VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 09.04.2008 - 3 UE 460/06.A - asyl.net: M13175
https://www.asyl.net/rsdb/M13175
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung nach Übergriffen wegen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der "in Tschetschenien geborenen kaukasischen Volkszugehörigen, die während des Tschetschenienkrieges dort gelebt haben".

 

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Armenier, Christen, Anerkennungsrichtlinie, Verfolgungsbegriff, Vorverfolgung, Übergriffe, Folter, Inhaftierung, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Gruppenverfolgung, soziale Gruppe, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Beurteilungszeitpunkt, Terrorismusbekämpfung, Verfolgungsdichte, Sicherheitslage, Maschadow, Situation bei Rückkehr, Verfolgungssicherheit, Kämpfer (ehemalige), Separatisten, Verdacht der Unterstützung, Geheimdienst, FSB, Sippenhaft, Amtswalterexzesse, Filtrationslager, Verfahrensrecht, Gerichtssprache, Herkunftsländerinformationen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 3; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. d; GVG § 184
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung nach Übergriffen wegen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der "in Tschetschenien geborenen kaukasischen Volkszugehörigen, die während des Tschetschenienkrieges dort gelebt haben".

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Berufungen der Beklagten sowie des Beteiligten, mit denen die Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Kassel vom 2. Juni 2004 - 2 E 1588/02.A - begehrt wird, sind aufgrund der Zulassung durch den Senat und auch sonst zulässig, aber unbegründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Recht verpflichtet, hinsichtlich der Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, der gemäß Art. 15 Abs. 3 des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 seit dem 1. Januar 2005 durch § 60 Abs. 1 AufenthG abgelöst wurde, festzustellen; denn die Ablehnung der Feststellung von Flüchtlingsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19, August 2007 (BGBl. I Nr. 42 S. 1970 ff.) stellt sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) als rechtswidrig dar, die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung von Flüchtlingsschutz.

Der Senat hat sich in seinem Grundsatzurteil vom 21. Februar 2008 - 3 UE 191/07.A - mit den Veränderungen, die sich aus der Umsetzung bzw. dem Inkrafttreten der QRL ergeben, sowie der Sicherheitslage tschetschenischer Flüchtlinge aus Tschetschenien befasst und ausgeführt: ...

Zu dieser Einschätzung hinsichtlich der anzuwendenden Prognosemaßstäbe, des maßgeblichen Zeitpunktes der Entscheidung sowie des für das Vorliegen eines internen Schutzes anzulegenden Prüfprogramms gelangt der Senat auch unter Berücksichtigung der von dem Bundesbeauftragten in Bezug genommenen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts in seiner Entscheidung vom 4. Januar 2007 - 1 B 47.03 - sowie unter Auseinandersetzung mit den von der Beklagten und dem Beteiligten eingeführten Entscheidungen anderer Oberverwaltungsgerichte mit ihren Schriftsätzen vom 3. August 2004 (Bl. 143ff. GA), 8. März 2006 (Bl. 164 GA) und 26. November 2007 (Bl. 197 GA) sowie unter Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Beteiligten, insbesondere in seinen Schriftsätzen vom 23. Juli 2004 (Bl. 129 GA), 20. März 2006 (Bl. 169 GA), 3. April 2008 (Bl. 236 GA) und dem in dem Parallelverfahren 3 UE 459/06.A eingereichten Schriftsatz vom 12. November 2007 (dort Bl. 166 GA).

Unter Zugrundelegung der oben genannten Prüfungsmaßstäbe sind die Kläger vorverfolgt im Sinne des Art. 4 Abs. 4 QRL aus ihrer Heimatregion Tschetschenien ausgereist, da dort ihr Leben und ihre Freiheit im Zeitpunkt ihrer Ausreise im August 2001 allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der aus Tschetschenien stammenden Kaukasier unmittelbar bedroht war (§ 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, Art. 4 Abs. 4 QRL).

Die Bedrohung der Kläger ging dabei unmittelbar aus von staatlichen Stellen (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a AufenthG), nämlich den dort stationierten russischen Einheiten und Sicherheitskräften, die in der Bekämpfung der tschetschenischen Rebellen bzw. Separatisten weit über das hinaus gegangen sind, was unter dem Gesichtspunkt einer legitimen Terrorismusbekämpfung bzw. der legitimen Bekämpfung von Separatismusbestrebungen eines Staates hingenommen werden kann (BVerfG, Beschluss vom 15.02.2000, 2 BvR 752/97, in juris-online: BVerwG, Urteil vom 25.07.2007, 9 C 28/99, in juris-online), wobei die tschetschenische Zivilbevölkerung gezielten Drangsalierungen, willkürlichen Verhaftungen, Verschleppungen, Verfolgungen bis hin zu Mord, Folterungen und Vergewaltigungen ausgesetzt war (vgl. auch AA, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 15.11.2000; ebenso AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28. August 2001). Hierbei hält der Senat auch nach erneuter Überprüfung an seiner Einschätzung der Situation in Tschetschenien im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger fest. Hierzu hatte der Senat in dem durch Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Januar 2007 - 4 B 47.06 - aufgehobenen Urteil vom 2. Februar 2006 3 UE 3021/03.A - ausgeführt: ...

Diese Feststellungen haben auch für den Kläger zu gelten, der im Zeitpunkt seiner Ausreise aus Tschetschenien im August 2001 als ethnischer Armenier, der in Tschetschenien geboren wurde und dort bis zu seiner Flucht gelebt hat und keiner anderen Situation ausgesetzt war als die aus Tschetschenien geflohenen ethnischen Tschetschenen.

Hinsichtlich der Klägerin als ethnischer Tschetschenin (die Klägerin ist väterlicherseits Tschetschenin und mütterlicherseits Russin) haben insoweit ohnehin keine Besonderheiten zu gelten.

Dabei gehört der Kläger gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG der sozialen Gruppe der aus Tschetschenien stammenden Kaukasier an, die allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe von den russischen Sicherheitskräften mit den oben beschriebenen flüchtlingsrelevanten Maßnahmen überzogen wurden.

Das Verfolgungsmerkmal der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gehört zu den ursprünglich in der Genfer Konvention niedergelegten Verfolgungsmerkmalen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Stand Februar 2006, § 60 Rdnr. 46). Gemäß Art. 10 Abs. 1 d) QRL gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Die Definition der Richtlinie entspricht dabei einem in der anglo-amerikanischen Rechtsprechung entwickelten Ansatz, der das Merkmal der sozialen Gruppe durch identitätsprägende gemeinsame Merkmale kennzeichnet, die so grundlegend sind, dass niemand gezwungen werden darf, sie aufzugeben, sofern es sich nicht ohnedies um unveränderliche Merkmale handelt (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 60 Rdnr. 48 m.w.N.). Erforderlich ist dabei eine deutlich abgegrenzte Identität, die als solche von der sie umgebenden Gesellschaft wahrgenommen wird und wegen der Andersartigkeit zu einer Schutzlosigkeit bzw. zu Verfolgungsmaßnahmen führt. Die Richtlinie stellt insoweit maßgeblich auf die Wahrnehmung als "andersartig" durch die Gesellschaft ab. Maßgeblich ist, ob eine Gruppe in diesem Sinne wegen der gemeinsamen Merkmale oder Überzeugungen als eine abgegrenzte Gruppe mit gemeinsamer Identität wahrgenommen wird, wobei die Mitglieder der Gruppe auch objektiv, d.h. ohne Rücksicht auf die Einschätzung durch die Gesellschaft, durch die Gemeinsamkeit von Merkmalen oder Überzeugungen oder sonstigen Merkmalen in ihrer Identität geprägt sein muss (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 60 Rdnr. 49).

Unter Anlegung dieser Maßstäbe sind die in Tschetschenien geborenen kaukasischen Volkszugehörigen, mithin Tschetschenen, Armenier, Tscherkessen und andere kaukasische Volksgruppen, die in Tschetschenien während des Tschetschenienkrieges dort noch gelebt haben, als soziale Gruppe im Sinne des Art. 10 Abs. 1 d QRL einzustufen, da sie von Seiten der russischen Sicherheitskräfte ohne weitere Differenzierung hinsichtlich ihrer konkreten Ethnie und ohne dass sie die Möglichkeit gehabt hätten, sich aufgrund ihrer armenischen Volkszugehörigkeit den Übergriffen durch die russischen Sicherheitskräfte und Soldaten zu entziehen, als Gruppe angesehen und eingestuft wurden und mit den oben beschriebenen flüchtlingsrelevanten Maßnahmen ebenso wie die ethnischen Tschetschenen überzogen worden sind. Nach Auswertung des ihm vorliegenden Erkenntnismaterials geht der Senat nämlich davon aus, dass der Kläger als armenischer Volkszugehöriger aus Tschetschenien im Zeitpunkt seiner Ausreise von den russischen Sicherheitskräften keiner anderen, insbesondere keiner milderen Behandlung unterworfen worden ist als die dort lebenden tschetschenischen Volkszugehörigen. Dies folgt bereits daraus, dass die von den russischen Sicherheitskräften verübten, flüchtlingsrelevanten Übergriffe teils in der Bombardierung von Siedlungen, teils in der wahllosen Verhaftung von dort ansässigen Personen etc. bestanden, Maßnahmen, bei denen auf Grund ihres flächendeckenden Charakters eine Differenzierung nach unterschiedlichen Ethnien nicht denkbar ist. Dabei ist auch davon auszugehen, dass die russischen Sicherheitsbehörden denjenigen Kaukasiern, egal welcher konkreten Ethnie sie angehörten, die auch noch während des 2. Tschetschenienkrieges dort verblieben sind, unterstellt haben dürften, im Zweifelsfalle mit den Rebellen unter einer Decke zu stecken.

Die Gruppe der Kaukasier hat auch in der Russischen Föderation eine deutlich abgegrenzte Identität, was insbesondere darin zum Ausdruck kommt, dass sie von anderen Bewohnern der Russischen Föderation als "Schwarze" bzw. "Dunkelhäutige" bezeichnet und degradiert (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.01.2008) bzw. als "Schwarzärsche" diffamiert werden (Prof. Dr. Luchterhandt, 09.05.2007 an Hess. VGH).

Dem Umstand, dass der Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise insbesondere wegen seiner christlichen Religionszugehörigkeit, gegebenenfalls aber auch wegen seiner besonderen Stellung zu den ethnischen Russen (vgl. Prof. Dr. Luchterhandt an Hess. VGH, Bl. 212 GA) auch von ethnischen Tschetschenen drangsaliert und bedrängt worden ist, kommt dabei keine besondere Bedeutung zu. Dies bereits deshalb nicht, weil die Maßnahmen in der für die Anerkennung einer Verfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 QRL relevanten Verfolgungsdichte bereits allein durch das Vorgehen der russischen Einheiten (militärische Einheiten und sonstige Sicherheitskräfte) verwirklicht worden sind, die Gefährdungen durch ethnische Tschetschenen, soweit sie überhaupt als flüchtlingsrelevant angesehen werden sollten, also lediglich noch hinzukämen, ohne dass dies flüchtlingsrechtlich von eigenständiger und entscheidender Bedeutung wäre.

Die Kläger sind jedoch zusätzlich zu den festgestellten gruppenrelevanten Verfolgungsmaßnahmen auch aus individuellen Gründen als vorverfolgt ausgereist anzusehen.

Der Senat glaubt dem Kläger, dass er insgesamt zweimal, einmal Anfang des Jahres 2000 und dann von April 2001 bis August 2001 gemeinsam mit seinem Bruder, dem Kläger des Verfahrens 3 UE 459/06.A durch russische Sicherheitskräfte verhaftet worden ist und jeweils mit flüchtlingsrelevanten Maßnahmen überzogen worden ist. Ebenso glaubt der Senat der Klägerin, dass sie Anfang des Jahres 2000 gemeinsam mit dem Kläger sowie dem Bruder des Klägers (3 UE 459/06.A) verhaftet und mit flüchtlingsrelevanten Maßnahmen überzogen worden ist und schließlich während der zweiten Inhaftierung des Klägers von den russischen Sicherheitskräften bedrängt worden ist.

Soweit der Beteiligte in seinem Schriftsatz vom 3. April 2008 sinngemäß ausführt, allein der Umstand der Klagerücknahme bezüglich Art. 16 a GG belege, dass die Schilderungen in maßgeblichen Bereichen nicht zuträfen und dies wohl auch von der Klägerseite eingeräumt werde, ist dem entgegen zu halten, dass die Kläger nach entsprechender Erläuterung durch die Berichterstatterin hinsichtlich der rechtlichen Tragweite einer Asylanerkennung im Verhältnis zur Zuerkennung von Flüchtlingsschutz gem. § 60 Abs. 1 AufenthG in dem Erörterungstermin ihre Klage auf Zuerkennung von Asyl zurückgenommen haben, ohne dabei erkennbar ihren bisherigen Vortrag in Frage zu stellen.

Auch soweit der Beteiligte die Unglaubwürdigkeit des Klägers aus den Umständen seiner Freilassung bzw. der Lage des von ihm so bezeichneten "Hospitals" bzw. Lazaretts ableiten will, folgt dem der Senat nicht. Soweit der Beteiligte zur Beschreibung der Zustände in den Filtrationslagern auf Erkenntnisse von Human Rights Watch "Welcome to Hell" www.hrw.org/reports/2000/russia_chechnya4/; vgl. Bl. 221 GA 3 UE 459/06.A) Urus-Martan - arbitrainess, beating, tortures" (http://www.memo.ru/eng/hr/urus1.htm) und "War Crimes and Human Rights Violations in Chechnya (http://www.crimesofwar.orq/expert/chech-oleq.htim) verweist, handelt es sich um gerichtlicherseits nicht verwertbare Auskünfte, da sie nicht in deutscher Sprache vorgelegt worden sind (§ 184 GVG). Allerdings sind dem Senat die Verhältnisse in den von den russischen Sicherheitskräften eingerichteten Filtrationslagern bekannt. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes in seinem Ad hoc Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 27. November 2002 berichteten 1999 und 2000 internationale und russische Menschenrechtsorganisationen über die Einrichtung sogenannter Filtrationslager oder -punkte. Nach russischer Lesart dienten sie dem Zweck, tschetschenische Terroristen unter den Flüchtlingen aufzuspüren. Die genannten Menschenrechtsorganisationen gingen aufgrund von Augenzeugenberichten zunächst von dem Betreiben mindestens eines solchen russischen "Filtrationslagers" an der Grenze zwischen Inguschetien und Tschetschenien aus. Dort soll es abgeschirmt von der Öffentlichkeit zu Folterungen (z.B. Elektroschocks, Schläge u.a. auf den Kopf und den Rücken mit Metallhammer und Vergewaltigungen) durch russische Spezialkräfte gekommen sein. Inzwischen könne auf Grund von Augenzeugenberichten und auch Filmaufnahmen davon ausgegangen werden, dass es in und um Grosny weitere Filtrationslager gebe, in denen auch systematisch gefoltert werde. Darüber hinaus werde immer wieder über sogenannte "Filtrationspunkte" berichtet, die von russischen Sicherheitskräften und in vergleichbarer Art auch von tschetschenischen Rebellen unterhalten würden. Damit gemeint sei zum Beispiel, dass Gefangene glaubhaften Berichten zufolge in Erdlöchern gehalten worden seien (vgl. AA, Ad hoc Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 27.11.2002). Dabei geht der Senat davon aus, dass die von den russischen Sicherheitskräften betriebenen Filtrationslager und -punkte weder jemals vollständig erfasst worden sind noch die Ausgestaltung und Ausstattung der Lager im Detail auch heute noch einer exakten Überprüfung unterzogen werden können.

Hinsichtlich der Umstände der Flucht glaubt der Senat den Ausführungen des Klägers, für Geld könne man in Tschetschenien alles bekommen (Bl. 28 BA), was auch der Auskunftslage entspricht.

Dabei sind die von den Klägern erlittenen Maßnahmen nicht durch legitime Terrorismusbekämpfungsmaßnahmen auf Seiten des russischen Staates gerechtfertigt.

Zwar konnte und kann den russischen Sicherheitskräften nicht die Berechtigung zu auch flächendeckenden Fahndungsmaßnahmen nach den in Tschetschenien tätigen Terroristen, die Tschetschenien von der Russischen Föderation abspalten und dort einen islamischen Staat ausrufen wollten, abgesprochen werden. Die unter dem Vorbehalt der Terrorismusabwehr durchgeführten Maßnahmen der russischen Sicherheitskräfte stellten sich jedoch zu einem sehr hohen Anteil als flüchtlingsrelevante Maßnahmen dar, da sie wahllos die dort lebenden Kaukasier in Visier nahmen und es anlässlich der - grundsätzlich gerechtfertigten - Sicherheitskontrollen in ganz erheblichen Umfang zu massiven menschenrechtswidrigen Übergriffen, oft einhergehend mit massiven körperlichen Übergriffen, gekommen ist, die eindeutig über das hinausgingen, was einem Staat als legitime Selbstverteidigungsmaßnahme gegen separatistische Bestrebungen zugebilligt werden kann.

Bei diesen von den Klägern beschriebenen Maßnahmen handelt es sich auch nicht um reine "Amtswalterexzesse", die dem russischen Staat nicht zugerechnet werden könnten, da einzelne Personen über das ihnen staatlicherseits erlaubte hinausgegangen wären. Vielmehr ist es nach den bereits oben ausgewerteten Auskünften zur Sicherheitslage in Tschetschenien im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger in großer Zahl zu derartigen Übergriffen gekommen, die von Seiten der russischen Verantwortlichen weder gesühnt noch sonst irgendwie geahndet wurden. Vielmehr gehörte es offensichtlich zu der Einschüchterungspolitik der russischen Sicherheitskräfte, dem russischen Militär bzw. den vor Ort tätigen Sicherheitskräfte freie Hand zu lassen und Übergriffe gegenüber der Zivilbevölkerung gerade und besonders auch gegenüber unter Terrorismusverdacht festgenommen Personen letztendlich durch die völlige Straflosigkeit der jeweiligen Täter zu befördern, wenn nicht gar als gezieltes Mittel zu Einschüchterung zu benutzen (vgl. amnesty international, Länder und Asyl, 8.10.2001; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 28. August 2001; Bundesamt, Informationszentrum Asyl, Russische Föderation, Tschetschenien-Konflikt, Januar 2001). Dabei ging selbst das Bundesamt im Jahr 2001 davon aus, dass die russische Armee im Jahr 2001 in Tschetschenien in der Realität unter dem Deckmantel einer anti-terroristischen Kriegsführung eine Vernichtungsstrategie verfolgt hat, wobei die Armeeführung unfähig aber auch nicht Willens war, die eigenen Soldaten in den Griff zu bekommen, was zu massiven Menschenrechtsverletzungen geführt habe (Bundesamt, Russische Föderation, Der Tschetschenien-Konflikt, Januar 2001).

Dabei entfällt nach den oben gemachten Ausführungen im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger die - zusätzliche - Prüfung des Vorliegens einer internen Schutzmöglichkeit, da für Artikel 4 Abs. 4 QRL allein ausschlaggebend die unmittelbar drohende bzw. eingetretene Verfolgung - und sei es nur in einem Teil des Heimatlandes - ist, was im Fall der Kläger sowohl aus gruppengerichteten als auch aus individuellen Gründen zu bejahen ist.

Bei dem Kläger ist jedoch davon auszugehen, dass er von den russischen Sicherheitskräften als "Terrorist" gemeinsam mit seinem Bruder verhaftet worden ist und in ein Filtrationslager gesteckt worden ist, wobei er nicht offiziell auf freien Fuß gesetzt wurde, sondern durch Bestechungsgelder sich illegal hat freikaufen können.

Dabei ist davon auszugehen, dass der Föderale Sicherheitsdienst (FSB) Listen der Tschetschenienkämpfer führt (vgl. VGH München, Urteil vom 24.10.2007, 11 B 03.30710, in juris-online unter Verweis auf Auswärtiges Amt an VG Braunschweig vom 18.02.2003) und eine Rückkehr in ein normales Leben nur für Personen möglich ist, die nicht aktiv an Kampfhandlungen teilgenommen haben (Auswärtiges Amt an Hess. VGH vom 06.08.2007) und mögliche Tschetschenienkämpfer von den russischen Strafverfolgungsbehörden gesucht, befragt und ggf. verurteilt werden (vgl. VGH München, Urteil vom 24.10.2007. 11 B 03_30710, in juris-online).

Der Senat geht hinsichtlich der Klägerin davon aus, dass auch sie aufgrund ihrer Festnahmen und des Vorwurfs, "Scharfschützin" zu sein, registriert wurde und zudem als Ehefrau des Klägers gleichsam in Sippenhaft genommen wird.

Auch unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie hat bei nicht nur aus gruppenbezogenen Gründen sondern darüber hinaus individuellen Gründen vorverfolgten Flüchtlingen der höchste Prognosemaßstab zu gelten, den die Qualifikationsrichtlinie in der in Art. 4 Abs. 4 QRL enthaltenen Rückausnahme zum Ausdruck bringt und der zudem bei Anwendung der in Art. 8 Abs. 1 QRL enthaltenen Zumutbarkeitsschranke, ob nämlich von dem Flüchtling vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich am Ort des internen Schutzes niederlässt, zu berücksichtigen ist.

Dabei ist nach der gesetzlichen Wertung im Regelfall davon auszugehen, dass bei einem vorverfolgt ausgereisten Flüchtling seine Furcht vor Verfolgung begründet ist und nur bei Vorliegen besonderer, stichhaltiger Gründe, dieser Regelfall durchbrochen wird, wobei das Regel-/Ausnahme-Verhältnis noch restriktiver zu Gunsten des Flüchtlings zum Tragen kommen muss, je mehr er nicht "nur" vor gruppengerichteten Verfolgungsmaßnahmen, sondern zudem als individuell Verfolgter geflohen ist.

Bei Festsetzung durch den FSB als Terrorismusverdächtiger kann nämlich nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass es dort nicht wieder zu Übergriffen der Sicherheitsbehörden kommt, im Fall einer Rückkehr nach Tschetschenien und Bekanntwerden der unterstellten Tätigkeit der Kläger für die tschetschenischen Rebellen muss sogar davon ausgegangen werden, dass sie dort mit Verfolgungsmaßnahmen durch die Kadyrow-Truppen zu rechnen haben. Der Senat hat dabei zur allgemeinen Sicherheitslage für rückkehrende Tschetschenen in seiner Entscheidung vom 21. Februar 2008 im Wesentlichen ausgeführt: ...

In Anbetracht der Tatsache, dass nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen Kaukasier ohnehin einer Art Generalverdacht unterliegen, sie in den übrigen Regionen der Russischen Föderation eher als unerwünscht angesehen werden und bei Hinzutreten eines unterstellten oder vermutetenTerrorismusverdachts die Gefahr erneuter Folter und menschenrechtswidriger Übergriffe besteht, sind die Voraussetzungen der Rückausnahme des Art. 4 Abs. 4 QRL im Fall der Kläger nicht gegeben.