VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 10.03.2008 - 1 E 831/07 - asyl.net: M13141
https://www.asyl.net/rsdb/M13141
Leitsatz:

Zur Zurechnung des Verhaltens der Eltern beim Abschiebungsschutz wegen Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK.

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention, Verpflichtungsklage, Rechtsschutzinteresse, Abschiebung, Wiedereinreise, freiwillige Ausreise, Ausreisehindernis, Integration, Aufenthaltsdauer, in Deutschland geborene Kinder, Situation bei Rückkehr, Sprachkenntnisse, Kinder, Mitwirkungspflichten, Straftat, Zurechenbarkeit, Türkei, Kurden, Lebensunterhalt, Schutz von Ehe und Familie, Verpflichtungserklärung, Ermessen
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; EMRK Art. 8; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 5 Abs. 3
Auszüge:

Zur Zurechnung des Verhaltens der Eltern beim Abschiebungsschutz wegen Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist als Verpflichtungsklage statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist das Rechtsschutzbedürfnis für die Fortführung der Verpflichtungsklage nicht entfallen. Die Versagung der Aufenthaltserlaubnis hat sich durch die Abschiebung der Kläger nicht erledigt (vgl. Hess. VGH, Beschluss v. 26.04.1994, 13 TH 2676/93 InfAuslR 1994 Seite 313). Im Falle einer stattgebenden Entscheidung hinsichtlich der Versagung der Aufenthaltsgenehmigung könnte der Beklagte verpflichtet werden, die erfolgte Vollziehung rückgängig zu machen und den Klägern die Wiedereinreise in das Bundesgebiet zu ermöglichen. Insoweit ist deshalb ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse der Kläger anzuerkennen, das Verfahren vom Ausland aus weiter zu führen.

Die Klage ist auch begründet. Die Bescheide der Beklagten vom 13.02.2007 sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten. Die Kläger haben einen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 8 EMRK.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist in Fällen, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechtes zu einem Eingriff in das Privat- und Familienleben (Art. 8 EMRK) führen kann, grundsätzlich der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung. Dies folgt daraus, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte für die Frage, ob die innerstaatlichen Behörden ihre Verpflichtungen aus der Konvention erfüllt haben, auf den Zeitpunkt der Rechtskraft der innerstaatlichen Entscheidung abzustellen ist, die den Eingriff verursacht hat (vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil v. 28.06.2007, Az.: 31753/02 InfAuslR 2007 Seite 325 f.).

Erfolgt jedoch vor der mündlichen Verhandlung bereits eine Abschiebung des Ausländers wegen des fehlenden Aufenthaltsrechtes ist für die Frage eines möglichen Eingriffs in die Konventionsrechte auf den Zeitpunkt des Eingriffs, das heißt hier den Zeitpunkt der Abschiebung am 13.02.2007 abzustellen.

Die Ausreise ist den Klägern auch rechtlich unmöglich.

Den Klägern zu 2) bis 7) ist die Ausreise im Hinblick auf einen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Privatleben rechtlich unmöglich.

Grundsätzlich gewährleisten die Vorschriften der Menschenrechtskonvention als solche nicht das Recht auf Einreise oder Aufenthalt in einem Vertragsstaat, dessen Staatsangehörigkeit man nicht besitzt. Die Vertragsstaaten haben vielmehr gem. einer allgemeinen Regel des Völkervertragsrecht und unbeschadet ihrer vertraglichen Verpflichtungen unter Einschluss der Konvention das Recht, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Nichtstaatsangehörigen zu kontrollieren (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 16.09.2004, Az.: 11 103/03 – Ghiban/Deutschland NVwZ 2005 Seite 1046; EGMR Urteil v. 07.10.2004, Az.: 33 743/03 – Dragan/Deutschland NVwZ 2005 Seite 1043).

Dessen ungeachtet kann ausnahmsweise auch eine Aufenthaltsbeendigung bzw. die Verweigerung eines Aufenthaltsrechtes einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in das Privatleben darstellen, wenn der Ausländer über intensive persönliche, soziale und wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat verfügt (Europäischer Menschenrechtsgerichtshof, Urteil v. 16.06.2005, Az.: 60 654/00 – Sisojeva/Lettland InfAuslR 2005, 349; Urteil v. 22.02.2006 – Az.: 59 643/00 – Kaftailova/Lettland).

Eine den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK auslösende Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland als Aufnahmestaat kann danach insbesondere für solche Ausländer in Betracht kommen, die aufgrund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse mit gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind, dass sie quasi deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sind. Ihre Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass die BundesrepublikDeutschland faktisch das Land ist, zu dem sie gehören, während sie mit ihrem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band ihrer Staatsangehörigkeit verbindet (vgl. EGMR Urteile vom 26.03.1992 Az.: 55/1990/246/317 – Beldjoudi, InfAuslR 1994, 86 f. und vom 26.09.1997 Az.: 85/1996/704/896 – Mehemi – InfAuslR 1997 Seite 430 sowie BVerwG, Urteil v. 29.09.1998, 1 C 8.96, NVwZ 1999 Seite 303; VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 18.01.2006, Az.: 13 S 2220/05, ZAR 2006, 142).

Wesentlicher Gesichtspunkt für das Vorliegen einer Integration eines Ausländers in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland ist zunächst die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet. Weitere Gesichtspunkte für die Integration sind gute deutsche Sprachkenntnisse, wirtschaftliche und soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, Innehabung eines Arbeits- oder Ausbildungsplatzes und ein fester Wohnsitz. Gesichtspunkte für die Reintegrationsfähigkeit in die Verhältnisse des Heimatlandes sind die Kenntnisse der Heimatsprache, die Vertrautheit mit den Verhältnissen im Heimatland und die Existenz dort noch lebender Verwandter (vgl. hierzu Burr GK – AufenthG § 25 Rdnr. 149 m.w.N.).

Ausgehend von den vorgenannten Gesichtspunkten ist eine Integration der Kläger zu 2) bis 7) in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland zu bejahen. Bis auf den Kläger zu 2), der im Alter von etwa 1 Jahr in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist, sind alle weiteren Kinder in der Bundesrepublik Deutschland geboren und leben hier zwischen 15 Jahren (Kläger zu 2)) und sechs Jahren (Kläger zu 7)). Sämtliche Kinder bis auf den Kläger zu 7) haben in der Bundesrepublik Deutschland – wie aus den vorgelegten Schulzeugnissen ersichtlich ist – in der Bundesrepublik Deutschland mit gutem Erfolg die Schule besucht und sind durch vielfältige schulische und außerschulische Aktivitäten in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert. Sie verfügen über gute deutsche Sprachkenntnisse und sind aufgrund ihrer vielfältigen Kontakte bestens in die Schulgemeinde integriert und zeigten Sozialkompetenz was durch die Vielzahl der zu der Gerichts- bzw. Behördenakte eingereichten Stellungnahmen der Lehrer, der Elternbeiräte und der Mitschüler belegt wird. Ein Eingriff in den Schutzbereich des Privatlebens der Kläger zu 2) bis 7) ist daher zu begründen.

Eingriffe einer öffentlichen Behörde in die Ausübung der sich aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ergebenden Rechte sind nach Abs. 2 EMRK nur statthaft, soweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Im Rahmen dieser Schrankenprüfung ist die sich aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgende Rechtsposition des Ausländers gegen das Recht des Konventionsstaates zur Einwanderungskontrolle im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abzuwägen (vgl. EGMR Entscheidung vom 16.09.2004 Az.: 1103/03 – Ghibam NVwZ 2005, 1046). Eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kommt dann in Betracht, wenn der Ausländer aufgrund seiner gesamten Entwicklung faktisch ein Inländer geworden ist und ihm wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, nicht zuzumuten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.09.1988 – 1 C 8.96 – InfAuslR 1999 Seite 54).

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung kommt daher qualitativen Kriterien wie die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts, evtl. Straffälligkeiten, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug, schulischer Erfolg, sprachliche Integration oder die Bindung an den Herkunftsstaat erhebliche Bedeutung zu.

Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem bisherigen Aufenthaltsstatus des Ausländers zu.

Da die Kläger zu 2) bis 7) sämtlich minderjährig waren und sie selbst insoweit keine eigenständigen Rechtshandlungen vorgenommen haben, ist auf das Verhalten ihrer Eltern abzustellen und ihnen dieses zuzurechnen. Die Zurechenbarkeit folgt zum einen bereits aus familienrechtlichen Regelungen. Denn den Eltern steht im Rahmen der elterlichen Sorge auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Kinder zu. Minderjährige Kinder teilen auch ausländerrechtlich das Schicksal ihrer Eltern. Daher haben sich minderjährige Ausländer das Verhalten ihrer Eltern zurechnen lassen (vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 10.05.2006 – 11 S 2354/05 – VBlBW 2006 Seite 438; Burr GK-AufenthG a.a.O. Rdnr. 155).

Betrachtet man die Integrationsleistung der Klägerin zu 1) und ihres Ehemannes, ist eine Integration der Eltern in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland zu verneinen. Der Ehemann der Klägerin zu 1) und der Vater der Kläger zu 2) bis 7) ist in erheblichem Umfang in der Bundesrepublik Deutschland straffällig geworden, was gegen eine Integration in die sozialen und rechtlichen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland spricht. Hinzu kommt, dass die gesamte Familie auch wirtschaftlich nicht in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert war, sondern seit Anbeginn ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland auf den Bezug von staatlichen Unterstützungsleistungen angewiesen war, weil die Klägerin zu 1) und ihr Ehemann keiner Berufstätigkeit nachgegangen sind. Hinzu kommt, dass die Klägerin zu 1) und ihr Ehemann nach Abschluss des Asylverfahrens die Beendigung ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland auch dadurch zunächst unmöglich gemacht haben, dass sie sich geweigert haben, an einer Passbeschaffung mitzuwirken, wodurch die Abschiebung der Familie tatsächlich unmöglich war. Dieses Verhalten der Eltern und deren mangelnde wirtschaftliche Integration in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland müssen sich die Kläger zu 2) bis 7) grundsätzlich zurechnen lassen. Da die minderjährigen Kinder wegen des Schulbesuches regelmäßig ihren Lebensunterhalt nicht sichern können, ist die wirtschaftliche Integration ihrer Eltern entscheidend. Es verbietet sich daher im Regelfall in diesen Fällen, isoliert die Verwurzelung der Kinder allein im Hinblick auf ihre soziale und schulische Integration zu würdigen und bei insoweit gelungener Integration eine mangelnde wirtschaftliche Integration wegen Sozialhilfebezugs der Familie als unschädlich anzusehen. Allerdings darf diese grundsätzlich gebotene familienbezogene Betrachtung, die letztlich die fehlende Integrationsleistung der Eltern bzw. deren fehlende Entwurzelung den Kindern zurechnet, nicht dazu führen, dass die Kinder trotz des zu bejahenden Eingriffs in den Schutzbereich ihres Privatlebens automatisch das Land verlassen müssen. Vielmehr ist im Rahmen der Schrankenprüfung weiter zu fragen, ob für die Kinder die Möglichkeit zur Reintegration im Heimatland besteht. Entscheidend kommt es daher darauf an, ob die Kinder über Kenntnisse der Heimatsprache verfügen, mit den Verhältnissen im Heimatland vertraut sind sowie auf von noch im Heimatland lebende Verwandte für die Reintegration zurückgreifen kann. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die Kinder in solchen Fällen regelmäßig gemeinsam mit ihren Eltern zurückkehren, die ihnen die Reintegration in das Herkunftsland erleichtern können.

Der vorliegende Fall weist insofern Besonderheiten auf, als die Kläger zu 2) bis 7) lediglich kurdisch, nicht aber türkisch sprechen und – da sie die Türkei im Alter von einem Jahr verlassen haben bzw. in der Bundesrepublik Deutschland geboren sind – mit den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Türkei in keiner Weise vertraut sind. Aufgrund dieser Tatsachen besteht für die Kläger zu 2) bis 7) wegen der fehlenden Kenntnisse der türkischen Sprache und der mangelnden Vertrautheit mit den Verhältnissen im Heimatland auch wenn sie mit ihren Eltern bzw. ihrer Mutter in die Türkei zurückkehren müssten, keine realistische Chance zur Reintegration in die Verhältnisse in der Türkei. Insbesondere wären die schulpflichtigen Kinder gezwungen, die begonnene und bisher sehr erfolgreich absolvierte Schullaufbahn ohne das Erreichen eines qualifizierten Schulabschlusses abzubrechen, ohne die Möglichkeit zu haben, diese Schullaufbahn in der Türkei fortzusetzen. Mangels türkischer Sprachkenntnisse und Vertrautheit mit den türkischen Verhältnissen bliebe ihnen nur ein Leben am Rande der türkischen Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund ist den Klägern zu 2) bis 7) die Rückkehr in ein für sie fremdes Land, das ihnen keine auch nur annähernd vergleichbare Lebensperspektive bietet unzumutbar.

Ein Eingriff in den Schutzbereich des Privatlebens aus Art. 8 EMRK der Klägerin zu 1) ist hiergegen zu vermerken.

Gleichwohl hat die Klägerin zu 1) als Mutter der Kläger zu 2) bis 7) einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 i. V. m. Art. 8 EMRK aus Gründen des Schutzes des Familienlebens. Denn bei einer Ablehnung des Aufenthaltsrechtes der Klägerin zu 1) würde in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK, der den Familienverband von Eltern und minderjährigen Kindern schützt, eingegriffen, weil die Familie auseinandergerissen würde. Ein solcher Eingriff ist nach Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht zu rechtfertigen.

Auch die weiteren Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die Kläger liegen vor. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist und kein Ausweisungsgrund vorliegt. Vorliegend ist der Lebensunterhalt der Kläger aufgrund der Verpflichtungserklärungen von sieben Mitgliedern des Helferkreises gesichert. Selbst wenn der Lebensunterhalt nicht gesichert wäre, würde sich die Frage stellen, ob im Hinblick auf die obigen Ausführungen gem. § 5 Abs. 3 S. 2 AufenthG i. V. m. Art. 8 EMRK von der Anwendung des Absatzes 1 des § 5 abgesehen werden muss (vgl. VG Frankfurt, Beschluss v. 21.01.2008, Az.: 1 G 4243/07 (1); Bergmann ZAR 2007 Seite 128 (132)).