VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 31.01.2008 - 10 A 405/06 - asyl.net: M13110
https://www.asyl.net/rsdb/M13110
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Alter, Hindus, Abschiebungsstopp, Erlasslage, alleinstehende Personen, Situation bei Rückkehr, Glaubwürdigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Kläger haben Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistan; insoweit ist der entgegenstehende Bescheid vom 27.04.2006 aufzuheben und die entsprechende Verpflichtung der Beklagten auszusprechen (§ 113 Abs. 5 VwGO).

1. Es kann dahinstehen, ob es überwiegend wahrscheinlich ist, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus individuellen Gründen ausgesetzt wären, § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (zur Anwendung dieses Prognosemaßstabes auch auf die Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG vgl. BVerwG, Beschl. v. 18.07.2001, 1 B 71/01 zu § 53 AuslG in juris).

Soweit die Kläger ihre gesundheitlichen Verhältnisse ins Feld führen und darauf gestützt geltend machen, ihnen drohten in Afghanistan Gefahren wegen fehlender oder unzureichender medizinischer Versorgung, würde es sich allerdings um eine Berufung auf eine individuelle Gefahr handeln, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist, und zwar ohne Verengung der Prüfung auf eine "lebensbedrohliche Situation" (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.2006, 1 C 18/05 sowie Beschl. v. 24.05.2006, 1 B 118/05 jeweils in juris m.w.N.).

2. Das kann jedoch auf sich beruhen, weil für die Kläger jedenfalls ein Abschiebungsverbot in entsprechender verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen ist.

a) Diese Feststellung ist nicht etwa von vornherein dadurch ausgeschlossen, dass eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG nicht in Betracht kommt, da ein Abschiebestopperlass oder eine andere ausländerrechtliche Erlasslage den Klägern einen vergleichbar wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelte (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.08.2006, 1 B 60/06 juris m.w.N.). Die im Oktober 2002 eingereisten Kläger fallen unter keinen derartigen Erlass und keine Bleiberechtsregelung. Für sie kommt daher grundsätzlich nach den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätzen (vgl. insbesondere Urt. v. 17.10.1995, 9 C 9/95; Urt. v. 19.11.1996, 1 C 6/95; Urt. v. 08.12.1998, 9 C 4/98; Urt. v. 27.04.1998, 9 C 13/97 alle in juris) über die Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG (jetzt § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine verfassungskonforme Anwendung von § 53 Abs. 6 AuslG (jetzt § 60 Abs. 7 AufenthG) in Fällen, in denen den Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extrem zugespitzte Gefahr droht, die Feststellung eines Abschiebeverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG in Betracht, obwohl sie sich zum Teil auf Allgemeingefahren (Gefährdung als mittellos zurückkehrende Hindus – zur Allgemeingefahr insoweit vgl. etwa OVG Hamburg, Urt. v. 27.06.2003, 1 Bf 46/03.A m.w. N.; Beschl. v. 07.12.2004, 1 Bf 429/04.A; Beschl. v. 11.08.2005, 1 Bf. 304/05.A) berufen.

b) Zu verneinen dürfte danach die erforderliche Extremgefahr allerdings sein, soweit man die Gruppe der nach Afghanistan zurückkehrenden Hindus als solche in den Blick nimmt. Das Gericht neigt insoweit zu der Einschätzung, wie sie in der jüngeren Rechtsprechung des OVG Münster (Urt. v. 14.09.2006, 20 A 5091/04.A; Beschl. v. 02.01.2007, 20 A 424/05.A in juris) aufgrund der in die dortigen Verfahren und in das Verfahren der Kläger eingeführten Erkenntnisse vorgenommen wird, und verweist auf die genannten Entscheidungen.

c) Indes ist für die Kläger im Einzelfall eine Zuspitzung der sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan erwartenden Situation, worauf auch in den genannten Entscheidungen des OVG Münster für mittellose alte, schwache oder behinderte Personen ausdrücklich hingewiesen wird, als überwiegend wahrscheinlich anzunehmen, aus der die Annahme einer Extremgefahr im Falle ihrer Abschiebung oder Rückführung folgt.

Das Gericht schenkt der Angabe der Kläger, keine Angehörigen mehr in Afghanistan zu haben, Glauben. Zwar ist diese Angabe praktisch nicht nachprüfbar und dürfte Asylbewerbern aus Afghanistan im Allgemeinen bekannt sein, dass diese Angabe regelmäßig eine Rolle in ihren Verfahren spielt, so dass dieser Angabe grundsätzlich mit Vorsicht zu begegnen sein mag. Die Kläger haben sich jedoch bereits bei ihren Anhörungen im Rahmen des Asylerstverfahrens so eingelassen und dabei nicht etwa pauschale Angaben gemacht, sondern detaillierte Auskünfte gegeben zum Verbleib der jeweiligen Angehörigen, die in sich stimmig und widerspruchsfrei waren. Die Kläger hinterließen bei ihrer Befragung in der mündlichen Verhandlung durch das Gericht ansonsten auch nicht den Eindruck, hier womöglich die Unwahrheit gesagt zu haben.

Was das Alter der Kläger angeht, mögen beide allein vom zahlenmäßigen Lebensalter her noch nicht hochbetagt sein. Beide Kläger vermittelten aber dem Gericht in der mündlichen Verhandlung die Überzeugung eines körperlich wie geistig schon weit fortgeschrittenen Alterungsprozesses.

Die Kläger würden in Afghanistan auch mittellos sein.