OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 05.03.2008 - 2 A 298/04.A - asyl.net: M13158
https://www.asyl.net/rsdb/M13158
Leitsatz:

1. Bei der nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG anzustellenden Gefahrenprognose steht Ausländern, die bereits einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG erlitten haben, der günstigere Wahrscheinlichkeitsmaßstab nach Art. 4 der Richtlinie 2004/83/EG zu.

2. Beherrschbare Übergangsprobleme bei der Fortführung einer laufenden Behandlung im Zielland der Abschiebung bilden kein Abschiebungshindernis, sondern sind von der Ausländerbehörde bei der konkreten Durchführung der Abschiebung zu berücksichtigen.

3. Die Behandlungsmöglichkeiten für psychische Erkrankungen in der Türkei stehen der Abschiebung eines mittellosen nicht traumatisierten Ausländers grundsätzlich nicht entgegen.

 

Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Glaubwürdigkeit, Kurden, Krankheit, psychische Erkrankung, Situation bei Rückkehr, Abschiebung, Mitgabe von Medikamenten, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Grüne Karte, yesil kart
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; RL 2004/83/EG Art. 15
Auszüge:

1. Bei der nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG anzustellenden Gefahrenprognose steht Ausländern, die bereits einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG erlitten haben, der günstigere Wahrscheinlichkeitsmaßstab nach Art. 4 der Richtlinie 2004/83/EG zu.

2. Beherrschbare Übergangsprobleme bei der Fortführung einer laufenden Behandlung im Zielland der Abschiebung bilden kein Abschiebungshindernis, sondern sind von der Ausländerbehörde bei der konkreten Durchführung der Abschiebung zu berücksichtigen.

3. Die Behandlungsmöglichkeiten für psychische Erkrankungen in der Türkei stehen der Abschiebung eines mittellosen nicht traumatisierten Ausländers grundsätzlich nicht entgegen.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Verpflichtung, zu Gunsten des Klägers ein Abschiebungshindernis festzustellen, kann keinen Bestand haben.

Die Prüfung eines Abschiebungshindernisses im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG wird von der Frage beeinflusst, ob der Ausländer bereits einen ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG erlitten hat. Ein solcher Schaden ist nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Die anzustellende Prognose unterscheidet ebenso wie die deutsche Rechtsprechung zum Schutz vor politischer Verfolgung bei der Prognose für die Zukunft anhand des bereits erlittenen Schicksals zwischen zwei verschiedenen Wahrscheinlichkeitsmaßstäben (vgl. OVG Saarland, U.v. 26.06.2007, 1 A 222/07 juris Rn. 36 ff.; Bayerischer VGH, U.v. 31.08.2007, 11 B 02.31724, juris Rn. 29; zu diesen Maßstäben BVerwG, U. v. 25.09.1984 - 9 C 17/84 - BVerwGE 70, 169 und U. v. 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97, juris Rn. 12 ff.).

2. Die Gefährdungsprognose bezüglich des Klägers ist anhand des ungünstigeren Wahrscheinlichkeitsmaßstabes für solche Ausländer anzustellen, die ihre Heimat nicht aufgrund eines bereits erlittenen oder unmittelbar drohenden ernsthaften Schadens verlassen haben. Es kann dahinstehen, ob die von ihm behauptete mehrstündige Misshandlung durch Polizeikräfte als Minderjähriger bis zur Bewusstlosigkeit, um Informationen über die PKK zu erhalten, als Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland im Sinne von Art. 15 Lit b) der Richtlinie 2004/83/EG oder als ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach Art. 15 c der Richtlinie 2004/83/EG anzusehen wäre, weil diese Behauptung nicht glaubhaft ist.

Dem Kläger droht in der Türkei keine beachtliche Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG.

Konkret ist eine Gefahr, wenn die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland einträte (BVerwG, B.v 24.05.2006, 1 B 118/05, InfAuslR 06, 485, juris Rn. 4 m.w.N.). Beherrschbare Übergangsprobleme, wie die Gefahr, dass es bei der Umstellung einer laufenden Behandlung zu Verzögerungen kommt, oder Schwierigkeiten des Patienten, erforderliche und tatsächlich erreichbare Hilfen rechtzeitig in Anspruch zu nehmen, bilden insofern kein Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG, sondern sind von der Ausländerbehörde bei der konkreten Durchführung der Abschiebung zu berücksichtigen und zu minimieren (BVerwG, U.v. 29.10.2002, 1 C 1/02, DVBl 2003, 463, juris Rn. 10).

Diese Rechtsprechung wird auch durch einen Blick auf § 23 Abs. 3 Satz 2 des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XII) bestätigt, nach dem Ausländer die zum Zweck einer Behandlung oder Linderung einer Krankheit eingereist sind, Hilfe bei Krankheit nur zur Behebung eines akut lebensbedrohlichen Zustandes oder für eine unaufschiebbare und unabweisbar gebotene Behandlung einer schweren oder ansteckenden Erkrankung geleistet werden soll. Die Vorschrift soll die Sozialhilfe von Ansprüchen auf humanitäre Hilfen freihalten (BT-Drs. 12/4451, S. 11 zum früheren § 120 Abs. 3 Bundessozialhilfegesetz). Sie differenziert nicht danach, ob die Behandlung im Heimatland eines Ausländers realisiert werden kann; Gesundheitsbeeinträchtigungen, die nach § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII nicht versorgt werden sollen, bleiben also potentiell unversorgt. § 60 Abs. 7 AuslG kann schwerlich so ausgelegt werden, dass die gesetzliche Anweisung an die Sozialbehörde, insofern regelmäßig keine Hilfe zu leisten, zu einem Bleiberecht für die Betroffenen führen kann. Vielmehr spricht viel dafür, dass Gesundheitsbeeinträchtigungen, die nach § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB XII nicht versorgt werden sollen, auch kein Abschiebungshindernis darstellen können.

Der Kläger erhält derzeit keine Medikamente und wird nicht regelmäßig psychiatrisch behandelt. Er nimmt monatlich an einer Kunsttherapie bei R. teil. Schon diese geringe Behandlungsintensität belegt, dass der Kläger derzeit nicht psychisch schwer krank ist. Darum bedarf es besonderer Anhaltspunkte, um davon ausgehen zu müssen, dass eine Rückkehr in die Türkei für ihn aus gesundheitlichen Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben führen könnte.

4. Unabhängig davon steht dem Kläger die von dem Gutachter angeführte Möglichkeit, in der Türkei psychiatrische oder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen zu können, ausweislich der in das Verfahren eingeführten Gutachten und Stellungnahmen faktisch zur Verfügung.

Diese Möglichkeiten bestünden auch im Fall seiner Mittellosigkeit. Diese eröffnete dem Kläger einen Anspruch auf eine Grüne Karte. Die Auskunftslage ergibt keine allgemeine beachtliche Gefahr, dass einem Berechtigten eine Grüne Karte trotz bestehender Voraussetzungen dauerhaft verweigert würde.