VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20.09.2001 - A 14 S 2130/00 - asyl.net: M1302
https://www.asyl.net/rsdb/M1302
Leitsatz:

Für Angehörige der Roma/Ashkali [aus dem Kosovo], denen nach dem Erlass des Innenministeriums Baden-Württemberg vom 19.09.2001 eine Duldung zu erteilen ist, besteht danach kein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebehindernisses nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG (im Anschluss an das Urteil des Senats vom 11.04.2001 - A 14 S 1850/00 - und BVerwG, Urt. v. 12.07.2001 - 1 C 2.01 -, DVBl. 2001, 1531).

Schlagwörter: Jugoslawien, Kosovo, Albaner, Roma, Ashkali, Folgeantrag, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Gefahrenbegriff, Auslegung, Allgemeine Gefahr, Abschiebungsstopp, Erlasslage, Extreme Gefahrenlage, EGMR, Rechtsprechung, Klage, Zulässigkeit, Rechtsschutzbedürfnis
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1; AuslG § 53 Abs. 6 S. 2; AuslG § 54; AuslG § 55
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat die - vorliegend allein noch streitigen - Ansprüche der Kläger auf Feststellung eines Abschiebehindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG im Ergebnis zu Recht verneint.

Die auf Feststellung eines derartigen Abschiebehindernisses gerichteten Klaganträge sind allerdings zulässig. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich bei den Klägern um albanische Volkszugehörige handelt, wie diese in früheren Asylverfahren angegeben hatten, oder sie - ihrem späteren Vortrag vor dem Verwaltungsgericht entsprechend - dem Volke der Ashkali/Madjup zugehören. Im Falle einer albanischen Volkszugehörigkeit bestehen - nach Abweisung der Klagen auf Anerkennung als Asylberechtigte und Abschiebeschutz gemäß § 51 AuslG - gegen die Zulässigkeit der auf die Feststellung eines Abschiebehindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG gerichteten Klagen ohnehin keine Bedenken. Sollten die Kläger aber, was dahinstehen kann, der Minderheit der Ashkali zuzurechnen sein, würde der Zulässigkeit dieser Klaganträge auch nicht entgegenstehen, dass nach der für Baden-Württemberg geltenden Erlasslage (Erlasse des Innenministers v. 17.04.2000, v. 30.05.2001 und v. 19.09.2001 - AZ 4-13 JUG/90 -) gegenüber Angehörigen nichtalbanischer Minderheiten aus dem Kosovo keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vorgesehen, sondern vielmehr Duldungen - derzeit zunächst bis 30.11.2001 - zu erteilen sind. Das hierdurch den Angehörigen von Minderheiten - und mithin auch Volkszugehörigen der Ashkali/Madjup - vermittelte Bleiberecht im Bundesgebiet ließe das Rechtsschutzinteresse für die von den Klägern erhobenen Klagen auf Feststellung der Voraussetzungen der § 53 Abs. 6 AuslG allenfalls dann entfallen, wenn die Kläger auf Grund dieser Erlasslage bereits eine bessere Rechtsstellung inne hätten, als sie ihnen durch ihre Klagen auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG vermittelt werden könnte (vgl. hierzu BVerwG, Urteile v. 12.07.2000 - 1 C 5.01 -, UA S. 7; - 1 C 2.01 -, DVBI. 2001, 1531 f.). Dies ist jedoch nicht der Fall, wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 11.04.2001 - A 14 S 1850/00 -, UA S. 18 f. dargelegt hat.

Die Klagen sind aber nicht begründet. Den Klägern steht der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 AuslG nicht zu. Im Fall der Zugehörigkeit der Kläger zur Volksgruppe der Albaner - entsprechend ihrem Vorbringen in den früheren Asylverfahren - folgt dies bereits daraus, dass die Anspruchsvoraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt sind. Der Senat hat bereits durch Urteile vom 17.03.2000 (A 14 S 1167/98), vom 30.03.2000 (A 14 S 2047/99) und vom 28.04.2000 (A 14 S 2559/98) entschieden, dass Angehörige der Volksgruppe der Albaner im Kosovo hinreichend sicher vor individueller und kollektiver politischer Verfolgung durch ihren Heimatstaat sind und ihnen dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, die ihrer Intensität nach einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen. Daneben wurde, was hier von Bedeutung ist, auch bereits entschieden, dass für Angehörige der albanischen Volksgruppe von spezifischen individuellen Besonderheiten abgesehen im Falle der Rückkehr regelmäßig auch keine Gefahren im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bestehen, die einen Abschiebungsschutz nach dieser Vorschrift begründen würden. Hieran hält der Senat auch nach erneuter Überprüfung fest.

Bei einer Zugehörigkeit der Kläger zur Volksgruppe der Ashkali/Madjup, von der hier alternativ ausgegangen wird, besteht der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines Abschiebeschutzes nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ebenfalls nicht. Denn auf die für Angehörige dieser Minderheiten im Kosovo bestehende Gefährdung könnten sich die Kläger wegen der Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht berufen. Auch gebieten die Grundrechte vorliegend nicht, diese Sperrwirkung in verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG zu durchbrechen, weil wegen der bereits erwähnten Erlasslage und des hierdurch für Angehörige dieser Minderheiten begründeten Bleiberechts eine dies rechtfertigende verfassungswidrige Schutzlücke nicht besteht.

Soweit die Kläger geltend machen, als Angehörige der ethnischen Minderheit der Ashkali/Madjup im Kosovo Übergriffen der albanischen Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt zu sein, berufen sie sich nicht auf eine ihnen allein drohende individuelle Gefährdung, sondern auf eine Gefährdung, der nach ihren Worten die gesamte Bevölkerungsgruppe der Ashkali/Madjup im Kosovo unterliegt. Damit liegen aber insoweit die gesetzlichen Voraussetzungen des Anspruchs nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht vor, da diese Vorschrift nur dann Anwendung findet, wenn es sich um eine dem Ausländer persönlich konkret und in individualisierter Weise drohende Gefährdung handelt. Nach der ausdrücklichen Regelung in § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG ist die Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kraft Gesetzes gesperrt, wenn die dem einzelnen Ausländer konkret drohende Gefahr Ausdruck einer allgemeinen Gefahrenlage ist, der nicht nur er, sondern eine ganze Bevölkerungsgruppe ausgesetzt ist. Für diesen Fall sieht das Gesetz keinen individuellen Abschiebeschutz vor, sondern stellt es in das politische Ermessen der obersten Landesbehörde, dieser Gefahrenlage durch eine Anordnung nach § 54 AuslG Rechnung zu tragen. Eine die Abschiebung der Kläger hindernde, wirksame Anordnung der obersten Landesbehörde im Sinne des § 54 AuslG besteht im Fall der Kläger nicht.

Das Fehlen einer - wirksamen - Anordnung der obersten Landesbehörden nach § 54 AuslG bedeutet jedoch nicht, wie der Senat bereits mit Urteil vom 11.04.2001 - A 14 S 1850/00 - entschieden hat, dass bei Bestehen einer extremen Gefahrenlage die Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG deshalb grundsätzlich durchbrochen und bei Vorliegen dieser Voraussetzung auch den Klägern nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG Abschiebeschutz zu gewähren wäre. Denn die hierfür erforderliche verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift kommt nur dann in Betracht, wenn die Beachtung der in §§ 53 Abs. 6 Satz 2, 54 AuslG geregelten ausschließlichen Verantwortlichkeit der obersten Landesbehörden für den Schutz der Ausländer vor allgemeinen Gefahrenlagen im Heimatland im konkreten Fall eine verfassungswidrige, mit den Grundrechten in Art. 1 und 2 GG unvereinbare Schutzlücke aufreißen würde. Die Durchbrechung der Sperrwirkung ist mit anderen Worten nur dann zulässig, um eine sonst drohende, mit Verfassungsrecht unvereinbare Abschiebung zu verhindern. Eine Durchbrechung der Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG setzt danach nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 12.07.2001 - 1 C 2.01 -, DVBI. 2001, 1531 1533>) voraus, dass der einzelne Asylbewerber andernfalls gänzlich schutzlos bliebe, d.h. seine Abschiebung in den gefährlichen Zielstaat ohne Eingreifen des Bundesamts tatsächlich vollzogen würde. Es genügt allerdings auch, dass der Abschiebung andere, nicht unter §§ 53, 54 AuslG fallende Hindernisse entgegenstehen, sofern diese keinen gleichwertigen Schutz bieten. Als gleichwertig in diesem Sinne ist ein anderweitiger Schutz nur dann anzusehen, wenn er der Rechtsposition entspricht, die der Ausländer bei Vorliegen eines Erlasses nach § 54 oder bei Feststellung eines Abschiebehindernisses nach § 53 Abs. 1 Satz 1 AuslG inne hätte. Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze besteht für eine verfassungskonforme Durchbrechung der Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG hier keine hinreichende Rechtfertigung, weil die Kläger, falls es sich bei ihnen um Ashkali/Madjup handelt, wie unterstellt wird, durch die in Baden-Württemberg für Minderheiten aus dem Kosovo geltende Erlasslage gleich wirksam vor Abschiebung geschützt sind wie durch die von ihnen erstrebte Feststellung der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG oder durch eine Anordnung nach § 54 AuslG.

Die hierauf beruhende Verneinung des geltend gemachten Anspruchs auf Feststellung eines Abschiebehindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG verstößt entgegen der Ansicht der Kläger auch nicht gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR -, insbesondere auch nicht gegen die von den Klägern genannte Entscheidung vom 07.03.2000 (InfAuslR 2000, 321). Hieraus lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass den Klägern ungeachtet des ihnen bereits durch die Erlasslage vermittelten Bleiberechts ein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 AuslG zusteht. Fehl geht auch der weitere Einwand der Kläger, die vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene verfassungskonforme Auslegung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG und die danach geforderten strengen Anspruchsvoraussetzungen für die Annahme eines Abschiebeschutzes nach dieser Vorschrift widersprächen Art. 3 EMRK und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Auf die hiermit aufgeworfene Problematik kommt es vorliegend nämlich schon deshalb nicht an, weil § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, wie dargelegt, keine Anwendung findet.

Der Einwand der Kläger greift im Übrigen aber auch in der Sache nicht durch. Denn wenngleich es zutrifft, dass das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 12.07.2001 - 1 C 2.01 -, DVBI. 2001, 1531 1532>) bei verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG für das Bestehen eines Abschiebehindernisses eine extreme Gefährdung voraussetzt und damit einen strengeren Maßstab aufstellt als den, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung (Urt. v. 29.04.1997, InfAuslR 1997, 333) für einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK als ausreichend ansieht ("tatsächliches Risiko einer Konventionsverletzung"), liegt der behauptete Widerspruch in der Sache nicht vor. Insoweit verkennen die Kläger, dass Art. 3 EMRK auf eine nichtstaatliche Verfolgung, wie sie hier in Frage steht, schon gar keine Anwendung findet. Die gegenteilige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat nicht ohne Weiteres Vorrang vor der der innerstaatlichen Gerichte. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 16.12.1999 - 4 CN 9.98 -, InfAuslR 2000, 171) hat ein Gericht, das von der gefestigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abweichen will, die Argumentationslast dafür, dass seine abweichende Auslegung der EMRK die besseren Gründe für sich hat. Wie aber bereits Rittstieg (InfAuslR 2000, 176) in einer Anmerkung zu diesem Urteil feststellt, lässt das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.04.1997 (InfAuslR 1997, 341), mit dem entgegen der Rechtsprechung des EGMR an der Eingrenzung des Art. 3 EMRK auf staatliche Verfolgung festgehalten wird, keinen Zweifel daran, dass das Bundesverwaltungsgericht sich aus den dort genannten Gründen zu einer abweichenden Auslegung des Art. 3 EMRK berechtigt ansieht. Soweit die von den Klägern gerügten unterschiedlichen Maßstäbe der vorgenannten Gerichte bei der Beurteilung eines Abschiebehindernisses nach § 53 AuslG die nichtstaatliche Verfolgung - wie hier - betreffen, ist eine etwaige Abweichung insoweit unbeachtlich, weil es nach der Rechtsansicht des Bundesverwaltungsgerichts, der sich der Senat bereits früher angeschlossen hat, bereits an einer konventionsrechtlichen Zuständigkeit des EGMR für diesen Verfahrensgegenstand fehlt. Der in der Rechtsprechung des EGMR angewandte Maßstab gibt deshalb vorliegend keine Veranlassung zu einer andersartigen Entscheidung.