BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 23.10.2007 - 2 BvR 542/07 - asyl.net: M13128
https://www.asyl.net/rsdb/M13128
Leitsatz:

Das Verwaltungsgericht kann einen Eilrechtsantrag nicht als unzulässig ablehnen, weil der falsche Antrag gestellt wurde, sondern muss den Antrag entsprechend auslegen oder zumindest einen Hinweis geben; eine neue ärztliche Stellungnahme, die von dem in der ursprünglichen Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt abweicht, kann einen Abänderungsantrag rechtfertigen.

 

Schlagwörter: Türkei, Verfassungsbeschwerde, Wiederaufgreifensantrag, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, einstweilige Anordnung, Rechtsweggarantie, Abänderungsantrag, Auslegung, Antrag, Hinweispflicht, Prozessbevollmächtigte, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, Änderung der Sachlage, neue Beweismittel, fachärztliche Stellungnahmen, Retraumatisierung, interne Fluchtalternative, Westtürkei, Sachaufklärungspflicht
Normen: BVerfGG § 93c Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4; VwGO § 88; VwGO § 80 Abs. 7; VwGO § 123; VwGO § 86 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht kann einen Eilrechtsantrag nicht als unzulässig ablehnen, weil der falsche Antrag gestellt wurde, sondern muss den Antrag entsprechend auslegen oder zumindest einen Hinweis geben; eine neue ärztliche Stellungnahme, die von dem in der ursprünglichen Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt abweicht, kann einen Abänderungsantrag rechtfertigen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 15. Februar 2007 zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Im Übrigen liegen die Voraussetzungen für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93a BVerfGG nicht vor.

1. Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angenommene Möglichkeit, einen Antrag auf Zulassung der Beschwerde gegen erstinstanzliche Beschlüsse in Verfahren nach dem Asylverfahrensgesetz zu stellen, steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen, da das Gesetz diesen Rechtsbehelf nicht kennt. Die Beschwerde ist in erstinstanzlichen Verfahren nach diesem Gesetz vielmehr ausgeschlossen (vgl. § 80 AsylVfG).

2. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthält Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG eine Rechtsweggarantie des Inhalts, dass ein möglichst umfassender gerichtlicher Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt zur Verfügung stehen muss (vgl. BVerfGE 8, 274 <326>; 25, 352 <365>; 51, 176 <185>; 54, 39 <41>; 67, 43 <58>; 96, 27 <39>). Gewährleistet ist der Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen Prozessordnungen, so dass der Weg zu den Gerichten, insbesondere auch zur inhaltlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung, von der Erfüllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden darf (vgl. BVerfGE 9, 194 <199 f.>; 10, 264 <267 f.>; 27, 297 <310>; 35, 65 <72 f.>; 40, 272 <274>; 77, 275 <284>). Die dem Gesetzgeber obliegende normative Ausgestaltung des Rechtswegs muss aber das Ziel dieser Rechtsgewährleistung, nämlich den wirkungsvollen Rechtsschutz, auch tatsächlich verfolgen und ermöglichen. Sie muss im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein (BVerfGE 77, 275 <284>). Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 78, 88 <99>; 88, 118 <124>). Entsprechendes gilt auch innerhalb des jeweils eingeleiteten Verfahrens, soweit es darum geht, sich dort effektiv Gehör verschaffen zu können (vgl. BVerfGE 81, 123 <129>). Der gerichtlichen Durchsetzung des materiellen Anspruchs dürfen auch hier nicht unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse in den Weg gelegt werden (vgl. BVerfGE 53, 115 <128>). Insbesondere darf ein Gericht nicht durch die Art und Weise der Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar verkürzen (vgl. BVerfGE 84, 366 <369 f.>).

b) Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, den Antrag des Beschwerdeführers vom 12. Februar 2007 als unzulässig zu bewerten und ihn nicht in Anwendung von § 88 VwGO als neuerlichen Antrag nach § 123 VwGO auszulegen oder aber zumindest vor einer Entscheidung in Anwendung von § 86 Abs. 3 VwGO einen Hinweis auf mögliche Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit des gestellten Antrags zu geben, erschwert den Rechtsweg für den Beschwerdeführer in unzumutbarer Weise und verstößt somit gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

aa) Ausgehend vom Rechtsstandpunkt des Verwaltungsgerichts, dass bei Beschlüssen, mit welchen der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO abgelehnt worden ist, kein Raum für ein Abänderungsverfahren in analoger Anwendung von § 80 Abs. 7 VwGO sei, kann allerdings ein Antrag auf Abänderung oder Aufhebung des getroffenen Beschlusses aus prozessualen Gründen keinen Erfolg haben. Mit dieser Rechtsauffassung steht das Verwaltungsgericht nicht völlig allein (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 123 Rn. 81), auch wenn von der wohl herrschenden Meinung die analoge Anwendbarkeit der Vorschrift bejaht wird (Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 123 Rn. 35; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, 13. Ergänzungslieferung 2006, § 123 Rn. 177; Hessischer VGH, Beschluss vom 9. November 1995 - 6 TG 2992/95 -, NVwZ-RR 1996, S. 713). Jedoch ist dem Antrag des Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers eindeutig zu entnehmen, dass er - erneut - den Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt und dieses Begehren auf die neue sachverständige Äußerung stützt. Der Beschwerdeführer hat einen - auf vorläufige Feststellung eines Abschiebungshindernisses gerichteten - Sachantrag gestellt und diesem das Begehren, den abweichenden Beschluss vom 17. Januar 2007 aufzuheben, vorangestellt. Es liegt bereits fern, das Rechtsschutzbegehren des Beschwerdeführers allein von dem Aufhebungsantrag her zu verstehen. Jedenfalls hätte das Verwaltungsgericht ausgehend von seiner Rechtsauffassung entweder den Antrag des Beschwerdeführers nach § 88 VwGO zweckentsprechend als neuen Antrag nach § 123 VwGO auslegen oder aber dem Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers einen Hinweis nach § 86 Abs. 3 VwGO auf die Rechtsauffassung des Gerichts zur Unzulässigkeit des gestellten Antrags geben müssen. Dies gilt umso mehr, als die Auffassung, die für Abänderungsanträge nach § 80 Abs. 7 VwGO bei ablehnenden Beschlüssen nach § 123 VwGO keinen Raum sieht, den Maßstab des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit eines neuerlichen Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung heranzieht (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 123 Rn. 75). Damit unterscheiden sich die Auffassungen lediglich in der Begründung und im Lösungsweg, nicht jedoch im Ergebnis. Beide Auffassungen sehen es als zulässig an, neuerlich einstweiligen Rechtsschutz nachzusuchen, wenn sich relevante Umstände geändert haben.

bb) Die Annahme des Verwaltungsgerichts, wonach eine wohlwollende Auslegung des gestellten Antrags wegen anwaltlicher Vertretung des Beschwerdeführers nicht veranlasst gewesen sei, wird den Anforderungen, welche Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG an die Ausgestaltung von Verfahren stellt, nicht gerecht. Die Frage, inwieweit bei der Auslegung gestellter Anträge danach unterschieden werden kann und muss, ob der Antragsteller anwaltlich vertreten ist oder nicht (vgl. Rennert, in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 88 Rn. 9, m.w.N.), bedarf dabei keiner grundsätzlichen Klärung. Jedenfalls ist dann, wenn das Rechtsschutzziel klar aus dem Antrag und der Begründung des Antrags zu erkennen ist und dieses Rechtsschutzziel zulässigerweise verfolgt werden kann, die Verweigerung der inhaltlichen Behandlung des Vorbringens aufgrund eines Festhaltens an dem wegen eines Teilaspekts der Formulierung für unzulässig erachteten Antrags auch gegenüber einem anwaltlich vertretenen Antragsteller eine unzumutbare Erschwerung des Rechtswegs und damit unvereinbar mit den Anforderungen von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Unabhängig von der juristischen Vorbildung des Antragstellers oder seines Vertreters obliegt es den Fachgerichten, das erkennbare, wahre Rechtsschutzziel zur Grundlage einer Sachprüfung zu machen. Bestehen hinsichtlich des Rechtsschutzziels Zweifel, fordert Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG jedenfalls dann einen gerichtlichen Hinweis, wenn die Rechtslage nicht eindeutig ist.

cc) Die angegriffene Entscheidung erweist sich auch nicht als aus anderen Gründen im Ergebnis offensichtlich richtig, so dass der Beschwerdeführer aus der Zurückverweisung an das Verwaltungsgericht keinen Vorteil ziehen würde (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>). Es bestehen ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Antrag vom 12. Februar 2007 zulässig ist. Der Beschwerdeführer hat mit der ärztlichen Stellungnahme vom 5. Februar 2007 eine neue sachverständige Äußerung in das Verfahren eingebracht, die sich ausdrücklich mit einer besonderen Anfälligkeit des Beschwerdeführers für neue psychotische Schübe, ausgelöst durch den Kontakt mit Repräsentanten des türkischen Staates, beschäftigt. Mit dieser behaupteten besonderen Vulnerabilität des Beschwerdeführers haben sich bisher weder das Bundesamt noch das Verwaltungsgericht hinreichend auseinandergesetzt. Das Verwaltungsgericht ist in seinem Beschluss vom 17. Januar 2007 von der Möglichkeit der Vermeidung einer Retraumatisierung durch ein Ausweichen auf Orte in der Westtürkei ausgegangen, während die neuere ärztliche Stellungnahme auf Gefährdungen verweist, die von der Wahl des dauerhaften Aufenthaltsorts innerhalb der Türkei unabhängig sind.

Angesichts der Tatsache, dass bei der Anwendung von § 80 Abs. 7 VwGO die Richtigkeitsgewähr der Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes im Vordergrund zu stehen hat (vgl. Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, 13. Ergänzungslieferung 2006, § 80 Rn. 372; zur Gleichheit der Maßstäbe falls § 123 VwGO als die hier einschlägige Vorschrift angesehen wird, siehe unter II. 2. b) aa)), kann eine neue ärztliche Stellungnahme, die bereits bestehende medizinische Probleme präziser darstellt, jedenfalls dann als veränderter Umstand anzusehen sein, wenn die nach Auffassung des Arztes medizinisch wesentlichen Umstände in der zuvor getroffenen gerichtlichen Entscheidung nicht oder nur unzureichend erkannt worden sind. So liegt der Fall hier. Es geht hier nicht um eine abweichende Bewertung eines feststehenden Sachverhalts durch den Arzt des Beschwerdeführers, sondern um die Auffassung des Arztes, dass das Verwaltungsgericht nicht zutreffend erfasst habe, welche Art von Erlebnissen beim Beschwerdeführer zu erheblichen gesundheitlichen Problemen führen könnten. Auch bei der Anwendung des § 80 Abs. 7 VwGO ist zudem die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Sachaufklärungspflicht in Bezug auf Sachverhalte, deren Beurteilung medizinischen Sachverstand erfordert, zu berücksichtigen (BVerwG, Beschluss vom 23. Juli 2007 - 10 B 85.07 -; Beschluss vom 24. Mai 2006 - 1 B 118/05 -, NVwZ 2007, S. 345 <346>).