswertung der vorliegenden Erkenntnismittel sowie der fachärztlichen Stellungnahmen zum Gesundheitszustand des Klägers und aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger bei der Rückkehr nach Kamerun - wenn er denn überhaupt reisefähig wäre - kurzfristig mit schwersten Gesundheitsbeeinträchtigungen, wenn nicht gar mit dem Tod zu rechnen hat. In dem Einzelfall des Klägers trägt zu dieser Einschätzung maßgeblich bei, dass der Kläger, der Analphabet und bereits mit der täglichen Organisation seiner Medikamenteneinnahme hoffnungslos überfordert ist, nach Überzeugung des Gerichts nicht ansatzweise dazu in der Lage wäre, in den Verhältnissen in seinem Heimatland sein tägliches Überleben und noch dazu zu organisieren, dass seine Aids-Erkrankung von den zur Behandlung möglicherweise bereiten Stellen auch nur erkannt, beachtet und er auch nur überhaupt mit irgendwelchen Medikamenten ausgestattet wird. Es liegt für das Gericht auf der Hand, dass der Kläger, der in einem kleinen Dorf auf dem Lande aufgewachsen und noch nicht einmal 2 Jahre zur Schule gegangen ist, intellektuell gar nicht in der Lage, ist, sich im turbulenten Alltag einer kamerunischen Großstadt, wie etwa Yaounde oder Douala zurecht zu finden und zu überleben. Nur in diesen großen Zentren gäbe es überdies überhaupt die Möglichkeit, sich um eine allgemeine Standardtherapie bezüglich der Aids-Erkrankung zu bemühen. Nach dem Eindruck, den das Gericht von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, ist es bereits in der relativ "geschützten" Umgebung des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland erforderlich, dass er durch Dritte (wie etwa durch Pflegekräfte) täglich dazu angehalten wird, die für ihn überlebenswichtigen Medikamente in richtigen Art und Zahl und zum richtigen Zeitpunkt einzunehmen. Auch auf dringendes Nachfragen des Gerichts konnte der unter umfassender Betreuung stehende Kläger nicht den Eindruck vermitteln, dass er gegenwärtig oder in naher Zukunft seinen Tagesablauf so strukturieren oder organisieren könnte, dass er selbständig auch nur diese Medikamenteneinnahme bewältigen könnte. Die rechtzeitige Wiederbeschaffung von verbrauchten Arzneimitteln oder die Organisation von Untersuchungsterminen, wie sie für den Kläger zwingend erforderlich sind, dürften ihn nach dem Eindruck des Gerichts bei Weitem überfordern, so dass er diesbezüglich dringend auf Dauer auf Hilfe Dritter angewiesen ist. Angesichts der aus den Arztberichten ersichtlichen Rückschläge in der Therapie des Klägers verstärkt sich der Eindruck, dass er den vorgenannten Anforderungen in keiner Weise genügen konnte und kann, so dass es (zuletzt im Februar 2008) zu erheblichen Verschlechterungen seines Gesundheitszustandes mit wiederholten Klinikeinweisungen kam.

Irgendwelche Hilfe im Alltag oder auch nur gesundheitlichen Bereich hat der Kläger, der nach seinen glaubhaften Angaben ohne jegliche nahe Verwandtschaft in Kamerun ist, nach seiner Rückkehr nicht zu erwarten. Er wäre vollständig auf sich allein gestellt, so dass - selbst wenn irgendeine Medikation für ihn verfügbar wäre - er diese Hilfe mangels irgendwelcher Betreuung nicht erreichen könnte. Abgesehen davon erscheint es für das Gericht ausgeschlossen, dass der Kläger auch nur ansatzweise die Kosten aufbringen könnte, um die zwangsläufig eintretenden sog. opportunistischen Infektionen behandeln zu lassen. Nach der Anfragebeantwortung von ACCORD vom 30. Januar 2008 zu den Behandlungsmöglichkeiten für HIV/Aids und Hepatitis B/C bezüglich Kamerun (www.ecoi.net) ergibt sich aufgrund der darin genannten, ausgewerteten Quellen, dass die Behandlung der opportunistischen Infektionen teuer sei und manche Patienten nicht behandelt würden, wenn sie sich das nicht leisten könnten. Zwar gebe es Behandlungszentren, eine Analyse der Viruslast sei jedoch nur in Yaounde und Douala möglich. Diese Analyse kostet jedoch 68 Dollar. Auch die Bestimmung der Zahl der Helferzellen kostet 42 Dollar. Es erscheint deshalb ausgeschlossen, dass ohne regelmäßige Bestimmung dieser Basiswerte auch nur eine ansatzweise angemessene antiretrovirale Behandlung der Aids-Erkrankung des Klägers erfolgen kann, selbst wenn sie tatsächlich für ihn kostenlos wäre. Nach den Informationen in der genannten ACCORD-Anfragebeantwortung erhielten im Juni 2007 überdies nur rund 37.000 Personen eine Behandlung, bereits im Dezember 2006 jedoch hat die Weltgesundheitsorganisation die Zahl der Erwachsenen, die eine solche Behandlung benötigten, für das Jahr 2005 auf 75.000 bis 100.000 geschätzt.

Hinzu kommt vorliegend, dass mit einer bloßen antiretroviralen Behandlung dem Kläger nicht adäquat geholfen wäre, denn er befindet sich und benötigt nach fachärztlicher Stellungnahme eine sog. hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART), die strikt an die individuellen aktuellen Gesundheitszustände des Patienten anzupassen ist (vgl www.wikipedia.de zu hochaktive antiretrovirale Therapie).

Aufgrund der Notwendigkeit der individuellen und aktuellen Abstimmung der Therapie auf den Gesundheitszustand des Klägers scheidet von vornherein die Möglichkeit aus, ihm - selbst wenn das entgegen den kamerunischen Einfuhrbestimmungen zugelassen würde - Medikamente für einen gewissen Zeitraum mitzugeben. Jedwede Therapie-Reaktion auf Änderungen der Umgebung mit der Folge, dass nicht die in Deutschland "typischen", sondern die für Kamerun typischen Infektionen den Kläger befallen, dessen Immunsystem nach den aktuellen Unterlagen nahezu vollständig zusammengebrochen ist, wäre dann nach Überzeugung des Gerichts ausgeschlossen, denn weder stünde hinreichend Technik und Geld zur Bestimmung der notwendigen medizinischen Parameter zu einer auch nur ansatzweise adäquaten Behandlung zur Verfügung, noch ist ersichtlich, dass ggf. erforderliche und theoretisch zur Verfügung stehende Medikamente für den Kläger kostenlos und rechtzeitig beschafft werden könnten. Darüber hinaus ist der Kläger - wie bereits ausführlich dargelegt - nicht nur aufgrund seines derzeitig extrem reduzierten Gesundheitszustandes, sondern auch und insbesondere wegen seiner verminderten intellektuellen Fähigkeiten in einer für ihn völlig fremden Umgebung (denn er müsste sich in einer der Großstädte Kameruns aufhalten) nicht in der Lage, sich auch nur um das Notwendigste zuverlässig selbst zu kümmern.