VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 14.02.2008 - 6 A 1131/05 - asyl.net: M13171
https://www.asyl.net/rsdb/M13171
Leitsatz:

Nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak außerhalb der kurdisch verwalteten Gebiete; keine inländische Fluchtalternative.

 

Schlagwörter: Irak, Jesiden, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Übergriffe, Sicherheitslage, interne Fluchtalternative, Nordirak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Existenzminimum
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak außerhalb der kurdisch verwalteten Gebiete; keine inländische Fluchtalternative.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist begründet.

Danach ist im Fall der Kläger ein Widerruf ihrer Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen, denn nach den der Beklagten vorliegenden Erkenntnissen hat sich die durch Anschläge und gewalttätige Angriffe auf Angehörige religiöser Minderheiten im Irak gekennzeichnete Sicherheitslage zwischenzeitlich derart verschlechtert, dass in Bezug auf die Zahl der Referenzfälle und der Intensität von Übergriffen von einer Gruppenverfolgung der Angehörigen der jezidischen Bevölkerungsminderheit durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG ausgegangen wird (Bundesministerium des Innern, Erlass vom 15.5.2007 - M 1 4 - 125 421 IRQ/0). Insbesondere der islamisch orientierten Terroristen zugeschriebene Massenmord durch die Bombenanschläge zur Zerstörung der von Jeziden bewohnten Modellsiedlungen Til Ezer und Sibha Sheikh Khidir vom 14. August 2007, bei dem etwa 400 Menschen getötet und mehrere Hundert verletzt worden sind (vgl. Welt vom 17.8.2007 "Zahl der Toten ... steigt auf mehr als 400"; Gesellschaft für bedrohte Völker "Die Yezidi im Irak - November 2007"), hat diese Tatsachenlage bestätigt. Auch die Beklagte geht nach der der Kammer erteilten Auskunft des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31. Januar 2008 - 420-7406-10108 - weiterhin von einer Gruppenverfolgung der Jeziden in den nicht kurdisch verwalteten Provinzen des Irak aus.

Es bestehen keinerlei ernsthafte Zweifel daran, dass die Kläger irakische Staatsangehörige aus der Provinz Ninawa (Mosul) sind und der Glaubensgemeinschaft der Jeziden angehören.

Der angefochtene Widerrufsbescheid vom 10. Februar 2005 lässt sich auch nicht auf die von der Beklagten mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2007 vorgetragenen Erwägung stützen, wonach die Kläger vor einer politischen Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure in der insoweit sicheren Provinz Dohuk Schutz finden könnten.

Es ist schon im rechtlichen Ansatz fraglich, ob das (Fort-) Bestehen einer inländischen Fluchtalternative für Jeziden im Nordirak nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG trotz Annahme einer Gruppenverfolgung ein zulässiger Grund für das Festhalten am Widerrufsbescheid vom 10. Februar 2005 wäre. Denn mit der Tatsache, dass die Jeziden in den nicht unter kurdischer Verwaltung stehenden Landesteilen des Irak nunmehr einer Gruppenverfolgung durch nicht-staatliche Akteure unterliegen, ist das entscheidende Argument für die Zulässigkeit des Widerrufs auch der Eigenschaft von Flüchtlingen aus dem Nordirak, nämlich der landesweite Wegfall der Gefahr einer politischen Verfolgung durch den irakischen Staat mit Ende des Irak-Krieges (BVerwG, Urt. vom 25.8.2004 - BVerwG 1 C 22.03 -, NVwZ 2005 S. 89, 90), gegenstandslos geworden. Insoweit dürfte in Bezug auf die Situation der Jeziden im Irak keine entscheidende Änderung der Tatsachenlage im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsyIVfG eingetreten sein. Denn, dass den Klägern als Jeziden aus dem sogenannten Zentralirak (hier: Sinjar) im Norden des Landes eine inländische Fluchtalternative zur Seite stand, war bereits im Zeitpunkt der Zuerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft der Kläger in den Jahren 1996 und 1998 Tatsachenlage. Gerade aus diesem Grund hatte das Verwaltungsgericht im Verfahren 6 A 8188/99 den Prozesskostenhilfeantrag der Klägerinnen zu 2. bis 4. mit Beschluss vom 10. Juni 1999 abgelehnt. Eine andere Erkenntnislage oder Bewertung der bereits seit den 90er Jahren bestehenden inländischen Fluchtalternative für Jeziden in Nordirak allein berechtigt aber nicht zum Widerruf der Flüchtlingseigenschaft (BVerwG, Urt. vom 19.9.2000, a.a.O.).

Diese Rechtsfrage kann vorliegend aber offen bleiben, denn es liegen keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass die Kläger heute vor der Gefahr, im Irak eine politische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu erleiden, in eine der drei kurdisch verwalteten Nordprovinzen des Landes ausweichen und dort eine ausreichende Lebensgrundlage finden könnten. Selbst für muslimische Kurden, die nicht ursprünglich in den Provinzen Dohuk, Arbil und Sulaimaniya registriert waren, bestehen nur dann ausreichende Möglichkeiten einer Niederlassung in einer dieser Provinzen, wenn sie dort zum Einen über persönliche Beziehungen verfügen ("Sponsor"), die ihnen die Registrierung und damit im Ergebnis die Einbeziehung in die Verteilung grundlegender Versorgungsleistungen ermöglichen, und zum Anderen über verwandtschaftliche oder andere Kontakte in die sozialen Strukturen eingebunden werden können (UNHCR, Gutachten vom 28.7.2007 für das VG Berlin. S. 15 ff.).