VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 15.01.2008 - 8 K 1733/06.A - asyl.net: M13172
https://www.asyl.net/rsdb/M13172
Leitsatz:

Hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung für Yeziden aus der Türkei.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Jesiden, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Situation bei Rückkehr, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, zwingende Gründe, Religion, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, Schmerzsyndrom, Depression, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, yesil kart, Grüne Karte
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung für Yeziden aus der Türkei.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Bescheide vom 28.04.2006 sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten. Sie haben auch keinen Anspruch auf die Feststellungen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG oder des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (Richtlinienumsetzungsgesetz) geltenden Fassung (im Folgenden: Asylverfahrensgesetz 2007) sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG - früher § 51 Abs. 1 AuslG - vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Die Kläger sind seinerzeit vom Bundesamt als Asylberechtigte anerkannt worden, weil sie als glaubensgebundene Jeziden angesehen wurden und sie als solche in früheren Jahren in der Südosttürkei von einer religiös bedingten Gruppenverfolgung betroffen waren. Die hierfür maßgeblichen Verhältnisse haben sich indes für Jeziden so weit verbessert, dass die Anerkennung als Asylberechtigte, die Gewährung von Abschiebungsschutz und die Feststellung von Abschiebungsverboten nicht länger aufrechterhalten werden kann.

Nach dem Urteil des OVG NRW vom 14.02.2006 - 15 A 2119/02.A - besteht jetzt keine beachtliche Wahrscheinlichkeit mehr dafür, dass Jeziden einer asylerheblichen Gruppenverfolgung in der Türkei ausgesetzt sind. Dieser Rechtsprechung ist das erkennende Gericht gefolgt. Auch nach Auswertung weiterer neueren Erkenntnisquellen geht die Kammer in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass derzeit keine Gruppenverfolgung der Jeziden in der Türkei mehr stattfindet.

Auch das OVG NRW hat seine Rechtsprechung nach Auswertung weiterer Erkenntnisquellen bestätigt (OVG NRW, Urteil vom 27.08.2007 - 15 A 4224/02.A -).

Darüber hinaus steht zur Überzeugung des Gerichts auch fest, dass Jeziden - ausgehend vom Prognosemaßstab einer bereits erlittenen Verfolgung - bei einer Rückkehr in ihre Heimat sogar hinreichend sicher vor erneuter Verfolgung sind und insoweit auch eine gravierende Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG 2007 für solche Jeziden feststellbar ist, die seinerzeit die Türkei wegen stattgefundener oder unmittelbar bevorstehender eigener Verfolgungsbetroffenheit verlassen haben. Für das Gericht verbleiben keine ernsthaften Zweifel daran, dass Jeziden im Südosten der Türkei vor erneut einsetzender Verfolgung sicher sind (so inzwischen auch OVG NRW, Urteil vom 31.08.2007 - 15 A 5128/04.A -, zitiert nach milo.bamf.de).

Anhaltspunkte, die die Möglichkeit einer erneuten Verfolgung nicht ganz entfernt erscheinen lassen, sind nicht ersichtlich. Auch der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab erfordert nicht, dass selbst vereinzelte künftige Verfolgungshandlungen auszuschließen sind.

Die Frage der hinreichenden Sicherheit vor erneuter Verfolgung steht tatsächlich in engem Zusammenhang mit der § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG 2007 zu entnehmenden Voraussetzung, dass die für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse sich erheblich und nicht nur vorübergehend geändert haben müssen. In Bezug auf beide Fragestellungen ist festzuhalten, dass asylerhebliche Übergriffe der Häufigkeit und Art, die in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts die Annahme einer Gruppenverfolgung der Jeziden begründet haben, seit 2003 nur noch ganz vereinzelt vorgekommen sind. Weitere erhebliche Änderungen lassen sich im Verhältnis der derzeit in der Region lebenden Jeziden zur moslemischen Mehrheitsbevölkerung und bei der Schutzbereitschaft des türkischen Staates feststellen; seine Schutzfähigkeit ist schon im Urteil des OVG NRW vom 24.11.2000 - 8 A 4/99.A - nicht in Zweifel gezogen worden. Für das Verhältnis zwischen Jeziden und moslemischer Mehrheitsbevölkerung gilt Folgendes: Nach der Stellungnahme des jezidischen Forums Oldenburg vom 04.07.2006 lebten am 30.03.2006 524 Jeziden in der Region, davon die meisten in den Kreisen Viransehir, Besiri und Nusaybin. Zu diesen gehören neben denjenigen, die die Türkei nie für längere Zeit verlassen haben, auch eine nicht unerhebliche Anzahl von Rückkehrern, vor allem aus der Bundesrepublik Deutschland. Die Jeziden, die immer in der Türkei und insbesondere in dieser Region geblieben sind, sind von Verfolgungshandlungen verschont geblieben, weil sie entweder für die moslemische Mehrheitsbevölkerung unbedeutend waren oder sich arrangiert hatten. Die Rückkehrer werden von der sozialen Umgebung sicher aufmerksam beobachtet, sind aber aufgrund ihres relativen Wohlstandes offenbar in der Lage, auch mit der einheimischen moslemischen Bevölkerung geschäftliche Kontakte zu knüpfen und darüber Anerkennung sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den staatlichen Stellen zu finden. Für diese Bewertung der Dinge spricht das Gesamtbild der Schilderungen und Angaben, die sich in den Berichten aus den Jahren 2006 und 2007 finden. Insbesondere spricht das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme vom 26.01.2007 (Seite 8) ebenso wie im aktuellen Lagebericht vom 25.10.2007 (Seite 20) von einer nennenswerten Anzahl von Jeziden in der Region, die "zeitweise auch in Deutschland" leben (allein im Kreis Besiri 150). Gerade diese Jeziden, die ohne Not in die Region zurückkehren, belegen damit eindrucksvoll, dass sie auf eine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Verhältnisse vertrauen. Auch wenn dieses Vertrauen aus unterschiedlichen Gründen in dem einen oder anderen Fall enttäuscht worden sein sollte, kann der Rückkehrbewegung das Gewicht nicht abgesprochen werden, das für die Annahme einer dauerhaften Veränderung der Verhältnisse erforderlich ist. In Bezug auf die konkreten Zahlen von Rückkehrern wirken im Übrigen die Angaben des jezidischen Forums in der Stellungnahme vom Juni 2006 (Seite 12) keinesfalls vertrauenswürdiger als die genannten Zahlen des Auswärtigen Amtes.

Zur Änderung der Lage hinsichtlich der Schutzbereitschaft des türkischen Staates verweist das Gericht auf die entsprechenden Ausführungen im Urteil des OVG NRW vom 14.02.2006 - 15 A 2119/02.A -, S. 23 ff., denen es folgt.

Die Kläger sind bei einer Aufenthaltnahme in der Türkei außerdem hinreichend sicher vor einer asylerheblichen Verletzung des religiösen Minimums. Auch für glaubensgebundene Jeziden schließe das Fehlen ausreichender priesterlicher Betreuung und das Leben ohne eine funktionierende Gemeinde aber die Religionsausübung in ihrem Kernbereich nicht ohne weiteres aus. Unabhängig davon läge eine Verletzung des religiösen Existenzminimums nur dann vor, wenn die Religionsausübung in ihrem unverzichtbaren Kern durch staatliche oder dem Staat zurechenbare Eingriffe unmöglich gemacht würde. Der Heimatstaat sei nicht zur Gewährleistung einer bestimmten religiösen Infrastruktur verpflichtet. Religiöse Beeinträchtigungen der Jeziden beruhten nicht auf staatlichen oder dem Staat zurechenbaren Eingriffen, sondern seien lediglich tatsächliche Folge der vergleichsweise geringen Zahl von in der Türkei lebenden Jeziden (Bl. 26 des amtlichen Umdrucks).

Dieser Wertung schließt sich das erkennende Gericht an. Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass Jeziden ohnehin nicht nach außen hin erkennbar auf gemeinsame Gebete oder rituelle Handlungen in einer speziellen Versammlungsstätte oder Kirche angewiesen sind, sich die Ausübung der Religion im Alltag vielmehr auf den innerfamiliären bzw. innerhäuslichen Bereich beschränkt.

Auch § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG 2007 steht dem Widerruf nicht entgegen.

Vorliegend ist eine Unzumutbarkeit der Rückkehr auch dann nicht anzunehmen, wenn im Heimatort der Kläger keine Familienangehörigen oder sonstigen jezidischen Familien mehr leben sollten. Das Gericht geht nämlich davon aus, dass die Kläger, gegebenenfalls mit weiteren Familienangehörigen, in eines der Dörfer oder Wohngebiete in den Kreisen Besiri oder Viransehir ziehen können, in denen noch eine nennenswerte Anzahl von Jeziden lebt (vgl. dazu die Ausführungen im Gutachten von Baris vom 17.04.2006, S. 2-5, und die Stellungnahme des jezidischen Forums Oldenburg vom 04.07.2006, S.1 2). Für die Zumutbarkeit der Rückkehr unter wirtschaftlichen Aspekten gilt im Rahmen von § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG 2007 dasselbe wie nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Das Gericht geht insoweit mit dem OVG NRW davon aus, dass Rückkehrer in der Türkei, wenn auch oft nicht ohne anfängliche Schwierigkeiten, den notwendigen Lebensunterhalt finden können. Es ist die Solidarität in der Großfamilie, aber auch vonseiten sonstiger Bezugspersonen im Sinne des in der Türkei geltenden Verwandtschaftsbegriffs, die es in den allermeisten Fällen verhindert, dass in der Türkei zur Migration gezwungene Menschen Schaden an Leib und Seele nehmen.

Eine Unzumutbarkeit in diesem Sinne lässt sich hier auch nicht aus den möglicherweise eingeschränkten Möglichkeiten der Religionsausübung, die schon weiter oben im Rahmen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG 2007 erörtert worden ist, herleiten. Insofern kann nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG 2007 im Ergebnis kein anderer Maßstab gelten.

Wegen einer bei Rückkehr in die Türkei notwendig werdenden medizinischen Behandlung kann im Allgemeinen eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs.7 Satz 1 AufenthG nicht angenommen werden. Die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung ist durch das öffentliche Gesundheitssystem und den sich ausweitenden Sektor privater Gesundheitseinrichtungen - wenn auch nicht auf hohem Niveau - grundsätzlich sichergestellt (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19.04.2005 - 8 A 273/04.A -, Bl. 126 des amtl. Umdrucks).

Es besteht auch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Kläger die erforderlichen medizinischen Behandlungen in der Türkei nicht finanzieren könnten. Bei Mittellosigkeit haben sie die Möglichkeit, sich von der Gesundheitsverwaltung die "grüne Karte" (Yesil Card) ausstellen zu lassen, die zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem berechtigt. Während des Zeitraums bis zur Ausstellung der grünen Karte, der mehrere Wochen bis zu wenigen Monaten dauern kann, ist eine sofortige Behandlung akut erkrankter Personen im staatlichen Gesundheitssystem möglich; die "Stiftung für Sozialhilfe" kann zudem eintreten, wenn und soweit die Kosten medizinischer Versorgung durch die "Yesil Card" nicht gedeckt sind (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19.04.2005 - 8 A 273/04.A -, Bl. 127, m.w.N.).