VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 25.04.2008 - 9 K 6051/07 - asyl.net: M13222
https://www.asyl.net/rsdb/M13222
Leitsatz:

Die Ausländerbehörden sind an die Feststellung des Bundesamts, dass kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt, auch dann gebunden, wenn das Bundesamt das Vorliegen einer extremen allgemeinen Gefahrenlage wegen gleichwertigen Abschiebungsschutz nicht geprüft hat; der Ausschluss allgemeiner Gefahren nach § 60 Abs. 7 Abs. 3 AufenthG ist mit der Qualifikationsrichtlinie vereinbar.

 

Schlagwörter: Irak, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Aufenthaltserlaubnis, Zuständigkeit, sachliche Zuständigkeit, Prüfungskompetenz, Ausländerbehörde, abgelehnte Asylbewerber, Bindungswirkung, Ablehnungsbescheid, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, willkürliche Gewalt, bewaffneter Konflikt, Bagdad, Gemeinschaftsrecht
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 42 S. 1; AufenthG § 72 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c; AufenthG § 25 Abs. 5
Auszüge:

Die Ausländerbehörden sind an die Feststellung des Bundesamts, dass kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt, auch dann gebunden, wenn das Bundesamt das Vorliegen einer extremen allgemeinen Gefahrenlage wegen gleichwertigen Abschiebungsschutz nicht geprüft hat; der Ausschluss allgemeiner Gefahren nach § 60 Abs. 7 Abs. 3 AufenthG ist mit der Qualifikationsrichtlinie vereinbar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG.

Nach dieser Bestimmung soll einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Zwar beruft sich der Kläger gegenüber der Beklagten auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG. Doch ist der Beklagten eine Prüfung der Voraussetzungen dieser Bestimmung im Falle des Klägers schon verwehrt (dazu 1.). Im Übrigen wäre ihr eine Feststellung derzeit auch nicht möglich (dazu 2.).

1. Die Beklagte besitzt keine Befugnis, im Falle des Klägers zielstaatsbezogene Gefahren zu prüfen. Das Bundesamt hat mit bestandskräftigem Bescheid vom 4.12.2005 das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG beim Kläger verneint. Nach § 42 Satz 1 AsylVfG sind Ausländerbehörden (somit auch die Beklagte und der Beigeladene) an die Entscheidungen des Bundesamts über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gebunden. Es entspricht einhelliger Auffassung, dass dies ebenso für negative Entscheidungen und auch dann gilt, wenn sich die Sachlage zwischenzeitlich erkennbar verändert haben sollte (vgl. dazu nur BVerwG, Urte. v. 22.11.2005, BVerwGE 124, 326 u. v. 21.3.2000, BVerwGE 111, 77). Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 27.6.2006 (BVerwGE 126, 192) ausgeführt, eine Prüfpflicht der Ausländerbehörden könne in Betracht kommen, „wenn der Ausländer geltend macht, ihm drohe im Herkunftsland infolge einer allgemeinen Gefahrenlage eine extreme Gefahr für Leib und Leben, die in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG zur Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach dieser Vorschrift führen müsste, das Bundesamt aber eine solche Feststellung wegen Bestehens eines vergleichbaren Schutzes durch einen Abschiebestopp-Erlass, eine sonstige Erlasslage oder eine aus individuellen Gründen erteilte Duldung nicht treffen kann und darf“.

a) Ein vom Bundesverwaltungsgericht umschriebener Fall, in welchem das Bundesamt eine Feststellung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG in Form einer allgemeinen Extremgefahr aus Rechtsgründen nicht getroffen hat, liegt hier vor.

Zwar hat das Bundesamt im Bescheid vom 4.12.2005 das Bestehen einer solchen Extremgefahr geprüft und verneint. Eine auf eine Verpflichtungsklage hin erfolgende gerichtlich bestätigte negative Feststellung zu § 60 Abs. 7 AuslG kann jedoch nur mit dem Inhalt bestandskräftig werden, den die letzte verwaltungsgerichtliche Entscheidung zugrunde gelegt hat (BVerwG, Urt. v. 12.7.2001, BVerwGE 114, 379; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 6.8.2007 - 13 S 876/07 -). Das Verwaltungsgericht hat aber aus Rechtsgründen auf eine Prüfung einer Extremgefahr verzichtet.

b) Ein überzeugendes Argument für eine aus dieser Konstellation resultierende ausnahmsweise Prüfungskompetenz der Ausländerbehörden ist jedoch nicht ersichtlich.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 27.6.2006 mit keinemWort angedeutet, weshalb in der hier vorliegenden Fallgruppe entgegen desWortlauts von § 42 Satz 1 AsylVfG eine Prüfungskompetenz der Ausländerbehörden eröffnet sein soll (offen gelassen auch von Sächs. OVG, Beschl. v. 22.1.2007, DÖV 2007, 561; bejahend ohne Begründung Hailbronner, AuslR, § 25 Rn. 50; ablehnend VG Stuttgart, 9.Kammer, Beschl. v. 8.8.2007 - 9 K 3917/07 -; 12. Kammer, Urt. v. 3.3.2008 - 12 K 2363/07 -). Soweit die eine Prüfungskompetenz bejahende Entscheidung des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21.5.2007 (InfAuslR 2007, 321) ausführt, anderenfalls werde die „Grundentscheidung des Gesetzgebers, dass diesem Personenkreis im Falle des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG im Regelfall ein Aufenthaltstitel zu erteilen ist, unterlaufen“, vermag auch dies nicht restlos zu überzeugen. Denn § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG n.F. dürfte Beleg dafür sein, dass der Gesetzgeber bei Allgemeingefahren gerade keine Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen wünscht.

Letztlich mutet die Bejahung einer Prüfungskompetenz der Ausländerbehörde in der hier vorliegenden Fallkonstellation seltsam an, weil dem Betroffenen dadurch regelmäßig – soweit ersichtlich – kein rechtlich billigenswerter Vorteil erwächst: Es ist nämlich auch nicht ansatzweise erkennbar, dass das Bundesamt und die Ausländerbehörden bei der Beurteilung und Feststellung von allgemeinen Extremgefahren nach § 60 Abs. 7 AufenthG unterschiedliche Maßstäbe zugrunde legen dürften. Das bedeutet konkret: Hält man § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG für europarechtskonform (vgl. dazu nachfolgend 2.), müsste auch die Ausländerbehörde die Prüfung einer allgemeinen Extremgefahr bei Bestehen gleichwertigen Abschiebungsschutzes aus Rechtsgründen unterlassen und könnte somit dem Betroffenen keine Aufenthaltserlaubnis erteilen. Neigt man in dieser materiellen Frage der Gegenauffassung zu (wie etwa VG Stuttgart, Urt. v. 21.5.2007, a.a.O), würde das dazu führen, dass schon das Bundesamt über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG anders (nämlich positiv) entscheiden müsste.

2. Selbst wenn dem nicht zu folgen sein sollte, die Beklagte also die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG durchzuprüfen hätte, könnte sie eine Feststellung zugunsten des Klägers derzeit aus rechtlichen Gründen nicht treffen. In der Rechtsprechung des Berichterstatters und seiner Kammer ist nämlich geklärt, dass trotz hoher allgemeiner Lebensrisiken in der Region Bagdad, insbesondere durch Anschläge, die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht erfüllt sind.

a) Es kann offen bleiben, ob die Grundvoraussetzungen von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG („erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“), welcher der Umsetzung von Art. 15c QRL dient, bei einer Rückkehr des Klägers in die Region Bagdad erfüllt wären. Dafür mag Manches sprechen (vgl. nur BAMF, Briefing Notes v. 7.4.2008; zur Verbesserung der Sicherheitslage dort allerdings Stuttgarter Zeitung v. 20.3.2008; streng hinsichtlich der Anforderungen an die individuelle Gefahr im Sinne des Art. 15c QRL Asylum and Immigration Tribunal, KH Iraq CG 2008, UKAIT 00023 v. 1.2.2008).

b) Denn wenn diese Gefahr beim Kläger zu bejahen sein sollte, müssten sie für zahlreiche weitere Einwohner der Region Bagdad unabhängig von ihrer Volks- und Religionszugehörigkeit angenommen werden. Diese dann vorliegende „Allgemeingefahr“ hat aber Auswirkung auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 15c QRL, die nämlich in einem solchen Falle zu verneinen wären.

Zwar folgt dies nicht aus nationalem Recht. Der Klägervertreter und andere Stimmen weisen zu Recht darauf hin, dass die Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, wenn man sie als ausschließlich nationale Norm sehen würde, nicht geeignet wäre, die Prüfung der Voraussetzungen des Art. 15c QRL zu beeinflussen. Dies gilt etwa vor dem Hintergrund, dass Art. 24 Abs. 2 QRL bei Bestehen eines subsidiären Schutzes einen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel einräumt, der nicht durch nationales Recht verhindert werden kann.

§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG mit seiner Lösung hinsichtlich Allgemeingefahren ist aber als Beschränkung von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und mithin von Art. 15c QRL europarechtskonform (so auch Bay. VGH, Beschl. v. 23.11.2007 - 19 C 07.2527 - <juris>; a.A. ohne nähere Begründung Hess. VGH, Urt. v. 21.2.2008 - 3 UE 191/07.A - <juris>). Das ergibt sich aus einem Erwägungsgrund der Richtlinie, ihrer Entstehungsgeschichte und dem System der aufenthaltsrechtlichen Richtlinien.

Dass eine Allgemeingefahr regelmäßig schon europarechtlich zur Verneinung der Voraussetzungen des Art. 15c QRL führt, ergibt sich aus Ziffer 26 der Erwägungsgründe der Richtlinie. Denn der subsidiäre Schutzstatus setzt nach Art. 18 QRL i.V.m. Art. 15 QRL unter anderem voraus, dass ein „ernsthafter Schaden“ droht. Nach dem Erwägungsgrund Nr. 26 stellen Gefahren, die der gesamten Bevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe drohen, im Regelfall keine individuelle Bedrohung dar. Dieser Erwägungsgrund wurde auf Drängen der Bundesregierung eingefügt und ist bei der Auslegung von Art. 15c QRL zu berücksichtigen (so Bay. VGH, Beschl. v. 23.11.2007, a.a.O; VGH Bad.Württ., Beschl. v. 8.8.2007, VBlBW 2008, 34; Hess. VGH, Urt. v. 9.11.2006 - 3 UE 3238/03.A - <juris>; a.A. VG Stuttgart, Urt. v. 21.5.2007, InfAuslR 2007, 321; Funke-Kaiser, InfAuslR 2008, 90; Hruschka/Lindner, NVwZ 2007, 645). Denn eine streng am Wortlaut einer Einzelbestimmung orientierte Interpretation ohne Berücksichtigung anderer Aspekte entspricht ohnehin nicht der Praxis europäischer Institutionen. Hier kommt hinzu, dass dieser Erwägungsgrund Ausdruck der Verfahrensgeschichte der Richtlinie und weitergehend der Systematik aufenthaltsrechtlicher Richtlinien ist.

Entgegen der Ansicht des Klägervertreters und anderer Stimmen in Rechtsprechung und Literatur ist es gerade nicht geltendes Europarecht geworden, dass nahezu jedem Flüchtling, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht erlangen kann, aber von einer anderweitigen Gefahr bedroht ist, der subsidiäre Status zuzuerkennen ist.

Nur eine enge Auslegung von Art. 15c QRL unter Würdigung des Erwägungsgrundes Nr. 26 trägt der Existenz der Massenzustromrichtlinie ausreichend Rechnung. Diese Richtlinie verlangt nämlich vor der Entscheidung über die Aufnahme einer größeren Zahl von Flüchtlingen eine politische Leitentscheidung (vgl. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 d. RL: einen Beschluss des Rates), sieht die Inanspruchnahme von Mitteln des Europäischen Flüchtlingsfonds (Art. 24 d. RL) und Aufnahmequoten für die Mitgliedstaaten vor (vgl. Art. 25 d. RL). Dieser Vorrang einer politischen Leitentscheidung und das „burdensharing“ werden ausgehebelt, wenn eine große Zahl von Flüchtlingen vor einer Allgemeingefahr eine individuelle Prüfung und Zuerkennung des Status nach Art. 15c QRL erlangen könnte. Die scheinbar europarechtsfreundliche „weite“ Auslegung des Art. 15c QRL führt im Ergebnis gerade nicht zur europaweit einheitlichen Reaktion auf eine einer großen Gruppen von Flüchtlingen drohende Allgemeingefahr, sondern zum Partikularismus: Jede kleine Ausländerbehörde eines Mitgliedstaates hätte dann auf Antrag eines Betroffenen zu prüfen, wie sie eine Allgemeingefahr, die einer Vielzahl von Menschen gleichermaßen droht, einschätzt.

Erwägungsgrund Nr. 26 der QRL enthält nach dem Ausgeführten somit nur einen deklaratorischen Hinweis auf den Geltungsbereich der RL 2001/55/EG: Dass nämlich Allgemeingefahren, die einer großen Zahl von Flüchtlingen aus einem bestimmten Staat drohen, nur über diese Richtlinie Rechnung getragen werden soll und mithin nicht über Art. 15c QRL (vgl. auch Storr/Wenger, a. a.O., § 60 AufenthG Rn. 23).