LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.11.2006 - L 14 B 963/06 AS ER - asyl.net: M13016
https://www.asyl.net/rsdb/M13016
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Grundsicherung für Arbeitssuchende, Unionsbürger, Arbeitssuche, Arbeitnehmerbegriff, geringfügige Beschäftigung, Arbeit auf Abruf
Normen: SGG § 86b Abs. 2; SGB II § 7 Abs. 1 S. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1
Auszüge:

Die zulässige (§§ 172, 173 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]) Beschwerde des Antragstellers hat auch in der Sache Erfolg.

Er hat mit der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 86b Abs. 2 SGG) erforderlichen, aber auch ausreichenden Gewissheit die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II) glaubhaft gemacht.

Der Leistungsanspruch des Antragstellers entfällt auch nicht aufgrund der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II, wonach "Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, (ausgenommen sind)". Das Aufenthaltsrecht des Antragstellers ergibt sich nicht "allein aus dem Zweck der Arbeitssuche". Es mag sein, dass er ursprünglich – auch – zu diesem Zweck nach Deutschland eingereist ist. Er hat danach aber eine – wenn auch vermutlich nicht in erster Linie angestrebte – Arbeit aufgenommen, nämlich eine Arbeit als Hilfskraft bei einer Gebäudereinigung. Aufgrund dessen hat er als "Arbeitnehmer" und Staatsangehöriger I – unabhängig davon, ob er weiterhin eine andere (oder weitere) Arbeit sucht – ein Recht auf Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU).

Dieses Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer besteht ungeachtet dessen, dass der Antragsteller nur eine geringfügige Beschäftigung (i.S.d. § 8 Abs. 1 Nr. 1 des Vierten Buchs des Sozialgesetzbuchs [SGB IV)] – "Minijob") vereinbart hat und ausübt. Im Freizügigkeitsgesetz/EU findet sich keine Bestimmung, wonach "Arbeitnehmer" i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU nur ein mehr als geringfügig Beschäftigter wäre. Dies ergibt sich auch nicht aus einer Auslegung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften. Danach ist als "Arbeitnehmer" i.S.d. (europäischen) Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (die das Freizügigkeitsgesetz/EU umsetzt) auch anzusehen, wer eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt, mit der er weniger verdient, als im betreffenden Mitgliedstaat als Existenzminimum angesehen wird, vorausgesetzt, er übt tatsächlich eine echte Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis aus. Außer Betracht bleiben – lediglich – "Tätigkeiten , die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen" (Urteile vom 23. März 1982 – Rs. 53/81, Levin gg. Staatssecretaris van Justitie –, Slg. S. 1035, Randnr. 17 und 18 sowie vom 26. Februar 1992 – Rs. C-357/89, Raulin gg. Minister van Onderwijs en Wetenschapen –, Slg. S. I-1027, Randnr. 13). Dafür kann ein Anhaltspunkt sein, dass die betreffende Person nur sehr wenige Stunden gearbeitet hat; ggfl. ist auch der Umstand zu berücksichtigen, dass sich der Betroffene zur Arbeit auf Abruf des Arbeitgebers zur Verfügung halten muss (Urteil vom 26. Februar 1992, a.a.O., Randnr. 14).

Die vom Antragsteller ausgeübte Beschäftigung ist nicht als "völlig untergeordnet und unwesentlich" anzusehen. Er erbringt – auf der Grundlage eines schriftlich abgeschlossenen und bislang offenbar nicht gekündigten – Arbeitsvertrags Arbeitsleistungen, die für den Arbeitgeber, dessen Weisungen er unterliegt, einen wirtschaftlichen Wert haben. Dass das vom Antragsteller dadurch erzielte bzw. zu erzielende Arbeitsentgelt nicht zur Sicherung seines Lebensunterhalts ausreicht, ist nach der beschriebenen und bei der Auslegung des Freizügigkeitsgesetzes/EU zu beachtenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ebenso unerheblich wie der Umstand, dass die Beschäftigung i.S.d. deutschen Sozialversicherungsrechts "geringfügig" ist, d.h. nicht der Versicherungspflicht unterliegt; im Übrigen sind dessen ungeachtet – wenn auch möglicherweise zu Unrecht – jedenfalls ab Januar 2006 Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung (sowie eine "Pauschsteuer") vom Arbeitslohn einbehalten worden.

Auch steht der Eigenschaft des Antragstellers als "Arbeitnehmer" nicht entgegen, dass er von Juli bis Dezember 2005 augenscheinlich durchschnittlich weniger als 40 und danach nur etwas mehr als 30 Stunden im Monat und ab April 2006 sogar in der Tat "nur sehr wenige Stunden" gearbeitet hat und dass der Arbeitsvertrag – da eine bestimmte Zahl von Arbeitsstunden nicht vereinbart ist – wohl so zu verstehen ist, dass er "Arbeit auf Abruf" zu leisten hat. Abgesehen davon, dass der Antragsteller glaubhaft gemacht hat, dass er sich um Zuweisung von mehr Arbeitsstunden – vergeblich – bemüht hat, gilt in diesem Fall ("Arbeit auf Abruf" ohne Vereinbarung einer bestimmten Dauer der Arbeitszeit) nach § 12 Abs. 1 Satz 3 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG), das auch für geringfügig Beschäftigte Anwendung findet (§ 2 Abs. 2 TzBfG), eine Arbeitszeit von zehn Stunden wöchentlich als vereinbart, mit der Folge eines entsprechenden Beschäftigungs- und Vergütungsanspruchs des Antragstellers; davon abweichende Regelungen sieht der (allgemeinverbindliche) Rahmentarifvertrag für die gewerblichen Beschäftigten in der Gebäudereinigung vom 4. Oktober 2003 nicht vor.

Dass der Antragsteller diese Ansprüche – aus (bei der Antragsgegnerin offenbar ebenfalls bestehender) Unkenntnis oder aus Sorge um den Bestand des Arbeitsverhältnisses – nicht durchsetzt, ist in diesem Zusammenhang unerheblich.