BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 20.03.2008 - 1 C 33.07 - asyl.net: M13196
https://www.asyl.net/rsdb/M13196
Leitsatz:

Eine rechtswidrige bestandskräftige Ausweisung führt regelmäßig nicht zu einem Anspruch auf Rücknahme, sondern nur zu einem Anspruch auf ermessensfehlerfreie Bescheidung des Rücknahmebegehrens (Bestätigung des Urteils vom 23. Oktober 2007 - BVerwG 1 C 10.07 -).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Unionsbürger, Rücknahme, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Gemeinschaftsrecht, Widerspruchsverfahren
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1; RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1
Auszüge:

Das Berufungsgericht hat in Übereinstimmung mit revisiblem Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO) entschieden, dass der Kläger - über den bereits zugesprochenen Bescheidungsanspruch hinaus - keinen Anspruch auf Rücknahme der Ausweisung hat. Der Senat folgt der Auffassung des Berufungsgerichts, dass sich das Rücknahmeermessen im vorliegenden Fall nicht derart verdichtet hat, dass nur die Rücknahme der Ausweisung ermessensfehlerfrei wäre.

Das in § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG eröffnete Rücknahmeermessen belegt, dass ein zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führender Rechtsverstoß nur eine notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für die Rücknahme und einen darauf zielenden Anspruch des Betroffenen bildet. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander, sofern dem anzuwendenden Fachrecht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist (Urteil vom 17. Januar 2007 - BVerwG 6 C 32.06 - NVwZ 2007, 709 710>). Das ist vorliegend nicht der Fall; denn es gibt keinen Grund für die Annahme, das Ermessen bei der Entscheidung über die Rücknahme einer Ausweisung erweise sich durch die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes bzw. des Freizügigkeitsgesetzes/EU nach Sinn und Zweck als positiv intendiert (Urteil vom 23. Oktober 2007 - BVerwG 1 C 10.07 - NVwZ 2008, 326 328>, zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE bestimmt - Rn. 32).

Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht aber ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" erscheint, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt (Urteil vom 17. Januar 2007 - BVerwG 6 C 32.06 - a.a.O. m.w.N.). Allein die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts begründet - wie bereits gesagt - keinen Anspruch auf Rücknahme, da der Rechtsverstoß lediglich die Voraussetzung einer Ermessensentscheidung der Behörde ist. Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann "schlechthin unerträglich", wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben erscheinen lassen. Dafür geben die nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher für das Revisionsgericht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts keine Anhaltspunkte; zudem wäre zu berücksichtigen, dass der Kläger die Ausweisung nicht angefochten hat.

Darüber hinaus vermag die offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts, die sich zum Zeitpunkt des Erlasses beurteilt, die Annahme zu rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich (Urteil vom 17. Januar 2007 - BVerwG 6 C 32.06 - a.a.O.). Indes war die Ausweisungsverfügung vom 29. Mai 2000 im Erlasszeitpunkt nicht offensichtlich rechtswidrig.

Die Konsequenzen der in Baden-Württemberg erfolgten Abschaffung des behördlichen Vorverfahrens mit Blick auf Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, der für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts unmittelbar galt und bei Ausweisungen die Einschaltung einer unabhängigen zweiten Stelle neben der Ausländerbehörde gebot ("Vier-Augen-Prinzip"; vgl. dazu Urteile vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217 221 ff.> und vom 9. August 2007 - BVerwG 1 C 47.06 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 49; zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE bestimmt), waren damals nicht evident (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 28. November 2002 - 11 S 1270/02 - juris Rn. 88 ff.). Dass die verfahrensrechtlichen Mindestgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG über die von den Verwaltungsgerichten gewährleistete Prüfung aller Tat- und Rechtsfragen unter Einbeziehung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung hinaus eine "erschöpfende Prüfung … einschließlich der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme" gewährleisten sollten, wurde erst mit den Entscheidungen des Gerichtshofs vom 29. April 2004 (EuGH, Urteil vom 29. April 2004 - Rs. C-482/01 und C-493/01 - Orfanopoulos und Oliveri - Rn. 103 ff.) deutlich.

Ob die Ausweisung vom 29. Mai 2000 materiellrechtlich rechtmäßig war, bedarf vorliegend mit Blick auf den streitgegenständlichen Rücknahmeanspruch keiner abschließenden Entscheidung. Im Ansatz zutreffend hat der Beklagte über die Ausweisung zumindest hilfsweise nach Ermessen entschieden.

Die Grundsätze zur Verdichtung des Rücknahmeermessens werden - einen Verstoß der Ausweisung gegen Gemeinschaftsrecht zugunsten des Klägers unterstellt - durch Gemeinschaftsrecht nicht modifiziert. Auch insoweit nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die den Beteiligten bekannte Entscheidung vom 23. Oktober 2007 - BVerwG 1 C 10.07 - a.a.O. Rn. 36 Bezug (vgl. darüber hinaus auch den Beschluss vom 28. Januar 2008 - BVerwG 1 B 57.07 - juris).