§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen Gefahr der Retraumatisierung im Kosovo nach Vergewaltigung; Gefahren durch Erkrankungen aus dem psychiatrischen Formenkreis sind keine allgemeine Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG; der Gefahr einer Retraumatisierung kann nicht durch eine Behandlung im Zielstaat der Abschiebung verhindert werden; zur Feststellung einer psychischen Erkrankung; keine Abschiebungsandrohung nach "Serbien und Montenegro" bei Personen, die aus dem Kosovo stammen.
§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen Gefahr der Retraumatisierung im Kosovo nach Vergewaltigung; Gefahren durch Erkrankungen aus dem psychiatrischen Formenkreis sind keine allgemeine Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG; der Gefahr einer Retraumatisierung kann nicht durch eine Behandlung im Zielstaat der Abschiebung verhindert werden; zur Feststellung einer psychischen Erkrankung; keine Abschiebungsandrohung nach "Serbien und Montenegro" bei Personen, die aus dem Kosovo stammen.
(Leitsatz der Redaktion)
Die Berufung hat Erfolg.
Das Verwaltungsgericht hätte der Klage stattgeben müssen, denn in der Person der Klägerin liegt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
Da die Klägerin aus dem Kosovo stammt, ist zu prüfen, ob dort die beschriebene "konkrete Gefahr" besteht. Dies galt schon bislang, da auf der Grundlage des Deutsch-jugoslawischen Rückübernahmeübereinkommens vom 16. September 2002 keine Minderheitenangehörige aus dem Kosovo in das restliche Gebiet der Bundesrepublik Jugoslawien zurückgeführt werden durften, und gilt erst recht seit der Unabhängigkeitserklärung der Republik Kosovo vom 17. Februar 2008 und der Anerkennung der Republik Kosovo durch die Bundesrepublik Deutschland am 20. Februar 2008.
Bei Erkrankungen aus dem psychiatrischen Formenkreis kann eine zielstaatsbezogene Verschlimmerung nicht als allgemeine Gefahr qualifiziert werden, die der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG unterliegt und nur im Falle einer extremen Zuspitzung zu einer Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch das Bundesamt führt, sondern sie ist nach dem Maßstab der "erheblichen konkreten Gefahr" in unmittelbarer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu beurteilen. Dies gilt im Falle des Vorliegens einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) selbst dann, wenn diese durch die Erlebnisse im Herkunftsstaat bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung ausgelöst wird. Es liegt nämlich in der Natur einer psychischen Erkrankung, dass sie von der Persönlichkeit und der Vorgeschichte des Erlebenden mitverursacht wird (OVG RP, Urteil vom 22. November 2007 - 1 A 11605/07.OVG - unter Verweis auf OVG NW, Urteil vom 16. Februar 2004 - 15 A 548/04.A -, juris; Hessischer VGH, Urteil vom 28. November 2005 - 7 UZ 153/05.A). Im Falle der Klägerin ist die Gefahr zudem schon deshalb eine individuelle, weil die Klägerin durch die von ihr geltend gemachten Vergewaltigungen in besonderer Weise betroffen ist.
Ausgehend von diesen Voraussetzungen liegt in der Person der Klägerin ein zielstaatsbezogenes Abschiebeverbot i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist davon auszugehen, dass die Klägerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Zu dieser Schlussfolgerung kommt der Sachverständige Dr. med. G. in seinem Gutachten vom 12. März 2008, welches sich auf eine Exploration der Klägerin und fremdanamnestische Angaben ihres Bruders sowie eine ambulante klinische Untersuchung der Klägerin und die Beobachtung ihres Verhaltens stützt.
Soweit die Beklagte die Verwertbarkeit des Gutachtens vom 12. März 2008 unter Hinweis auf die fehlende Überprüfung der Angaben der Klägerin zum erlittenen Trauma in Abrede stellt, übersieht sie, dass klinische Gutachten zu Fragen nach bestehenden Traumafolgen Aussagen nicht anhand der Kriterien der Aussagepsychologie analysieren. Klinische Gutachten können allenfalls wesentliche Anhaltspunkte enthalten, die für oder gegen den Erlebnisbezug von Aussagen zur traumatischen Vorgeschichte sprechen (VGH Ba-Wü, Beschluss vom 20. Oktober 2006 - A 9 S 1157/06 - VBlBW 2007, 116 -; VG Stuttgart, Urteil vom 14. Januar 2008 - 11 K 4941/07 -; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321 ff.; Gierlichs, ZAR 2005, 158 ff.). Zuzugeben ist der Beklagten allerdings, dass ohne das Vorliegen eines traumatischen Ereignisses die Diagnose PTBS nicht gestellt werden kann. Nach den beiden international anerkannten Diagnosesystemen, darunter das ICD-10, ist das Trauma ("belastendes Ereignis oder Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würden") unverzichtbares objektives Merkmal der PTBS.
Das behauptete traumatisierende Ereignis hat aber zur Überzeugung des Gerichts stattgefunden. Aufgrund der Anhörung der Klägerin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der Klagebegründung vom 17. Februar 2006, der Einvernahme der Klägerin in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts und der Anamnesen, die den Gutachten vom 09. Oktober 2006, vom 25. August 2007 und vom 12. März 2008 zugrunde lagen, ist der Senat überzeugt, dass die Klägerin tatsächlich vergewaltigt wurde. Dass die Klägerin nicht in der Lage gewesen ist, die Geschehnisse zeitlich widerspruchsfrei einzuordnen, vermag die Überzeugung von der Glaubhaftigkeit ihres Vorbringens nicht zu erschüttern. Denn die Einschränkung des Erinnerungsvermögens und der Fähigkeit zu einer schlüssigen Sachverhaltsschilderung gehört zu den Merkmalen einer PTBS (vgl. hierzu OVG RP, Urteil vom 23. September 2003 - 7 A 10186/03.OVG -, Asylmagazin 4/2004, S. 33; OVG Thüringen, Urteil vom 25.September 2003 - 3 KO 851/99 -, NVwZ-RR 2004, 455). Glaubhaftigkeitszweifel ergeben sich auch nicht daraus, dass die Klägerin die Vergewaltigung erst im Gerichtsverfahren geschildert hat. Bei traumatisierten Personen sind Gedächtnisstörungen krankheitsbedingt die Regel. Darüber hinaus verschweigen sie oft jene Ereignisse, die als besonders schmerzhaft erlebt wurden; dies gilt in besonderer Weise bei tabuisierten Verletzungen (Haenel/Birck, a.a.O.). Es ist daher zu berücksichtigen, wie die von der Klägerin erlittenen Vergewaltigungen innerhalb des traditionell denkenden Umfelds in ihrem Herkunftsstaat wahrgenommen werden. Da Vergewaltigungen nach wie vor ein großes Tabu in der kosovo-albanischen Gesellschaft darstellen, empfinden die betroffenen Frauen häufig Gefühle von Scham und Schuld; ihnen wird mit Misstrauen und Abneigung begegnet (vgl. hierzu VGH BaWü, Urteil vom 05. November 2007 – A 6 S 1097/05 -).
Nach alledem kommt das Gutachten vom 12. März 2008 nachvollziehbar zu dem Ergebnis, dass die Klägerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, die mit einer reaktiven Depression einhergeht und als mittel- bis schwergradig einzustufen ist. Ohne eine psychotherapeutische und psychiatrisch-medikamentöse Behandlung droht der Klägerin danach eine Verschlechterung der Symptomatik. Im Falle der Rückführung besteht darüber hinaus eine Selbstmordgefährdung, da nach den Ausführungen des Gutachters durch eine Abschiebung das Erlebte wiederauflebt und dies einen Suizid auslösen kann. Zudem zerfällt das stützende familiäre Umfeld. Auch diese Einschätzung wird dadurch gestützt, dass das Gutachten vom 25. August 2007 zum gleichen Ergebnis gelangt. Die ärztlichen Feststellungen – die wiederum Teil der klinischen Begutachtung sind und für die es keine eigene Sachkunde des Gerichts gibt – sind klar und schließen sich überzeugend an die erhobenen Befunde an. Durch eine Rückkehr in ihr Heimatland werden die Beziehungen, die der Klägerin momentan einen gewissen Halt geben, abgebrochen, so dass sie sich, wenn sie mit dem Ort des Traumas oder Personen, die dem Kreise der Täter in Aussehen oder Handlungsweise ähneln, konfrontiert wird, schutzlos fühlt und es zu einer weiteren Destabilisierung ihres Zustandes kommt (vgl. Gierlichs, a.a.O.).
Diese von den Sachverständigen diagnostizierte konkrete Gefahr einer Retraumatisierung begründet ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. OVG RP, Urteil vom 22. November 2007 1 A 11605/06.OVG -). Vorliegend steht nämlich nicht die Angst vor einer Abschiebung als solche im Vordergrund - die ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis begründen würde -, sondern eine Gefährdung der Klägerin durch ein Aktualisieren der Konflikte im Herkunftsstaat.
Die konkrete Gefahr im Falle einer Abschiebung in den Kosovo ist durch eine Behandlung der Klägerin im Zielstaat der Abschiebung nicht zu verhindern (zu der Möglichkeit der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen im Kosovo vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. November 2007, S. 20 ff., Deutsches Verbindungsbüro Kosovo an VG Düsseldorf vom 21. Juli 2006 und an VG Kassel vom 19. Juli 2006). Es ist nämlich allgemein anerkannt, dass eine erfolgreiche Therapie einer PTBS und der damit zusammenhängenden Suizidalität nur in einer beruhigten und auf Sicherheit gründenden Lebenssituation, das heißt ohne die Gefahr des Wiederaufkeimens der Befürchtungen, möglich ist (OVG RP, Urteil vom 23. September 2003 - 7 A 10186/03.OVG -, a.a.O., OVG Niedersachsen, Beschluss vom 26. Juni 2007 - 11 LB 398/05 -). Darauf weisen auch die Gutachten Dr. G. (vgl. Bl. 273 GA) und Dr. K. (vgl. Bl. 209 GA) ausdrücklich hin.
Nach alledem ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Klägerin im Falle einer Rückkehr in den Kosovo im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben droht, so dass die Beklagte unter Abänderung von Ziffer 3 des Bescheids vom 17. Januar 2006 zur Feststellung eines solchen Abschiebungsverbots verpflichtet ist. Dieses bezieht sich nunmehr auf die unabhängige und von Deutschland anerkannte Republik Kosovo. Hieraus folgt zugleich, dass auch die in Ziffer 4 des Bescheids enthaltene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung hinsichtlich des Zielstaates der Abschiebung abzuändern ist, denn nach § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist bei Feststellung eines Abschiebeverbotes in der Abschiebungsandrohung derjenige Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf. Die Androhung der Abschiebung nach "Serbien und Montenegro" kann keinen Bestand haben, da die Nennung dieses Zielstaates der Abschiebung anstelle des Kosovo ausschließlich in der fehlenden Staatlichkeit des Kosovo zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides begründet war.