VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 25.04.2008 - A 9 K 5936/07 - asyl.net: M13223
https://www.asyl.net/rsdb/M13223
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Kurden, Kirkuk, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, willkürliche Gewalt, Gemeinschaftsrecht, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt nicht in Betracht.

Nach diesen Maßstäben droht dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak keine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG. Zwar gehen der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (Urt. v. 14.11.2007 - 23 B 07.30496 - <juris>) und manche Untergerichte davon aus, Sunniten (aus Bagdad) drohe auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit eine Gruppenverfolgung durch schiitische Kräfte. Ungeachtet der Richtigkeit dieser Auffassung lässt sie sich auf den Fall des aus Kirkuk stammenden kurdischen Klägers mit Sicherheit nicht übertragen. Denn dort agieren – ungeachtet anderweitiger erheblicher Spannungen – keine schiitischen Gruppen in nennenswerter Zahl (vgl. dazu Informationszentrum Migration und Asyl, Irak – Entwicklung der Sicherheitslage, Feb. 2008, S. 13).

Auf Grund des bevorstehenden Referendums über den künftigen Status der Region Kirkuk ist allerdings die Sicherheitslage sehr angespannt (vgl. dazu nur SFH, Situation von religiösen Minderheiten in den von der KRG verwalteten Provinzen vom 10.1.2008, S. 3). Von einer Verfolgung der Kurden als Gruppe durch arabische Volkszugehörige mit der hinreichenden Dichte kann jedoch auf Grund der verfügbaren Erkenntnisquellen nicht ausgegangen werden.

Trotz hoher allgemeiner Lebensrisiken in der Region Kirkuk, insbesondere durch Anschläge, sind die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht erfüllt.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist.

a) Es kann offen bleiben, ob die Grundvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ("erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts"), welcher der Umsetzung von Art. 15c QRL dient, bei einer Rückkehr des Klägers in die Region Kirkuk erfüllt wären. Dafür mag Manches sprechen (vgl. nochmals Informationszentrum Migration und Asyl, Irak – Entwicklung der Sicherheitslage, Feb. 2008, S. 13; SFH, Situation von religiösen Minderheiten in den von der KRG verwalteten Provinzen vom 10.1.2008, S. 3; strenger allerdings hinsichtlich der Anforderungen an die individuelle Gefahr im Sinne des Art. 15c QRL Asylum and Immigration Tribunal, KH Iraq CG 2008, UKAIT 00023 v. 1.2.2008).

b) Denn wenn diese Gefahr beim Kläger zu bejahen sein sollte, müssten sie denknotwendig für zahlreiche weitere Einwohner der Region Kirkuk unabhängig von ihrer Volks- und Religionszugehörigkeit angenommen werden. Diese dann vorliegende "Allgemeingefahr" hat aber Auswirkung auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 15c QRL, die nämlich dann zu verneinen wären.

Zwar folgt dies nicht aus nationalem Recht. Der Klägervertreter und andere Stimmen weisen zu Recht darauf hin, dass die Bestimmung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, wenn man sie als ausschließlich nationale Norm sehen würde, nicht geeignet wäre, die Prüfung der Voraussetzungen des Art. 15c QRL zu beeinflussen. Dies gilt etwa auch vor dem Hintergrund, dass Art. 24 Abs. 2 QRL bei Bestehen eines subsidiären Schutzes einen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel einräumt, der nicht durch nationales Recht verhindert werden kann.

§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG mit seiner Lösung hinsichtlich Allgemeingefahren ist aber als Beschränkung von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und mithin von Art. 15c QRL europarechtskonform (so auch Bay. VGH, Beschl. v. 23.11.2007 - 19 C 07.2527 - <juris>; a.A. ohne nähere Begründung Hess. VGH, Urt. v. 21.2.2008 - 3 UE 191/07.A - <juris>). Das ergibt sich aus einem Erwägungsgrund der Richtlinie, ihrer Entstehungsgeschichte und dem System der aufenthaltsrechtlichen Richtlinien. Dass eine Allgemeingefahr regelmäßig schon europarechtlich zur Verneinung der Voraussetzungen des Art. 15c QRL führt, ergibt sich aus Ziffer 26 der Erwägungsgründe der Richtlinie. Denn der subsidiäre Schutzstatus setzt nach Art. 18 QRL i.V.m. Art. 15 QRL unter anderem voraus, dass ein "ernsthafter Schaden" droht. Nach dem Erwägungsgrund Nr. 26 stellen Gefahren, die der gesamten Bevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe drohen, im Regelfall keine individuelle Bedrohung dar. Dieser Erwägungsgrund wurde auf Drängen der Bundesregierung eingefügt und ist bei der Auslegung von Art. 15c QRL zu berücksichtigen (so Bay. VGH, Beschl. v. 23.11.2007, a.a.O.; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 8.8.2007, VBlBW 2008, 34; Hess. VGH, Urt. v. 9.11.2006 - 3 UE 3238/03.A - <juris>; a.A. VG Stuttgart, Urt. v. 21.5.2007, InfAuslR 2007, 321; Funke-Kaiser, InfAuslR 2008, 90; Hruschka/Lindner, NVwZ 2007, 645). Denn eine streng am Wortlaut einer Einzelbestimmung orientierte Interpretation ohne Berücksichtigung anderer Aspekte entspricht ohnehin nicht der Praxis europäischer Institutionen. Hier kommt hinzu, dass dieser Erwägungsgrund Ausdruck der Verfahrensgeschichte der Richtlinie und weitergehend der Systematik aufenthaltsrechtlicher Richtlinien ist.

Entgegen der Ansicht des Klägervertreters und anderer Stimmen in Rechtsprechung und Literatur ist es gerade nicht geltendes Europarecht geworden, dass nahezu jedem Flüchtling, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht erlangen kann, aber von einer anderweitigen Gefahr bedroht ist, der subsidiäre Status zuzuerkennen ist. Einen so weitgehenden subsidiären Schutz umfasste der Vorschlag der Kommission für eine QRL vom 12.9.2001 in seinem damaligen Artikel 15 (Dokument ASILE 52; 2001/0207 (CNS)). Dieser sollte Schutz vor solchen Gefahren bieten, die zwar nicht zur Flüchtlingsanerkennung führen können, denen aber über die Richtlinie 2001/55/EG des Rates (vom 20.7. 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen, ABl. L Nr. 212,12; im Folgenden: Massenzustromsrichtlinie) Rechnung getragen werden kann. Mit diesem weiten Ansatz vermochte sich die Kommission aber letztlich nicht durchzusetzen, was bei der Auslegung der heutigen Fassung des Artikels 15 QRL zu berücksichtigten ist.

Nur eine enge Auslegung von Art. 15c QRL unter Berücksichtigung des Erwägungsgrundes Nr. 26 trägt der Existenz der Massenzustromrichtlinie ausreichend Rechnung. Diese Richtlinie verlangt nämlich vor der Entscheidung über die Aufnahme einer größeren Zahl von Flüchtlingen eine politische Leitentscheidung (vgl. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 d. RL: einen Beschluss des Rates), sieht die Inanspruchnahme von Mitteln des Europäischen Flüchtlingsfonds (Art. 24 d. RL) und Aufnahmequoten für die Mitgliedstaaten vor (vgl. Art. 25 d. RL). Dieser Vorrang einer politischen Leitentscheidung und das "burden-sharing" werden ausgehebelt, wenn eine große Zahl von Flüchtlingen vor einer Allgemeingefahr eine individuelle Prüfung und Zuerkennung des Status nach Art. 15c QRL erlangen könnte. Die scheinbar europarechtsfreundliche "weite" Auslegung des Art. 15c QRL führt im Ergebnis gerade nicht zur europaweit einheitlichen Reaktion auf eine einer großen Gruppen von Flüchtlingen drohende Allgemeingefahr, sondern zum Partikularismus: Jede kleine Ausländerbehörde eines Mitgliedstaates hat auf Antrag eines Betroffenen zu prüfen, wie sie eine Allgemeingefahr, die einer Vielzahl von Menschen gleichermaßen droht, einschätzt.

Erwägungsgrund Nr. 26 der QRL enthält nach dem Ausgeführten somit nur einen deklaratorischen Hinweis auf den Geltungsbereich der RL 2001/55/EG: Dass nämlich Allgemeingefahren, die einer großen Zahl von Flüchtlingen aus einem bestimmten Staat drohen, nur über diese Richtlinie Rechnung getragen werden soll und mithin nicht über Art. 15c QRL (vgl. auch Storr/Wenger, Komm. z. ZuwG, 2. Aufl., § 60 AufenthG Rn. 23).

c) Da es sich demnach beim beschriebenen Risiko um eine Gefahr handelt, die allen Irakern aus der Region Kirkuk, die keine zumutbare Lebensmöglichkeit in den kurdischen Autonomiegebieten des Nordens besitzen, droht, kann dieser Allgemeingefahr über die Bestimmung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG europarechtskonform regelmäßig nur durch eine Entscheidung der obersten Landesbehörde Rechnung getragen werden (dazu aa)). Ein damit vergleichbarer Abschiebungsschutz besteht in Baden-Württemberg derzeit, so dass für eine Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG kein Raum ist (dazu bb)).

bb) Nach den dargelegten Maßstäben besteht derzeit in Baden-Württemberg für Iraker aus dem Zentralirak vergleichbarer Abschiebungsschutz. Denn auf Grund der Erlasse des Innenministeriums Baden-Württemberg vom 27.11.2003 und vom 29.7.2004 (4-13-IRK/12), deren Weitergeltung sich aus den Zusammengefassten Vorgaben des Innenministeriums (ZV-AufenthR), Abschnitt D Nr. 3 ergibt, sind irakischen Staatsangehörigen bislang Duldungen mit einer Dauer von drei Monaten zu erteilen bzw. bis auf Weiteres ohne auflösende Bedingung zu verlängern waren. Etwas anderes gilt nach der neuesten Erlasslage vom 10.3.2008 (vgl. dort Seite 2 Mitte) nur für Straftäter aus dem Nordirak, zu denen der Kläger nach seinen Angaben nicht gehört.