VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 16.10.2007 - 8 L 261/07 - asyl.net: M13147
https://www.asyl.net/rsdb/M13147
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Feststellungsklage, Aufenthaltsrecht, Vorwegnahme der Hauptsache, Europa-Mittelmeer-Abkommen/Tunesien, Tunesier, Arbeitnehmer, Suspensiveffekt, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerung, Ehegattennachzug, eigenständiges Aufenthaltsrecht, besondere Härte, Diskriminierungsverbot, EuGH, Rechtsprechung, Arbeitsberechtigung, Vertrauensschutz, Bescheinigung, Erwerbstätigkeit
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; VwGO § 80 Abs. 5; Europa-Mittelmeer-Abkommen Art. 64; AufenthG § 31 Abs. 2; SGB II § 285 Abs. 5; ArGV § 8; ArGV § 5; AufenthG § 84 Abs. 2 S. 2
Auszüge:

1. Soweit der Antragsteller mit dem Antrag zu 1. begehrt, im Wege der einstweiligen Anordnung festzustellen, dass er sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, hat der Antrag keinen Erfolg.

Die Kammer lässt insoweit offen, ob der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für die Verwirklichung des Antragsbegehrens überhaupt die statthafte Antragsart ist.

Ferner kann offen bleiben, ob der demnach einem Verpflichtungsbegehren entsprechende Feststellungsantrag - worauf der Antragsgegner zutreffend hinweist - darüber hinaus wegen einer Vorwegnahme der Hauptsache unzulässig wäre, weil insoweit bereits über das Bestehen des Aufenthaltsrechts selbst und nicht lediglich über Vollzugsfragen entschieden würde.

Denn der Antrag ist jedenfalls unbegründet. Der Antragsteller hat nämlich keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Auch wenn das Diskriminierungsverbot des Art. 64 Abs. 1 Europa-Mittelmeer-Abkommen/Tunesien unter besonderen Voraussetzungen aufenthaltsrechtliche Wirkungen entfalten kann (vgl. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Urteile vom 2. März 1999 - C-416/96 (El Yassini) -, Slg. 1999, I-1209, und vom 14. Dezember 2006 - C-97/05 (Gattoussi) -; im Grundsatz auch Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 1. Juli 2003 - 1 C 18/02 -, NVwZ 2004, 241), begründet es jedoch - im Gegensatz zu den Bestimmungen der Art. 6 und 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB Nr. 1/80) - kein konstitutives unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht folgendes Aufenthaltsrecht für die von ihm begünstigten Arbeitnehmer (vgl. schon Vorlagebeschluss der Kammer an den EuGH vom 29. Dezember 2004 - 3570/04 - in der Rechtssache "Güzeli").

Der - hilfsweise unter 1. gestellte - Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 2. Mai 2007 hat hingegen Erfolg.

Bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Rechtslage erweist sich die Ordnungsverfügung vom 2. Mai 2007 zwar weder als offensichtlich rechtmäßig noch als offensichtlich rechtswidrig; es spricht jedoch Einiges dafür, dass die Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis unter Berücksichtigung des europäischen Gemeinschaftsrechts, namentlich des Art. 64 Abs. 1 Europa-Mittelmeer-Abkommen/Tunesien, ernstlichen rechtlichen Zweifeln begegnet. In dieser Situation ist im Rahmen der weiteren Interessenabwägung dem Interesse des Antragstellers, sich zumindest für die Dauer eines ggf. nachfolgenden Klageverfahrens noch im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen und von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen verschont zu bleiben, der Vorrang einzuräumen.

Zwar hat der Antragsgegner die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG und nach § 28 Abs. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bzw. Abs. 2 AufenthG zu Recht abgelehnt.

Jedoch ist derzeit offen und einer abschließenden Klärung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht zugänglich, ob der Antragsteller als tunesischer Staatsangehöriger aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 64 Abs. 1 Europa-Mittelmeer-Abkommen/Tunesien - als mittelbare Reflexwirkung - einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis herleiten kann.

Der EuGH hat in dem bereits erwähnten Urteil vom 2. März 1999 ("El Yassini") zu Art. 40 Abs. 1 Kooperationsabkommen EWG/Marokko entschieden, dass das Diskriminierungsverbot bei dem gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts es einem Mitgliedstaat grundsätzlich nicht untersagt, die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis eines marokkanischen Staatsangehörigen, dem er die Einreise und die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt hatte, abzulehnen, wenn der ursprüngliche Grund für die Gewährung des Aufenthaltsrechts bei Ablauf der Aufenthaltserlaubnis nicht mehr besteht. Anders verhalte es sich jedoch, wenn der Aufnahmemitgliedstaat dem marokkanischen Wanderarbeitnehmer in Bezug auf die Ausübung einer Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf den Aufenthalt verliehen habe. Dies sei dann der Fall, wenn die dem Betroffenen vom Mitgliedstaat gewährte Aufenthaltserlaubnis kürzer als die Arbeitserlaubnis sei und der Mitgliedstaat vor Ablauf der Arbeitserlaubnis eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt habe, ohne dies mit Gründen des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates, namentlich Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, rechtfertigten zu können. Die praktische Wirksamkeit von Art. 40 Abs. 1 Kooperationsabkommen EWG/Marokko erfordere nämlich, dass ein marokkanischer Staatsangehöriger, dem ordnungsgemäß die Erlaubnis erteilt wurde, im Gebiet eines Mitgliedstaates für eine bestimmte Zeit eine Beschäftigung auszuüben, während dieser gesamten Zeit seine Rechte aus dieser Bestimmung ausüben könne. Die Beurteilung, ob dem Arbeitnehmer in Bezug auf die Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf den Aufenthalt gewährt worden seien, sei jedoch Sache des nationalen Gerichts.

Diese Auslegung hat der EuGH in der Entscheidung vom 14. Dezember 2006 ("Gattoussi") auf das in Rede stehende Diskriminierungsverbot des Art. 64 Abs. 1 Europa-Mittelmeer-Abkommen/Tunesien übertragen und ausdrücklich dahin konkretisiert, dass die Bestimmung aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit auch Wirkungen auf das Recht eines tunesischen Staatsangehörigen entfaltet, sich im Gebiet eines Mitgliedstaates aufzuhalten, wenn dieser Staatsangehörige von dem Mitgliedstaat eine ordnungsgemäße Genehmigung erhalten hat, eine Berufstätigkeit für eine die Dauer seiner Aufenthaltserlaubnis übersteigende Zeit auszuüben.

Dies zugrunde gelegt, stellt sich die Frage, ob sich auch der Antragsteller, dem seinerzeit eine unbefristete Arbeitsberechtigung erteilt worden war, zur Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Art. 64 Abs. 1 Europa-Mittelmeer-Abkommen/Tunesien berufen kann.

Soweit in der ober- und höchstgerichtlichen Rechtsprechung dem Diskriminierungsverbot des Art. 64 Abs. 1 Europa-Mittelmeer-Abkommen/Marokko bzw. Tunesien in Fällen der vorliegenden Art aufenthaltsrechtliche Wirkungen bisher im Wesentlichen unter Hinweis darauf abgesprochen worden sind, dass nach deutschem Recht auch eine unbefristet erteilte Arbeitsberechtigung wegen des im Arbeitsgenehmigungsrecht angelegten Vorrangs des Aufenthaltsrechts kein von der Aufenthaltsgenehmigung unabhängiges, gleichsam "überschießendes" Recht auf Fortsetzung einer nicht selbständigen Erwerbstätigkeit und auf weiteren Aufenthalt vermittle (vgl. grundlegend: BVerwG, Urteil vom 1. Juli 2003 - 1 C 18/02 -, a.a.O.; im Anschluss daran: OVG NRW, Beschlüsse vom 25. Juli 2005 - 18 B 983/05 -, juris und vom 5. Februar 2004 - 17 B 893/03 -, juris und vom 25. August 2004 - 19 B 1312/04 -; Verwaltungsgerichtshof (VGH) Bayern, Beschluss vom 23. März 2006 - 18 B 983/05, juris; VGH Hessen, Beschluss vom 6. April 2004 - 9 TG 864/04 -, NVwZ-RR 2005, 285), erscheint es zweifelhaft, ob diese Argumentation nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache "Gattoussi" aufrechterhalten bleiben kann (vgl. bejahend: OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 2007 - 18 B 722/07 -, DVBl. 2007, 983 und VGH Bayern, Beschluss vom 26. Januar 2007 - 24 C 06.3378 -, juris; verneinend für das Europa-Mittelmeer-Abkommen/Algerien: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH BW), Beschluss vom 27. September 2007 - 13 S 1059/07 -, juris).

Die Klärung dieser Rechtsfragen, namentlich die Auslegung von Inhalt und Tragweite der Gemeinsamen Erklärung der Vertragsparteien zu Art. 64 Europa-Mittelmeer-Abkommen/Tunesien unter Berücksichtigung der allgemeinen völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätzen, übersteigt jedoch den Rahmen eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens und muss daher einer abschließenden Beurteilung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Da die Erfolgsaussichten des Widerspruchsverfahrens und einer Klage nach alledem derzeit offen sind, ist eine umfassende Interessenabwägung erforderlich, die hier zu Lasten des Antragsgegners ausgeht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller seit August 2004 - nahezu ununterbrochen - erwerbstätig ist und seitdem, soweit dies der Ausländerakte zu entnehmen ist, nicht von der Gewährung öffentlicher Mittel abhängig war. Es ist auch nicht erkennbar, dass dem privaten Interesse des Antragstellers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet für die Dauer eines eventuellen Klageverfahrens ein überwiegendes öffentliches Interesse, namentlich Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, entgegenstehen.

Der Aussetzungsantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat schließlich auch insoweit Erfolg, als er sich auf die in der Ordnungsverfügung vom 2. Mai 2007 enthaltene Abschiebungsandrohung bezieht.

3. Soweit der Antragsteller schließlich mit dem Antrag zu 3. begehrt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm eine Bescheinigung über sein fortbestehendes Recht zur Erwerbstätigkeit nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu erteilen, hat der Antrag wiederum Erfolg.