VG Aachen

Merkliste
Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 21.04.2008 - 8 L 111/08.A - asyl.net: M13156
https://www.asyl.net/rsdb/M13156
Leitsatz:

Keine Ablehnung als offensichtlich unbegründet, weil der Antragsteller erst auf Nachfrage sein Verfolgungsschicksal schildern konnte; Würdigung des Sachvortrags als insgesamt unglaubhaft ist nicht geeignet, die Ablehnung als offensichtlich unbegründet zu stützen.

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenen, Tschetschenien, Verfahrensrecht, offensichtlich unbegründet, ernstliche Zweifel, Glaubwürdigkeit, Anhörung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AsylVfG § 36 Abs. 4; AsylVfG § 30 Abs. 1; AsylVfG § 30 Abs. 2 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine Ablehnung als offensichtlich unbegründet, weil der Antragsteller erst auf Nachfrage sein Verfolgungsschicksal schildern konnte; Würdigung des Sachvortrags als insgesamt unglaubhaft ist nicht geeignet, die Ablehnung als offensichtlich unbegründet zu stützen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der nach § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. §§ 34 Abs. 1, 36 Abs. 1, 75 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der unter dem o.g. Aktenzeichen erhobenen Klage ist zulässig und begründet.

Insoweit bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 8. Februar 2008 enthaltenen Abschiebungsandrohung (vgl. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG), weil entgegen der Auffassung des Bundesamtes im angefochtenen Bescheid nämlich nicht angenommen werden kann, dass die Voraussetzungen des - hier allein streitgegenständlichen - § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) "offensichtlich" nicht vorliegen (§ 30 Abs. 1 AsylVfG).

Zwar ist zum Einen zuzugestehen, dass sich die Ausführungen der Antragsteller zu 1. und 2. bei ihrer Anhörung beim Bundesamt in großen Teilen als vage gehalten qualifizieren lassen und sie in der Gesamtschau auch nicht als gänzlich widerspruchsfrei angesehen werden können. Zum anderen schildern die Antragsteller aber im Kernbereich dasselbe fluchtauslösende Ereignis, bzw. dieselben fluchtauslösenden Ereignisse, wenn sich auch die jeweilige Schwerpunktsetzung unterscheidet. Für die Kammer hat es den Anschein, dass sich die Entscheidung des Bundesamtes, das Asylbegehren als offensichtlich unbegründet zu bewerten, weniger an der Feststellung objektiver Fakten orientiert, als vielmehr an der subjektiven Wertung des Einzelentscheiders über das (teilweise) Aussageverhalten der Antragsteller. Dies klingt für den Antragsteller zu 1. etwa an, wenn ausgeführt wird (Seite 5 Mitte des Bescheides):

"Auch die vom Antragsteller zu 1) gewählte Struktur in der Darstellungsweise lässt Zweifel am Wahrheitsgehalt aufkommen, weil viele lenkende Eingriffe und Rückfragen notwendig waren, um den Antragsteller zu 1) zu einer annähernd nachvollziehbaren Ordnung zu veranlassen. Es wäre indes zu erwarten, dass - wahres Erleben unterstellt - der Antragsteller zu 1) von sich aus auch ohne wiederholte Rück-, Zwischen- und Nachfragen den Kern der Verfolgungsgeschichte darbieten kann. Umgekehrt spricht das wirre, abgehackte und zu kurz greifende und damit im Wesentlichen nicht konsistente Vorbringen dafür, dass es sich um eine erfundene Geschichte handelt."

Auch die im Bescheid abschließenden wiedergegebenen Überlegungen zur Abweisung als "offensichtlich unbegründet" (Seite 8 des Bescheides) überzeugen die Kammer nicht. Im Kern wird die Wertung darauf gestützt, dass die Antragsteller nicht in der vom anhörenden Entscheider erwarteten Art ihr Fluchtschicksal schilderten. Wenn den Antragstellern dort vorgeworfen wird, die Gelegenheit zum freien Sachvortrag nicht wahrgenommen zu haben, um eine an tatsächlichem Erleben orientierte Schilderung zu machen, vermag das dazu führen, das Asylbegehren als nicht begründet zu bewerten, nicht aber ohne weiteres als "offensichtlich" unbegründet. Die Kammer teilt auch nicht die Auffassung, dass die Würdigung eines Asylvorbringens als insgesamt unglaubhaft grundsätzlich geeignet ist, eine qualifizierte Ablehnungsentscheidung zu tragen.

Schließlich kann bei der Bewertung hier nicht aus dem Blick gelassen werden, dass die Antragsteller sich auf Verfolgungshandlungen in Tschetschenien berufen und es sich bei Tschetschenien um eine politisch und verfolgungsmäßig sehr sensible Region handelt. Es ist bekannt, dass aktive und passive Unterstützer der tschetschenischen Rebellen vom russischen Militär gesucht und nicht selten festgehalten und misshandelt werden. Es erscheint nicht gänzlich ausgeschlossen, dass die Antragsteller zu 1 und 2. Maßnahmen ausgesetzt gewesen sind bzw. in Zukunft sein könnte, die als verfolgungsrelevant anzusehen sind.