VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 12.03.2008 - AN 1 K 07.30561 - asyl.net: M13041
https://www.asyl.net/rsdb/M13041
Leitsatz:

Trotz der Reformen in der Türkei besteht weiterhin beachtliche Verfolgungsgefahr für Kurden, die wegen hervorgehobenen exilpolitischen Engagements von der Türkei als Aktivisten der PKK angesehen werden könnten.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Ermessen, Übergangsregelung, Altfälle, exilpolitische Betätigung, PKK, Überwachung im Aufnahmeland, Menschenrechtslage, Reformen, politische Entwicklung, Änderung der Sachlage, Streitwert, Zuwanderungsgesetz
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 1; RVG § 30 S. 1
Auszüge:

Trotz der Reformen in der Türkei besteht weiterhin beachtliche Verfolgungsgefahr für Kurden, die wegen hervorgehobenen exilpolitischen Engagements von der Türkei als Aktivisten der PKK angesehen werden könnten.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 16. Oktober 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).

Entgegen der Rechtsauffassung der Bevollmächtigten des Klägers war die Beklagte allerdings nicht verpflichtet, gemäß § 73 Abs. 2 a) Satz 4 AsylVfG im Ermessenswege über den Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu entscheiden.

Das Bundesverwaltungsgericht klärte zunächst, dass sich diese Vorschrift nicht auf solche Altfälle bezieht, in denen bei Inkrafttreten der Bestimmung bereits ein Widerruf erfolgt war (BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21/04, BayVBl 2006, 409). In einer weiteren Entscheidung brachte das Bundesverwaltungsgericht zum Ausdruck, dass § 73 Abs. 2 a AsylVfG grundsätzlich auch für den nach dem 1. Januar 2005 ausgesprochenen Widerruf einer vor diesem Zeitpunkt unanfechtbar gewordenen Anerkennung mit der Maßgabe gilt, dass die dort in Satz 1 vorgesehene neue Drei-Jahres-Frist, nach deren Ablauf das Bundesamt spätestens erstmals die Widerrufsvoraussetzungen prüfen muss, bei diesen Alt-Anerkennungen erst vom 1. Januar 2005 an zu Laufen beginnt. Dies bedeute allerdings nicht, dass nach Ablauf von drei Jahren seit Unanfechtbarkeit der Anerkennung ein Widerruf nur noch im Wege einer für den Anerkannten günstigeren Ermessensentscheidung getroffen werden könne und dürfe. Denn eine Ermessensentscheidung komme bei derartigen Alt-Anerkennungen nach dem in § 73 Abs. 2 a AsylVfG vorgesehenen neuen zweistufigen Verfahren erst in Betracht, wenn das Bundesamt in einem vorangegangenen Verfahren die Widerrufsvoraussetzungen sachlich geprüft und verneint hat (BVerwG, Urteil vom 20.3.2007 - 1 C 21/06, BayVBl 2007, 632).

Nach Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (Beschluss vom 4.7.2007 - 23 B 07.30069, die Revision gegen die Entscheidung wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 6.12.2007 - 10 B 146/07, 10 B 146/07 zugelassen) folgt hieraus, dass das Bundesamt zwingend eine Ermessensentscheidung im Widerrufsverfahren zu treffen hat, wenn es bereits früher, selbst vor dem 1. Januar 2005, eine sachliche Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen durchgeführt, deren Vorliegen mit schriftlicher Begründung verneint und die getroffene Negativentscheidung der zuständigen Ausländerbehörde mitgeteilt hat.

Vorliegend hat eine derartige Überprüfung durch die Beklagte und anschließende Mitteilung des Ergebnisses an die Ausländerbehörde jedoch nicht stattgefunden. Der Behördenakte ist lediglich zu entnehmen, dass das Schreiben der ... vom 17. Januar 1997, mit welchem die Prüfung erbeten wurde, ob ein Widerrufsverfahren eingeleitet werden kann, bei der Beklagten eingegangen, dann aber offensichtlich nicht mehr bearbeitet worden ist. Eine sachliche Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen hat demnach vor Einleitung des streitgegenständlichen Widerrufsverfahrens nicht stattgefunden.

Dem Widerruf der mit Bescheid vom 15. Februar 1994 getroffenen Feststellung, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a. F. (hinsichtlich der Türkei) vorliegen, steht jedoch die Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 9.11.1993 - 5 A 5210/92 entgegen.

Das Verwaltungsgericht Braunschweig hat in seinem rechtskräftigen Urteil vom 9. November 1993 ausgeführt, angesichts der Vielzahl der stattfindenden Aktivitäten sei die Kammer der Überzeugung, dass die Gefahr einer Verfolgung in der Türkei nur bei herausgehobenen Aktivitäten, also bei größerem und öffentlichkeitswirksamen Engagement und/oder einer Betätigung an führender Position gegeben sei. Im Falle des Klägers sehe es die Kammer als bewiesen an, dass dieser sich in der oben geschriebenen Art und Weise exilpolitisch betätigt hat. Der Kläger habe im Einzelnen unter Überreichung von Fotos und Zeitungsausschnitten dargelegt, dass er an Solidarveranstaltungen für ein freies Kurdistan in ... bzw. ... teilgenommen habe und bei diesen öffentlichen, vor einem größeren Publikum stattfindenden Veranstaltungen als Sänger und Saz-Spieler aufgetreten sei.

Eine entscheidungserhebliche Änderung der Verhältnisse, welche nunmehr eine andere Bewertung rechtfertigen könnte, als sie dem rechtskräftigen Urteil vom 9. November 1993 zu Grunde lag, ist nicht eingetreten.

Auch nach Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichts Braunschweig hat der Kläger seine exilpolitische Tätigkeit zumindest bis zum Jahr 2003 vorgesetzt. Nach den Feststellungen des Landgerichts ... im Urteil vom 22. Januar 1998 war der Kläger jedenfalls bis zum Jahr 1995 als Stadtteilverantwortlicher für ... in ... für die verbotene PKK tätig und wurde deshalb rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt.

Generell ist bekannt, dass der türkische Geheimdienst MIT auch in Deutschland oppositionelle Gruppierungen beobachtet. Neben der Auswertung von Zeitschriften (z.B. der dem KONGRA-GEL nahe stehenden "Özgür Politika") wird offenbar versucht, mit nachrichtendienstlichen Mitteln weitere Erkenntnisse zu einschlägigen Veranstaltungen zu erlangen, wobei eine Identifizierung der Teilnehmer im Vordergrund zu stehen scheint (vgl. Hessisches Landesamt für Verfassungsschutz vom 4.3.2005 an das VG Darmstadt; Kamil Taylan vom 26.6.2004 an das VG Frankfurt/Oder). Hiervon ausgehend ist das erkennende Gericht überzeugt, dass die türkischen Behörden über die PKK-nahen exilpolitischen Aktivitäten des Klägers als ehemaligem Stadteilverantwortlichen der PKK in ... informiert sind. Trotz der in den letzten Jahren durchgeführten Reformen in der Türkei, im Zuge derer u.a. am 1. Juni 2005 ein neues Strafgesetzbuch in Kraft getreten ist (vgl. im einzelnen die Darstellung in den Lageberichten vom 11.11.2005 und vom 25.10.2007), ist unverändert davon auszugehen, dass für kurdische Volkszugehörige aus der Türkei, die sich – wie der Kläger – besonders exilpolitisch exponiert haben, und deshalb in der Türkei als Aktivist der PKK angesehen werden können, in der Türkei die Gefahr politischer Verfolgung besteht (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 18.7.2006 - 11 LB 75/06; Urteil vom 11.10. 2000 - 2 L 4591/94; OVG Berlin, Urteil vom 25.9.2003 - 6 B 8.03; Hessischer VGH, Urteile vom 22.9.2003 - 12 UE 2351/02.A, vom 5.8.2002 - 12 UE 2172/99.A und vom 7.12.1998 - 12 UE 232/97; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.2.2004 - 15 A 4205/02.A; Urteile vom 27.6.2002 - 8 A 4782/99.A und vom 25.1.2000 - 8 A 1292/96.A; OVG Thüringen, Urteil vom 29.5.2002 - 3 KO 540/97; OVG Magdeburg, Beschluss vom 8.11.2000 - A 3 S 657/98; VHG Mannheim, Beschluss vom 14.9.2000 - A 12 S 1231/99).

Die verbotene PKK und KONGRA-GEL werden in der Türkei als terroristische Organisationen eingestuft (vgl. Seraffetin Kaya vom 10.9.2005 an das VG Sigmaringen). Auch in Anbetracht der in den letzten Jahren durchgeführten Reformen in der Türkei kann zur Überzeugung des erkennenden Gerichts in Anknüpfung an die zitierte obergerichtliche Rechtsprechung nicht ausgeschlossen werden, dass die türkischen Behörden bei einer Rückkehr der Klägers in die Türkei dessen exilpolitische Betätigung für die verbotene PKK und KONGA-GEL zum Anlass nehmen werden, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren einzuleiten. Ermittlungen und Verhöre, die Terrororganisationen wie die PKK und ihre Nachfolgeorganisationen betreffen, werden für gewöhnlich von der Abteilung zur Bekämpfung des Terrors durchgeführt. Sollte der Kläger nach seiner Rückkehr oder auch erst in den nachfolgenden Wochen wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK festgenommen werden, so kann – ungeachtet der bereits umgesetzten Reformen in der Türkei – nicht ausgeschlossen werden, dass bei Verhören physischer oder psychischer Zwang eingesetzt wird (vgl. Serafettin Kaya vom 8.8.2005 an das VG Sigmaringen und vom 10.9.2005 an das VG Magdeburg; Helmut Oberdiek vom 2.8.2005 an das VG Sigmaringen) oder dass es zu einem Strafverfahren kommt, das rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügt (vgl. Helmut Oberdiek, Zur Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren in der Türkei, zitiert in der Mitteilung von amnesty international vom 22.2.2006).

Zwar hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nach Feststellung des Europäischen Rates hinreichend erfüllt. So sind nachdrückliche Anstrengungen unternommen worden, die Anwendung von Folter zu unterbinden. Dennoch kann nicht ohne Einschränkung davon ausgegangen werden dass eine menschenrechtswidrige Behandlung durch türkische Sicherheitsorgane in der Praxis unterbleibt (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 14.9.2006 - 11 LA 43/06; Urteil vom 18.7.2006 - 11 LB 264/05; OVG NRW, Urteil vom 14.2.2006 - 15 A 2202/00.A ; zu den Reformbemühungen und zur fortbestehenden Rückkehrgefährdung vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 19.4.2005 - 8 A 273/04.A; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29.11.2004 - 3 L 66/00; vgl. auch Serafettin Kaya vom 8.8.2005 an das VG Sigmaringen und vom 10.9.2005 an das VG Magdeburg, S. 8; Helmut Oberdiek vom 2.8.2005 an das VG Sigmaringen).

Von einer entscheidungserheblichen Änderung der Sachlage oder Rechtslage im Hinblick auf die Beurteilung der möglichen Folgen der exponierten exilpolitischen Tätigkeiten des Klägers als Voraussetzung für eine Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 9. November 1993 kann somit (noch) nicht gesprochen werden (vgl. VG Oldenburg, Urteil vom 4.10.2007 - 5 A 4386/06; VG Düsseldorf, Urteile vom 22.3.2007 - 4 K 172/07.A; vom 24.1.2007 - 20 K 4697/05.A; vom 19.9.2006 - 26 K 3635/06.A, vom 28.6.2006 - 20 K 5937/04.A und vom 12.5.2006 - 26 K 1715/06.A.; VG Berlin, Urteil vom 13.10.2006 - VG 36 X 67.06).

Der Gegenstandswert beträgt 1.500,– EUR.

Aus dem Gesetzeswortlaut, der eindeutig und keiner anderen Auslegung fähig ist (vgl. zu den Grenzen der Auslegung eines Gesetzes: BVerwG, Urteil vom 29.6.1992 - 6 C 11.92, BVerwGE 90, 265, 269), folgt, dass der Gegenstandswert nur dann auf 3.000.EUR festzusetzen ist, wenn – anders als im vorliegenden Fall – der Rechtsstreit (zumindest auch) die Asylanerkennung betrifft. Ist dies nicht der Fall, liegt ein sonstiges Klageverfahren im Sinne des § 30 Satz 1 Hs. 2 RVG mit einem Gegenstandswert von 1.500,– EUR vor.

Zwar hat der Gesetzgeber mit dem am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz (BGBl I, S. 1950) den Status des Asylberechtigten (Art. 16 a GG) und den Status als anerkannter Flüchtling (§ 60 Abs. 1 AufenthG) weitgehend einander angeglichen. Jedoch hat der Gesetzgeber hieraus – bezogen auf den Gegenstandswert – keine weiteren Konsequenzen gezogen, obwohl er § 30 Abs. 1 RVG mit Gesetz vom 22. Dezember 2006 (BGBl I., S 3416) geändert, nämlich den Passus "§ 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes" durch "§ 60 des Aufenthaltsgesetzes" ersetzt hat. Dies kann nur dahingehend verstanden werden, dass es der Gesetzgeber hinsichtlich des Gegenstandswertes bei der bisherigen Regelung und deren Auslegung durch das Bundesverwaltungsgericht (vgl. Beschluss vom 20.1.1994 - 9 B 15.94, DÖV 1994, 537) belassen wollte (ebenso: OVG Münster, Beschlüsse vom 4.12.2006 - 9 A 4128/06.A, vom 14.2.2007 - 9 A 4126/06.A und vom 17.7.2007 - 15 A 2119/02.A; OVG Schleswig, Beschlüsse vom 1.8.2007 - 1 OG 3/07 und vom 2.3.2007 - 1 LB 65/03; VG Frankfurt a.M., Beschlüsse vom 15.10.2007 - 8 J 2456/07.AO (2) und vom 26.1.2007 - 8 J 5863/06.A(1); VG Lüneburg, Beschluss vom 30.8.2007 - 2 A 124/05; VG Karlsruhe, Beschluss vom 9.3.2007 - A 7 10897/05; VG Aachen, Beschluss vom 26.3.2007 - 7 K 1621/05.A; VG Göttingen, Beschluss vom 26.3.2007- 2 A 88/05; VG Oldenburg, Beschluss vom 26.3.2007 - 4 A 3057/05; VG Köln, Beschluss vom 28.3.2007 - 4 K 5023/05.A; VG Düsseldorf, Beschluss vom 11.4.2007 - 26 K 6088/06.A; VG Minden, Beschluss vom 23.4.2007 - 10 K 2565/06.A; VG Würzburg, Beschluss vom 2.5.2007 - W 7 M 07.30084; a.A.: BVerwG, Urteil vom 12.6.2007 - 10 C 24/07, NVwZ 2007, 1330; Beschlüsse vom 21.12.2006 - 1 C 29.03 und vom 14.2.2007 - 1 C 22/04; BayVGH, Beschlüsse vom 27.07.2007 - 23 B 07.30359, vom 12.2.2007 - 23 B 06.30694, vom 16.5.2007 - 23 ZB 07.30075; OVG Koblenz, Beschluss vom 15.12.2006 - 10 A 10785/05.OVG; VG Köln, Beschluss vom 3.9.2007 - 18 K 1585/06.A; VG Magdeburg, Beschluss vom 12.2.2007 - 8 A 497/98 MD; VG Mainz, Beschluss vom 12.3.2007 - 4 K 481/05.MZ; VG Stade, Beschluss vom 12.3.2007 - 4 A 1938/05; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 26.3.2007 - 14a 1885/06.A).