VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 25.03.2008 - 2 K 1706/07.A - asyl.net: M13189
https://www.asyl.net/rsdb/M13189
Leitsatz:

Verfolgungsgefahr im Iran wegen ernsthafter Konversion zum Christentum; Verfolgungsgefahr bei öffentlicher Religionsausübung; zur besonderen Gefährdung von christlichen Kindern und Jugendlichen durch religiös geprägten Schulunterricht.

 

Schlagwörter: Iran, Christen, Apostasie, Konversion, Folgeantrag, Religion, Religionsfreiheit, religiös motivierte Verfolgung, Minderjährige, Kinder, subjektive Nachfluchtgründe
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; AsylVfG § 28 Abs. 2; GG Art. 4 Abs. 1
Auszüge:

Verfolgungsgefahr im Iran wegen ernsthafter Konversion zum Christentum; Verfolgungsgefahr bei öffentlicher Religionsausübung; zur besonderen Gefährdung von christlichen Kindern und Jugendlichen durch religiös geprägten Schulunterricht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Soweit der angegriffene Bescheid des Bundesamtes die beiden Klägerinnen betrifft, ist er rechtswidrig und verletzt sie in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO). Sie haben im maßgebenden Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG) einen Anspruch darauf, dass die Beklagte auf ihren Folgeantrag vom 3. November 2006 hin bei ihnen das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) hinsichtlich des Iran feststellt, weil ihnen im Falle der Rückkehr in den Iran wegen ihres christlichen Glaubens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht.

Zunächst ist festzustellen, dass das Gericht keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Übertritts der Klägerinnen zum christlichen Glauben hat. Im Hinblick auf die Frage, ob ein iranischer Asylbewerber tatsächlich aufgrund religiöser Überzeugung den christlichen Glauben angenommen hat, ist allerdings zu berücksichtigen, dass nach der Auskunftslage der Glaubenswechsel häufig auch aus asyltaktischen Erwägungen vollzogen wird (vgl. Deutsches Orient-Institut (DOI), Auskunft vom 27. Februar 2003 an das VG Münster (454); Bundesamt, Der Einzelentscheider-Brief 2005 Heft 3, S. 5).

Hiervon ist im Falle der Klägerinnen aber nicht auszugehen.

Haben sich die Klägerinnen damit ernsthaft vom Islam abgewandt und sind sie zur christlichen Religion übergetreten, droht bei Rückkehr in den Iran politische Verfolgung, weil sie dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatlichen Zwangsmaßnahmen ausgesetzt wären, wenn sie ihren christlichen Glauben nach außen erkennbar, etwa durch eine regelmäßige Teilnahme an öffentlichen Gottesdiensten, praktizierten. Dabei geht das erkennende Gericht davon aus, dass asyl- bzw. abschiebungsrelevante Eingriffe wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion nicht erst dann vorliegen, wenn die Religionsausübung auch im privaten Bereich, also abseits der Öffentlichkeit und in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen dort, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen darf, verfolgt wird (Vgl. zu diesem Verständnis des religiösen Existenzminimums etwa BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478, 962/86-, BVerfGE 76, 143 (158 ff.), und BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2004 - 1 C 9.03 -, BVerwGE 120, 16).

Asylrelevante Eingriffe sind vielmehr auch dann anzunehmen, wenn die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich in Gemeinschaft mit anderen mit einer Gefahr für Leben oder Freiheit verbunden ist. Das ergibt sich au einer Auslegung von § 60 Abs. 1 AufenthG im Lichte von Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie.

Das Gericht hält im Hinblick auf Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie an der von der Rechtsprechung bislang vorgenommenen einschränkenden Auslegung des asylrechtlich geschützten Bereichs der Religion nicht mehr fest. Denn diese Bestimmung bezeichnet ausdrücklich die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich und in Gemeinschaft mit anderen als integralen Bestandteil von Religion im Sinne des Asylrechts.

Nähmen die den Geboten ihrer christlichen Konfession verpflichteten Kläger nach einer Rückkehr in den Iran an öffentlichen christlichen Gottesdiensten teil, drohten ihnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante bzw. abschiebungsrelevante staatliche Zwangsmaßnahmen. Die Kammer bewertet die einschlägigen Erkenntnisse sachverständiger Stellen dahin gehend, dass konvertierte Muslime seit über zwei Jahren öffentliche christliche Gottesdienste nicht mehr besuchen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, festgenommen und möglicherweise unter konstruierten Vorwürfen zu Haftstrafen verurteilt zu werden.

Während die traditionellen, ethnisch geprägten christlichen Glaubensgemeinschaften, die armenisch-orthodoxe, armenisch-evangelische, die römisch-katholische und die assyrisch-chaldäische Kirche unbehelligt im Iran ihren Glauben praktizieren können, stellt sich die Situation der demgegenüber auch für muslimische Konvertiten offenen Gemeinden im Iran, zu denen die Kläger als Apostaten allein Zugang hätten, anders dar.

Hinzu kommt, dass sich die Situation aktuell weiter verschärft.

Unabhängig davon, ob die Situation zum Christentum konvertierter Moslems tatsächlich noch angespannter ist, als sich aus den oben genannten Quellen ergibt, ist bereits auf der Grundlage der vorstehend aufgeführten Erkenntnisse beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerinnen bei einer Rückkehr in den Iran nicht regelmäßig an religiösen Riten, wie zum Beispiel öffentlichen Gottesdiensten, teilnehmen könnten, ohne dass ihnen Festnahme und Inhaftierung drohten (so die Einschätzung der 2. Kammer des VG Düsseldorf seit dem Urteil vom 15. August 2006 - 2 K 2682/06.A -; ebenso VG Düsseldorf, Urteil vom 15. August 2006 - 22 K 350/05.A -, JURIS-Dokumentation, und VG Karlsruhe, Urteil vom 19. Oktober 2006 - A 6 K 10335/04 -, JURIS-Dokumentation; ähnlich VG Frankfurt a.M., Urteil vom 11.10.2006 - 7 E 3612/04.A (1) - und VG Neustadt a.d.W., Urteil vom 22. Mai 2006 - 3 K 22/06.NW -; a.A. VG Düsseldorf, Urteile vom 16. Oktober 2006 - 5 K 4336/06.A - und 8. Februar 2007 - 9 K 2279/06.A -).

Dem steht die Minderjährigkeit der Klägerinnen nicht entgegen. Bei einer Rückkehr in den Iran würden sie existenziellen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt, die eine Rückkehr unzumutbar machen. Diese Annahme liegt darin begründet, dass die Klägerinnen verpflichtet wären, sich in ein islamisch-fundamentalistisches Schulsystem einzugliedern und an dem streng religiös geprägten Unterricht teilzunehmen. Eine Möglichkeit, sich den Schulgebeten und dem Koranunterricht zu entziehen, besteht für konvertierte Muslime in einem Staat, der eine Trennung von Staat und Kirche - im Sinne von Religion - nicht kennt, dem der Grundsatz der Säkularität fremd ist, nicht. Die obligatorische Teilnahme am staatlichen, islamisch geprägten Unterricht mit seinen religiösen Riten widerspräche jedoch dem Kernbereich der von Art. 4 Abs. 1 GG umfassten negativen Religionsfreiheit, d.h. der Freiheit, eine religiöse Überzeugung auch ablehnen zu können. Von Kindern im Alter der Klägerinnen kann auch nicht erwartet werden, dass sie sich in der Schule den religiösen Vorgaben anpassen und sich "verstellen". Die ethisch-religiösen Widersprüche, die sich aus einer christlichen Erziehung im Elternhaus und den Anforderungen an die religiöse Betätigung in der Schule ergäben, könnten von den Klägerinnen auch nicht geheim gehalten werden. Da aber ein Religionswechsel von den Machthabern im Iran als Tätigkeit in einer verbotenen politischen Partei verstanden wird, wären die Klägerinnen im Falle einer Rückkehr in den Iran einer Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt (zur Religionsfreiheit bei schulpflichtigen Kindern im Iran: VG Darmstadt, Urteil vom 12. Januar 2006 - 5 E 1549/03.A -, juris. -).

Der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG wegen der infolge der Konversion drohenden politischen Verfolgung steht in Einklang mit der Bestimmung des § 28 AsylVfG (i.d.F. von Art. 3 Nr. 21 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007, BGBl 1 S. 1970, nachfolgend: n.F.). Zwar kann nach § 28 Abs. 2 AsylVfG n.F. in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden, wenn der Ausländer - wie hier die Klägerinnen - nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt und diesen auf Umstände stützt, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Asylantrags selbst geschaffen hat. Jedoch ergibt sich aus § 28 Abs. 1a AsylVfG n.F., der durch das Umsetzungsgesetz vom 19. August 2007 in § 28 AsylVfG n.F. eingefügt wurde, eine differenzierende Sichtweise. Danach kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.

Mit dem Zusatz "insbesondere" hat der Gesetzgeber erkennbar die zu § 28 Abs. 2 AsylVfG a.F. ergangene Rechtsprechung aufgegriffen, nach der eine Ausnahme vom Ausschlussgrund des § 28 Abs. 2 AsylVfG dann anerkannt wurde, wenn der Entschluss einer festen, bereits im Herkunftsland "erkennbar betätigten Überzeugung" entsprach (zur Rspr. zum § 28 Abs. 2 AsylVfG a.F. vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 5. September 2007 - 14 B 05.31261 -, m.w.N., juris; Nds. OVG, Beschluss vom 18. Juli 2006, 11 LB 75/06, juris; OVG NRW, Urteil vom 12. Juli 2005 - 8 A 780/04.A -, ZAR 2005, 422).

Kann das Nachfluchtverhalten in dieser Weise an das Vorfluchtgeschehen angeknüpft werden, liegt ein "Regelfall" im Sinne des § 28 Abs. 2 AsylVfG n.F. eben nicht vor. In dieser Konstellation können selbst in einem Folgeverfahren die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bei subjektiven Nachfluchtgründen festgestellt werden (zu dieser Auslegung des § 28 Abs. la AsylVfG n.F. auch VG Hannover, Urteil vom 7. Januar 2008 - 11 A 7850/06 -, juris).

Bei den Klägerinnen liegt der Ausschlussgrund des § 28 Abs. 2 AsylVfG n.F. nicht vor. Zwar kann bei ihnen nicht festgestellt werden, dass sie sich bereits im Iran dem Christentum zugewandt haben. Indes stellt sich bei ihnen die Frage nach einer persönlichkeits- und identitätsbildenden Lebenshaltung vor der Ausreise von vornherein nicht, weil sie hierfür zu jung waren bzw. nie dort gelebt haben. Eine entsprechende Wertung lässt sich § 28 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG n.F. entnehmen und geht letztlich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurück (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 20. Dezember 1989 - 2 BvR 749/89 - zur Asylerheblichkeit subjektiver Nachfluchtgründe).

Die Klägerin zu 1. ist bereits im Alter von fünf Jahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, während die Klägerin zu 2. überhaupt erst nach der Einreise ihrer Eltern in Deutschland geboren wurde. Eine Anknüpfung an ihr Vorfluchtverhalten kann deshalb bei ihnen nicht verlangt werden.