VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 04.03.2008 - 18 V 70.06 - asyl.net: M13055
https://www.asyl.net/rsdb/M13055
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Familienzusammenführung, Kindernachzug, Sprachkenntnisse, Integration, Zukunftsprognose, Sorgerecht, Türkei, Türken, Scheidung, Stillhalteklausel, Assoziationsabkommen EWG/Türkei
Normen: AuslG § 20 Abs. 4; AufenthG § 32 Abs. 1 Nr. 2; AufenthG § 32 Abs. 4
Auszüge:

Der Kläger hat weder einen Anspruch nach dem Ausländergesetz (I.) noch nach dem Aufenthaltsgesetz (II.) auf Erteilung des begehrten Visums. Auch aus zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei getroffenen Vereinbarungen ergibt sich dieser Anspruch nicht (III.).

I. Der Kläger hat schließlich auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 20 Abs. 4 AuslG. Nach dieser Vorschrift kann dem minderjährigen Kind eines Ausländers nach Maßgabe des § 17 AuslG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn das Kind die deutsche Sprache beherrscht oder gewährleistet erscheint, dass es sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann (Nr. 1) oder es auf Grund der Umstände des Einzelfalles zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist (Nr. 2). Die Entscheidung, ob von der Voraussetzung abgesehen werden kann, steht im pflichtgemäßen Ermessen der Beklagten, § 7 Abs. 1 AuslG. Schon die Tatbestandsvoraussetzungen des § 20 Abs. 4 Nr. 1 und 2 AuslG sind jedoch nicht erfüllt. Es ist weder ersichtlich noch nachgewiesen, dass der Kläger die deutsche Sprache im Sinne von § 20 Abs. 4 Nr. 1, 1. Alternative AuslG beherrscht. Dies ist nur dann gegeben, wenn er die deutsche Sprache sowohl mündlich wie auch schriftlich in einer Weise gebrauchen kann, die auch für Deutsche in einem vergleichbaren Alter als durchschnittlich zu bezeichnen wäre. Hierzu ist die Beherrschung des die Umgangssprache umfassenden Wortschatzes und die Fähigkeit zur Umsetzung dieses Wortschatzes im Gespräch sowie die Befähigung erforderlich, sich der deutschen Sprache schriftlich ohne gravierende orthographische Mängel zu bedienen (vgl. Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, § 20 AuslG, Rdnr. 95). Mit dem vom Kläger eingereichten Zeugnis über den erreichten Abschluss "Start Deutsch 1" vom 21. Februar 2008 ist dieser Nachweis nicht erbracht. Von einem Beherrschen der deutschen Sprache kann dabei noch nicht gesprochen werden. Eine Beherrschung der deutschen Sprache ist nur bei Sprachkenntnissen anzunehmen, die in etwa so gut sind wie durchschnittlich bei deutschen Kindern im gleichen Alter, also in etwa der Stufe C 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (vgl. w...) entsprechen. Von einem sechzehnjährigen Jugendlichen ist deshalb zu erwarten, dass er sich in Wort und Schrift weitgehend sicher in deutscher Sprache ausdrücken kann.

Der Kläger bietet auch nicht die Gewähr im Sinne von § 20 Abs. 4 Nr. 1, 2. Alternative AuslG, dass er sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Es ist schon nicht ersichtlich, dass der Kläger in seinem Heimatstaat eine die Eingliederung in Deutschland sichernde Ausbildung absolviert hat. Zeugnisse über einen erfolgreichen Schulabschluss liegen nicht vor. Ferner ist weder vorgetragen noch erkennbar, dass die Lebensumstände des Klägers in seinem Heimatort die Integration in Deutschland sichern kann. Der Kläger ist bisher ausschließlich im türkischen Sprach- und Kulturkreis sozialisiert. Er hat, soweit ersichtlich, keine Beziehung zur Bundesrepublik Deutschland. Eine Gewähr für die notwendige Integration besteht ohne den vorangegangenen Besuch einer deutschen Schule und ohne eine deutschsprachige Erziehung in der Regel ohnehin nicht (vgl. Kanein/Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 20 Rdnr. 16).

Auch ein besonderer Härtefall im Sinne des § 20 Abs. 4 Nr. 2 AuslG ist nicht gegeben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt eine besondere Härte dann vor, wenn sich die Lebensverhältnisse, die die Anwesenheit des Minderjährigen in seiner Heimat bisher ermöglicht haben, in einer unvorhergesehenen und unvorhersehbaren Weise ändern und der eingetretenen Notlage nur durch einen Nachzug des Minderjährigen begegnet werden kann; die eingetretene Veränderung muss wesentlich sein und den Minderjährigen ungleich schwerer treffen als andere Ausländer in vergleichbarer Lage (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Januar 1994 - 1 B 181/93 -, InfAuslR 1994, 183 f.; Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, § 20 AuslG, Rdnr. 100 m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, § 20 AuslG,Rdnr. 23). Solches ist vorliegend nicht ersichtlich. Die Lebensverhältnisse des Klägers in der Türkei haben sich nicht unvorhergesehen geändert. Vielmehr ist die Mutter des Klägers in Kenntnis der Tatsache, dass dem Kläger das beantragte Visum verweigert worden ist, in die Bundesrepublik Deutschland umgesiedelt und hat den Kläger in der Türkei zurückgelassen. Daraus ist zu schließen, dass der Kläger in seinem Heimatland entweder durch andere Familienangehörige betreut werden kann oder angesichts seines Alters eine familiäre Betreuung durch die Eltern nicht mehr für erforderlich gehalten wurde.

II. Das Aufenthaltsgesetz gewährt keine günstigere Rechtsstellung.

1. Ein Anspruch nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besteht nicht.

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Eltern des Klägers gemeinsam das Personensorgerecht innehaben oder die Mutter des Klägers weiterhin allein. Darauf kommt es hier jedoch nicht an, so dass auch der Beweisantrag des Klägers für die Behauptung, seine Mutter sei nach wie vor alleinige Inhaberin des Personensorgerechts, zurückzuweisen war.

a) Im Fall gemeinsamer Sorgeberechtigung der Eltern fehlt es bereits an der notwendigen Verlegung des Lebensmittelpunktes des Klägers gemeinsam mit seinen Eltern, so dass dahinstehen kann, ob die Norm auf den vorliegenden Fall überhaupt Anwendung findet.

b) Bestand die bei Scheidung getroffene Sorgerechtsentscheidung trotz der erneuten Eheschließung der Eltern des Klägers weiter und war die Mutter des Klägers der allein sorgeberechtigte Elternteil, kommt es zur Beurteilung eines möglichen Anspruchs des Klägers maßgeblich darauf an, ob der vorliegende Fall von der Norm des § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfasst ist.

Nach Auffassung des Gerichts ist dieses nicht der Fall. Das ergibt sich aus Folgendem: § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG steht zwar im Gesamtkontext des § 32 mit seiner Überschrift "Kindernachzug", er regelt hingegen keinen Fall des Nachzugs, sondern nur den Fall des Zuzugs (vgl. Renner, a.a.O., Rn. 8). Er umfasst deshalb nur die Fälle, in denen ein minderjähriges lediges Kind eines Ausländers zusammen mit seinen Eltern einen bereits im Ausland bestehenden gemeinsamen Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegt, d. h. wenn die gesamte Familie, bezogen auf den Kreis engster Familienangehöriger, also Eltern und Kinder, aus dem Ausland nach Deutschland zuzieht. Die auf den allein personensorgeberechtigten Elternteil abstellende Alternative kann deshalb keinen darüber hinausgehenden Regelungsgehalt haben. Sie erfasst deshalb nur diejenigen Fälle, in denen der noch bestehende Rest einer ehemaligen Familie, also ein Elternteil und Kinder, aus dem Ausland nach Deutschland zuzieht, ohne dass damit ein Nachzug zu einem bereits in Deutschland lebenden Familienmitglied bezweckt wird.

Ist aber, wie im vorliegenden Fall, beabsichtigt, den Familienverbund mit dem anderen, aktuell nicht sorgeberechtigten Elternteil, wiederherzustellen, greift § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht ein. Vielmehr richtet sich der Nachzug eines Minderjährigen, der das 16. Lebensjahr vollendet hat, in diesen Fällen allein nach § 32 Abs. 2 AufenthG. Diese Auslegung lässt sich dem Tatbestandsmerkmal der "gemeinsamen Verlegung des Lebensmittelpunktes" entnehmen, denn dieses geht davon aus, dass bereits ein gemeinsamer Lebensmittelpunkt der Familie besteht, der gemeinsam verlegt wird. Ist es aber so, dass ein Familienmitglied, auch wenn es nicht Inhaber des Sorgerechts ist, einen anderen Lebensmittelpunkt in Deutschland hat und die restlichen Familienmitglieder zu diesem Familienmitglied nachziehen wollen, entspricht diese Fallkonstellation nicht mehr dem Grundgedanken des § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Auch aus Nr. 31.1.3.6 der vorläufigen Anwendungshinweise (abgedruckt bei Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 32) ergibt sich diese Schlussfolgerung. Danach sind Voraufenthalte einzelner Familienmitglieder im Bundesgebiet oder in anderen Staaten zu Zwecken, die ihrer Natur nach vorübergehend sind oder der Verlegung des Lebensmittelpunktes in das Bundesgebiet dienen, wie etwa zur Wohnungs- oder Arbeitssuche oder zur vorübergehenden Einarbeitung, unbeachtlich. Dieser Hinweis würde ohne Sinn sein, wenn auch der vorliegende Fall, in dem der Kindesvater bereits seit längerem im Bundesgebiet lebt, von § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfasst wäre.

2. Ein Anspruch des Klägers auf Erteilung des begehrten Visums nach § 32 Abs. 2 AufenthG ist nicht gegeben, denn weder beherrscht der Kläger die deutsche Sprache noch erscheint gewährleistet, dass er sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Es kann hier auf die obigen Ausführungen zu § 20 Abs. 4 AuslG verwiesen werden, denn § 32 Abs. 2 AufenthG stellt keine wesentlich anderen Anforderungen als der frühere § 20 Abs. 4 Nr. 1 AuslG.

3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Erteilung des Visums nach § 32 Abs. 4 AufenthG. Danach kann dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es auf Grund der Umstände des Einzelfalls zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist, wobei das Kindeswohl und die familiäre Situation zu berücksichtigen sind. Die Vorschrift lehnt sich ersichtlich an die bisherige Härteklausel in § 20 Abs. 4 Nr. 2 AuslG an. Die Frage der Erforderlichkeit der Erteilung eines Aufenthaltstitels zu Vermeidung einer besonderen Härte ist im Rahmen des § 32 Abs. 4 AufenthG nicht anders zu beurteilen als nach § 20 Abs. 4 AuslG, so dass ebenfalls auf die obigen Ausführungen hierzu verwiesen wird.

III. Die sog. "Stand-Still-Klausel" (Art. 13 des Assoziierungsabkommens der EG mit der Türkei i. V.m. Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls) steht weder der Anwendung des § 20 AuslG noch der Anwendung des § 32 AufenthG entgegen. Denn entgegen der klägerischen Ansicht sind die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 20 AuslG, 32 AufenthG nicht neu eingeführte Erschwernisse gegenüber dem Rechtszustand bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls im Januar 1973. Die Stillhalteklausel begründet als solche weder ein Niederlassungs- noch ein Aufenthaltsrecht, welches sich unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht ergibt (Hailbronner, Ausländerrecht, Assoziation EWG-Türkei, Rn. 20).

Das vom 1. Oktober 1965 bis 31. Dezember 1990 geltende Ausländergesetz vom 28. April 1965 (BGBl. I S. 353) sah in § 2 Abs. 1 vor, dass Ausländer, die in den Geltungsbereich dieses Gesetzes einreisen und sich darin aufhalten wollen, einer Aufenthaltserlaubnis bedurften. Diese durfte erteilt werden, wenn die Anwesenheit des Ausländers Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigte. Nach Absatz 2 dieser Vorschrift benötigten u.a. nur Ausländer, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, keine Aufenthaltserlaubnis. Gemäß § 5 Abs. 1 der zum Ausländergesetz erlassenen Durchführungsverordnung vom 10. September 1965 (BGBl. I S. 1341) war die Aufenthaltserlaubnis vor der Einreise in der Form des Sichtvermerks u.a. von Ausländern einzuholen, die beabsichtigten, sich länger als drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten. Speziellere Regelungen für Fälle wie den hier vorliegenden existierten nicht.

Die vom Gesetzgeber sowohl im Ausländergesetz vom 9. Juli 1990 (BGBl. I S. 1354) als auch im seit 1. Januar 2005 geltenden Aufenthaltsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950), zuletzt geändert durch Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970), getroffenen Bestimmungen zur Einreise von Minderjährigen, die das 16. Lebensjahr bereits vollendet haben, stellen deshalb keine neuen Erschwernisse dar, sondern sind vielmehr, soweit das neue Recht nunmehr konkrete Ansprüche gewährt (vgl. § 32 Abs. 1 und 2 AufenthG), gegenüber der bisherigen Ermessensnorm wesentliche Verbesserungen oder, soweit die Erteilung weiterhin im Ermessen steht (vgl. § 32 Abs. 4 AufenthG), nur eine spezifische Ausprägung des bisher schon bestehenden Ermessens.

Ein Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus Art. 6 des Grundgesetzes oder aus Art. 8 EMRK.