LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.04.2008 - L 7 B 70/08 AS ER - asyl.net: M13242
https://www.asyl.net/rsdb/M13242
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Grundsicherung für Arbeitssuchende, Arbeitslosengeld II, gewöhnlicher Aufenthalt, Fiktionsbescheinigung, Antrag, Aufenthaltserlaubnis, Erwerbsfähigkeit, Erwerbstätigkeit, Unionsbürger, Beitrittsstaaten, Bulgaren, Arbeitsgenehmigung-EU, Vorrangprüfung, geringfügige Beschäftigung, Arbeitsmarktprüfung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: SGG § 86b Abs. 2; SGB II § 7 Abs. 1; SGB I § 30 Abs. 3; AufenthG § 81 Abs. 5; AufenthG § 81 Abs. 3; SGB II § 8 Abs. 2; FreizügG/EU § 13; SGB III § 284 Abs. 1; AufenthG § 39 Abs. 2
Auszüge:

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Den Antragstellern steht ein Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (Alg II) nach dem SGB II zu.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten diejenigen Personen Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Hilfebedürftige). Die Antragstellerin zu 1) erfüllt diese Voraussetzungen. Die Antragstellerin zu 1) hat das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet. Sie hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Gemäß § 30 Abs. 3 SGB I hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Diese Voraussetzungen sind bei den Antragstellern zu bejahen. Die Antragstellerin hält sich mit ihrem Sohn rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland auf. Sie hat eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Diese Fiktionsbescheinigung ist einem Ausländer, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen, bei Beantragung einer Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 81 Abs. 5 AufenthG auszustellen. Bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde gilt sein Aufenthalt als erlaubt (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG).

Die Antragsteller sind auch hilfebedürftig. Sie verfügen über kein Einkommen und Vermögen. Insbesondere erhalten sie von der Mutter der Antragstellerin zu 1) keine finanziellen Unterstützungen. Zur Hilfebedürftigkeit haben die Antragsteller auf Nachfrage des Senats noch unter dem 11.04.2008 ergänzend Stellung genommen. Ihre Ausführungen sieht der Senat als glaubhaft an.

Die Antragstellerin zu 1) ist auch erwerbsfähig.

Erwerbsfähig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II können dabei nach § 8 Abs. 2 SGB II nur diejenigen sein, denen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Diese Voraussetzungen sind bei der Antragstellerin zu 1) gegeben. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die rechtliche Erwerbsfähigkeit gemäß § 8 Abs. 2 bereits dann zu bejahen ist, wenn die bloß abstrakt-generelle Möglichkeit besteht, einen Aufenthaltstitel bzw. eine Beschäftigungserlaubnis zu erteilen (vgl. Blüggel in Eicher/Spellbrink, a.a.O., § 8 Rn. 63 ff. mit Hinweisen auf Literatur und Rechtsprechung). Grundsätzlich genießen Unionsbürger privilegierten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt und die Aufnahme einer Beschäftigung ist ihnen generell erlaubt im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU. Dieses ist bei der Antragstellerin als bulgarische Staatsangehörige jedoch nicht der Fall. Gemäß § 13 Freizügigkeitsgesetz (EU) wird vielmehr bestimmt, dass in den Fällen, in denen nach Maßgabe des Vertrages vom 25.04.2005 über den Beitritt unter anderem der Republik Bulgarien abweichende Regelungen anwendbar sind, dieses Gesetz Anwendung findet, wenn die Beschäftigung durch die Bundesagentur für Arbeit gemäß § 284 SGB III genehmigt wurde. Dies heißt vorliegend, dass der Antragstellerin eine Arbeitsgenehmigung-EU durch die Bundesagentur für Arbeit nach § 284 Abs. 1 SGB III erteilt worden sein müsste. Eine solche Genehmigung liegt nicht vor. Zur Überzeugung des Senats wäre der Antragstellerin zu 1) bei einem entsprechenden Antrag bei der Bundesagentur für Arbeit eine Arbeitserlaubnis/EU nach § 284 Abs. 1 SGB III in Verbindung mit § 39 Abs. 2 bis 4, 6 des Aufenthaltsgesetzes voraussichtlich zu erteilen. Voraussetzung hierfür wäre, dass keine vermittlungsfähigen Arbeitnehmer zur Verfügung stehen (§ 39 Abs. 2 Nr. 1b Aufenthaltsgesetz). Dies hat das SG unter Hinweis auf den Beschluss des LSG Berlin vom 20.12.2007 - L 5 B 2073/07 AS ER - mit der Begründung verneint, dass eine solche Genehmigung bei der ungelernten Antragstellerin ohne abgeschlossene Berufsausbildung und einer hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland gerade bei den Geringqualifizierten auszuschließen ist. Diese Auffassung wird vom Senat im vorliegenden Fall nicht geteilt. Bei seiner Entscheidung hat der Senat die Rechtsprechung des EuGH zum Begriff des Arbeitnehmers bezüglich der Vorschriften über die Freizügigkeit berücksichtigt. Danach sind die Vorschriften über die Freizügigkeit auf den Arbeitnehmer anzuwenden, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt (so etwa EuGH, Urteil vom 23.03.1982, 53/81). Dabei fällt unter die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer auch, wer eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt, mit der er weniger verdient als in dem Mitgliedsstaat, in dem er sich aufhält, als Existenzminimum angesehen wird (EuGH, a.a.O.). Der EuGH geht in gefestigter Rechtsprechung davon aus, dass auch geringfügig Beschäftigte im Sinne von § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 39 EG-Vertrag sein können (vgl. EuGH, Urteil vom 18.07.2007, C-213/05). Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH hat das LSG NRW im Beschluss vom 30.01.2008 (L 20 B 76/07 SO ER) bereits eine Beschäftigung von monatlich 16 bzw. 20 Stunden bei einem Verdienst von 160,00 Euro für Reinigungstätigkeiten ausreichen lassen, eine Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Freizügigkeitsgesetz/EU anzunehmen. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH besteht nach Auffassung des Senats im Rahmen der summarischen Prüfung eine hinreichende Aussicht auf Erteilung einer Arbeitserlaubnis/EU.

Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind ebenfalls nicht gegeben. Danach sind Ausländer und ihre Familienangehörigen von den Leistungen ausgeschlossen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zwecke der Arbeitssuche ergibt. Zur Überzeugung des Senats ist die Antragstellerin, wenn überhaupt, jedenfalls nicht allein zum Zwecke der Arbeitssuche nach Deutschland eingereist, sondern zum Zwecke der Familienzusammenführung und zur Feststellung der Vaterschaft sowie Weiterverfolgung ihrer Unterhaltsansprüche, auch wenn derzeit noch nicht abschließend geklärt ist, ob Herr Z der Vater ihres Kindes ist.