VG Weimar

Merkliste
Zitieren als:
VG Weimar, Urteil vom 30.04.2008 - 5 K 20140/07 We - asyl.net: M13215
https://www.asyl.net/rsdb/M13215
Leitsatz:

Zur Sicherheitslage für Rückkehrer im Irak.

 

Schlagwörter: Irak, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Änderung der Sachlage, neue Beweismittel, Sunniten, Gruppenverfolgung, Sicherheitslage, Übergriffe, Situation bei Rückkehr, Intellektuelle, Baath, Sympathisanten, Sippenhaft, Schutzfähigkeit, Bagdad, interne Fluchtalternative, Südirak, Zentralirak, Nordirak, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 2; RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

Zur Sicherheitslage für Rückkehrer im Irak.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Den Klägern drohen bei einer Rückkehr in den Irak nunmehr auch landesweit Gefahren, die ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG begründen.

Die Kläger wären im Falle einer Rückkehr in den Irak und dort nach Bagdad - ihrem Herkunftsort - nach Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre Religion, ihrer Parteibezüge und intellektuellen Stellung gravierenden unterschiedlichen Maßnahmen ausgesetzt, die sowohl alleine, jedenfalls aber in ihrer Kumulation eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellen, so dass ihre Verfolgungsfurcht begründet und ihnen eine Rückkehr unzumutbar ist. Beim Kläger zu 1. kommt ferner hinzu, dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und eine Rückführung des Klägers zu einer erheblichen Verschlechterung der Grunderkrankung führen würde.

Das Gericht geht zur eigenen Überzeugungsgewissheit davon aus, dass die Kläger konkreten Gefahren bei einer etwaigen Rückkehr in den Irak zu erwarten hätten. Dieses gründet sich vielleicht nicht allein auf einem einzigen Merkmal, dessen Träger sie sind, aber jedenfalls aus der Gesamtschau ihrer verschiedentlichen innehabenden Merkmale.

Zum einen sind sie Sunniten. Für Sunniten hat der BayVGH (Urteil vom 14. November 2007 - Az.: 23 B 07.30496-) festgestellt, dass die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung vorliegen. Zwar teilt das Gericht diese Einschätzung, wegen nicht ausreichend dichter Relationszahlen, bislang nicht (vgl. Urteil des Gerichts vom 5. März 2008 - Az.: 5 K 20255/05 We -), jedoch sieht das Gericht sehr wohl die insgesamt sehr angespannte Lage für Sunniten im Irak, die sich im rechtlichen Bewertungsbereich eines Gruppenverfahrens durchaus bewegt und die Gefahr einen ernsthaften Schaden zu erleiden tatsächlich bereits hoch ist.

Darüber hinaus dreht sich im Irak unaufhörlich eine Spirale der Gewalt unter verschiedenen untereinander verfeindeten Gruppen, so dass hier bei von einer Situation nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zusätzlich auszugehen ist. Das Auswärtige Amt schreibt in seinem Lagebericht vorn 19. Oktober 2007 als ersten Satz hinsichtlich der Beurteilung der Sicherheitslage "Die Sicherheitslage im Irak ist verheerend." (LageberichtS.4). Dieses gründet zum einen auf der von Sunniten bzw. Schiiten gegenseitig ausgeübten konfessionelle Gewalt, welche inzwischen die meisten Todesopfer unter der irakischen Bevölkerung fordert. In großem Umfang finden gegenwärtig im Zentral- und Südirak systematische, gewaltsame Vertreibungen statt, die den Charakter konfessionell geprägter Säuberungen haben. Die dabei angewandten Mittel reichen von der Verbreitung von Drohungen auf Flugblättern, Zerstörung von Eigentum und Einschüchterungen über großflächige Angriffe auf Zivilisten, Entführungen, in letzter Zeit vermehrt auch Massenentführungen, Folter, Vergewaltigungen als gezieltes Mittel der Rache und Demütigung bis hin zu außerrechtlichen Hinrichtungen.

Regelmäßig werden in den Straßen, Flüssen und in Massengräbern demonstrativ zurückgelassene Leichen gefunden, die häufig Folterspuren aufweisen, an Händen und Füßen gefesselt oder geköpft sind. Häufig geraten die Opfer von Entführungen und extralegalen Hinrichtungen schon aufgrund ihres Namens, der sie als Sunnit oder Schiit ausweist, in das Visier ihrer Peiniger. Zahlreiche Iraker gehen nur noch mit zwei verschiedenen Ausweispapieren auf die Straße. Auch der Verkauf oder die Lektüre bestimmter Tageszeitungen kann Anknüpfungspunkt für die sunnitische oder schiitische Konfession eines Betroffenen sein (vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12,05.2007; Institut für Nahoststudien, Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak - Update vom 22.05.2007).

Ein früheres Mitglied der Mahdi-Armee von Muqtadar al-Sadr etwa wird aus dem jordanischen Exil mit folgenden Worten zitiert: "Es ist ganz einfach, wir haben ethnische Säuberungen durchgeführt. Jeder Sunnit war schuldig. Wenn du Omar, Uthman, Zayed, Sufian oder so ähnlich geheißen hast, dann wurdest du getötet. Das sind sunnitische Namen, sie wurden wegen ihrer Identität getötet." (vgl. Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007).

Die Zahl der irakischen Binnenvertriebenen hat sich infolge der gewaltsamen Vertreibungen auf mindestens über 2 Millionen Menschen erhöht. Wenngleich die Konfrontationslinien nicht ausschließlich zwischen Sunniten und Schiiten verlaufen, so liegt doch die Hauptursache für interne Vertreibung in der konfessionell motivierten Gewalt.

Betroffen von den konfessionell motivierten Säuberungen sind im gesamten Irak Gebiete mit gemischt-konfessioneller Bevölkerung. Dazu gehören alle großen Städte wie Bagdad, Mosul, Kirkuk und Basra, aber auch die Provinzen Aslah-Al-Din und Diyala (vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien; Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Institut für Nahoststudien, Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007).

Grundsätzlich hat aber auch die Trennung der verschiedenen Konfessionen nicht zu einer Verbesserung der Sicherheitslage geführt, sondern lediglich dazu, dass Angriffe auf Angehörige der jeweils anderen Gruppe erleichtert werden und die Gewalt weiter verstärkt wird (vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007).

Sowohl sunnitische als auch schiitische Gruppierungen sind gleichermaßen verantwortlich für weitreichende Menschenrechtsverletzungen an Angehörigen der jeweils anderen Gruppierung oder an als "Verräter" angesehenen Angehörigen der eigenen Gruppe. In großem Umfang sind auch die schiitisch dominierten Sicherheitskräfte, die mit Todesschwadronen kollaborieren, in die gewaltsamen Übergriffe involviert. Selbst vermeintlich rein kriminelle Gruppierungen arbeiten oft Hand in Hand mit bewaffneten Gruppierungen und unterstützen deren politisch- konfessionelle Ziele (vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Institut für

Nahoststudien, Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007).

Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den konfessionellen Gruppen haben bürgerkriegsartige Ausmaße erreicht.

Hinsichtlich der Heimat Bagdad der Kläger stellt das Auswärtige Amt im Lagebericht vom 19. Oktober 2007 fest. dass sich die Zahl der Anschläge und damit verbunden auch die der Todesopfer ansteigt. Und die Lage in Bagdad selbst besonders prekär ist.

Das Gericht ist ferner davon überzeugt, dass Rückkehrer zusätzlich generell einem erhöhten Verfolgungsrisiko ausgesetzt sind. Wenngleich hierzu mangels signifikanter Rückkehrbewegungen keine konkreten Daten vorliegen, ist es aus Sicht des Gerichts unter Berücksichtigung der im Irak bekannten Verfolgungsmuster hoch plausibel, dass Rückkehrer entweder in Anknüpfung an .,westliche" Lebens- und/oder Bekleidungsgewohnheiten oder in Anknüpfung an vermeintlichen im westlichen Ausland erworbenen Reichtum einem erhöhten Risiko unterworfen sind, Opfer radikal-islamischer Kräfte oder krimineller Banden zu werden. Gleiches gilt für (rückkehrende) Männer im wehrfähigen Alter hinsichtlich der Gefahr, von sogenannten Aufständischen respektive Milizen zur Kooperation gezwungen zu werden (vgl. UNHCR, Gutachten an VG Köln vom 08.10.2007; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Gutachten an VG Köln vom 12.05.2007; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak - Update vom 22.05.2007: anders insoweit nur: Institut für Nahoststudien, Gutachten an VG Köln vom 09.03.2007).

Das Gericht hat nach alledem keinen Zweifel, dass die Kläger die wie ihre Familie aus Bagdad stammen im Falle einer Rückkehr in erheblichem Maße gefährdet wären, Opfer konfessioneller Säuberungsmaßnahmen und der zur Durchsetzung dieses Ziels angewandten Gewalt zu werden und sich seine Gefährdungslage aufgrund ihres langjährigen Aufenthalts im westlichen Ausland zusätzlich verschärft, weil er unter dem Verdacht stehen würde im westlichen Ausland Reichtum angehäuft zu haben.

Daneben kommt bei den Klägern noch hinzu, dass sie zu Recht die begründete Furcht haben im Visier von Gruppen zu stehen, die mit dem alten Regime abrechnen wollen. Der Kläger zu 1 vermochte überzeugend und zweifelsfrei auch nochmals in der mündlichen Verhandlung darzulegen, dass er als Intellektueller mit dem alten Regime in Verbindung gebracht werden würde und in diesem Wege auch seine gesamte Familie. Ihre Befürchtungen, dass ihnen gegenüber von einigen Gruppen diese unmittelbare Zurechnung erfolgen würde, lassen sich nicht von der Hand weisen, dies gerade auch vor dem Hintergrund der überaus angespannten Lage in der Stadt.

Effektiver Schutz vor gewalttätigen Übergriffen im Rahmen der Säuberungsmaßnahmen ist nach übereinstimmender Auskunftslage nicht verfügbar. Weder die irakischen Sicherheitskräfte allein, noch in Zusammenarbeit mit den multinationalen Truppen, sind in der Lage, der Gewalt Einhalt zu bieten oder gefährdete Personen zu schützen.

Der dargelegten Bedrohung unterliegt der Kläger auch landesweit, weil er weder auf das ehemals autonome Kurdengebiet noch auf andere Gebiete im Zentral- und Südirak verwiesen werden kann.

Der gesamte Zentral- und Südirak kommt schon im Hinblick auf die dort überall katastrophale Sicherheitslage und die allgegenwärtige Gefahr, wieder Opfer von Säuberungsaktionen zu werden, als inländische Fluchtalternative nicht in Betracht. Aber auch im Übrigen kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass sunnitische respektive schiitische Flüchtlinge, die aus ethnisch-konfessionell gemischten Gebieten fliehen, sich in ethnisch-konfessionell homogenen Gebieten niederlassen können. Die lokalen Verwaltungen verschiedener Provinzen haben die Grenzen für sämtliche Binnenvertriebene geschlossen oder deren Niederlassung unter Hinweis auf die Belastung der Infrastruktur stark begrenzt. Eine Reihe von Provinzen hat spezielle Sicherheitschecks eingeführt oder verlangt, einen Bürgen vorzuweisen, der bestätigt, dass die betreffende Person nicht zu einem verdächtigen Personenkreis gehört (vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 12.05.2007 an VG Köln; "Der Tod kam im Sack mit Lebensmitteln", taz vom 24.07.2007; "Trostlose Zuflucht in Sulaimaniya", NZZ vom 25.07.2007).

Auch in den kurdischen Gebieten des Nordirak wird Nicht-Kurden aus dem Zentral- und Südirak regelmäßig bereits die Niederlassung dadurch erschwert, dass ihnen ohne einen Leumundszeugen, der den örtlichen Behörden bekannt sein und sich mit seinen persönlichen Daten für diesen verbürgen muss, eine offizielle Registrierung verwehrt wird. Dies ist für Kurden zwar nicht durchgängig der Fall, jedoch ist auch bei diesen nicht sichergestellt, dass sie dort Sozialhilfe oder Nahrungsmittelhilfe beziehen können. Zusammen mit den seit Kriegsende immens gestiegenen Mieten, die das Gehalt eines Polizisten, Lehrers oder einfachen staatlichen Angestellten auch ohne Berücksichtigung von Wohnnebenkosten in der Regel bei weitem übersteigen, ist eine Ansiedlung faktisch unmöglich, sofern keine tragfähigen Kontakte zu Verwandten bestehen, die bereit und in der Lage sind, ihren Familienangehörigen aufzunehmen (vgl. UNHCR, Gutachten vom 09.01.2007 und vom 08.10.2007 an VG Köln; Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 27.11.2006 und vom 12.05.2007 an VG Köln; .,Der Tod kam im Sack mit Lebensmitteln", taz vom 24.07.2007; "Trostlose Zuflucht in Sulaimaniya", NZZ vom 25.07.2007). Dies ist bei der Familie der Kläger bereits nicht ersichtlich.

Zusätzlich kommt beim Kläger zu 1. noch hinzu, dass dieser zur Überzeugungsgewissheit des Gerichts an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet.

Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2007 heißt es das die medizinischen Einrichtungen nahezu ausnahmslos wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage sind die Grundversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass es im Irak eine medizinische Einrichtung existieren würde die dem Kläger zu 1. Hilfe leisten könnte, wird es in keiner Weise deutlich wie der Kläger zu 1. diese sicher erreichen könnte.