OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.04.2008 - 3 S 106.07 - asyl.net: M13248
https://www.asyl.net/rsdb/M13248
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Sofortvollzug, Begründungserfordernis, Nachholung, Heilung, Rücknahme, Aufenthaltserlaubnis, Bleiberechtsregelung 2006, Straftäter, Ermessen
Normen: VwGO § 80 Abs. 3; VwGO § 80 Abs. 5; VwVfG § 48 Abs. 1
Auszüge:

Die hiergegen gerichtete Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

1. Der Antragsteller macht geltend, der angefochtene Beschluss gehe zu Unrecht davon aus, dass die Vollziehungsanordnung des Antragsgegners den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO entspreche. Dies greift nicht durch.

a) Entgegen der Auffassung des Antragstellers war es dem Antragsgegner nicht verwehrt, die in § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO vorgeschriebene schriftliche Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung der Rücknahmeverfügung vom 21. August 2007 mit heilender Wirkung nachzuholen.

Diese Frage ist allerdings in Rechtsprechung und Literatur umstritten (vgl. die Nachweise bei Finkelnburg u.a., Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Auflage 2008, Rz. 750, Fn. 61, sowie bei Wolff/Decker, VwGO/VwVfG, 2. Auflage 2007, Rzn. 33 f. zu § 80 VwGO). Eine höchstrichterliche Klärung ist bislang nicht erfolgt (offen gelassen etwa im Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. September 2001 - 1 DB 26.01 -, juris, Rz. 8). Seit geraumer Zeit wird jedoch zunehmend die Möglichkeit bejaht, eine unterbliebene oder unzulängliche Begründung mit heilender Wirkung noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nachzuholen (vgl. OVG Bremen, Beschluss vom 25. März 1999, InfAuslR 1999, 409, 410; OVG Greifwald, Beschluss vom 20. November 1998, NVwZ-RR 1999, 409; Beschluss vom 24. Januar 2006, NVwZ-RR 2007, 21, 23; OVG Lüneburg, Beschluss vom 17. August 2001, InfAuslR 2002, 13; Decker in: Wolff/Decker, a.a.O., Rz. 35; Finkelnburg u.a., a.a.O., Rz. 750; BückenThielmeyer/Kröninger in: Fehlinger u.a., Hk-VerwR/VwGO, 2006, Rz. 44 zu § 80; Pietzner/Ronellenfitsch, Assessorexamen im Öffentlichen Recht, 11. Auflage 2005, § 55, Rz. 40; Redeker/von Oertzen, VwGO, 14. Auflage 2004, Rz. 27 a zu § 80; Tietje, DVBl. 1998, 124; a.A.: VGH München, Beschluss vom 14. Februar 2002, NVwZ-RR 2002, 646; Funke-Kaiser in: Bader u.a., VwGO, 4. Auflage 2007, Rz. 48 zu § 80; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Auflage 2007, Rz. 87 zu § 80; Puttler in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Auflage 2006, Rzn. 99, 153 zu § 80; J. Schmidt in: Eyermann, VwGO, 12. Auflage 2006, Rz. 44 zu § 80; Schoch in: Schoch u.a., VwGO, Stand: April 1996, Rz. 179 zu § 80). Auch der Senat ist der Auffassung, dass eine unzulängliche oder unterbliebene Begründung im Sinne von § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO noch im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO mit heilender Wirkung nachgeholt oder ergänzt werden kann (so bereits auch OVG Berlin, Beschluss vom 23. August 1988, OVGE 18, 119, 123/124; Beschluss vom 30. April 1992, LKV 1992, 333). Dies steht im Einklang mit anderen vergleichbaren Regelungen (§ 45 Abs. 2 VwVfG, § 114 Satz 2 VwGO) und dient der Prozessökonomie. Da nach wohl einhelliger Auffassung die Behörde jederzeit befugt ist, eine neue Vollziehungsanordnung zu erlassen (vgl. nur VGH München, Beschluss vom 3. Juni 2002, NJW 2002, 3044; Puttler, a.a.O.), führt die gegenteilige Auffassung zu einer leeren Förmelei, die dem Rechtsschutzsystem der Verwaltungsgerichtsordnung fremd ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Mai 1990, BVerwGE 85, 163, 167).

Die mit § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO verfolgten Ziele sind mit einem Verständnis der Vorschrift, das die Möglichkeit einer Begründungsnachholung oder -ergänzung mit heilender Wirkung zulässt, vereinbar. Das Begründungserfordernis soll drei Funktionen erfüllen: Gegenüber der Behörde kommt ihm eine Warnfunktion, gegenüber dem Bürger eine Rechtsschutzfunktion und gegenüber dem angerufenen Gericht eine Informationsfunktion zu (Finkelnburg u.a., a.a.O., Rz. 741; Puttler, a. a.O., Rz. 96; vgl. zur Warnfunktion insbesondere: BVerwG, Beschluss vom 18. September 2001, a.a.O., Rz. 6). Diese Funktionen bleiben auch durch eine erst im gerichtlichen Verfahren nachgeholte oder ergänzte Begründung gewahrt (vgl. Tietje, a.a.O., S. 128/129).

2. Soweit das Verwaltungsgericht die Rücknahmeverfügung für offensichtlich rechtmäßig hält, führt das hiergegen gerichtete Beschwerdevorbringen ebenfalls nicht zu einer abweichenden Beurteilung.

a) Der Antragsteller ist der Auffassung, Rechtswidrigkeit im Sinne von § 48 Abs. 1 VwVfGBbg erfordere, dass bei Erlass des zurückgenommenen Verwaltungsaktes bestehende Rechtssätze unrichtig zur Anwendung gekommen seien.

Ein solches, den Anwendungsbereich des § 48 Abs. 1 VwVfGBbg einengendes Verständnis findet im Wortlaut der Vorschrift keine Stütze. Ausreichend ist vielmehr jeglicher Rechtsanwendungsfehler (vgl. BVerwG, Großer Senat, Beschluss vom 19. Dezember 1984, NJW 1985, 819, 820 = BVerwGE 70, 356). Dafür maßgebend ist allein die objektive Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, die vorliegt, wenn dieser gegen Gesetze oder sonstiges Recht verstößt (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Auflage 2008, Rz. 51 zu § 48). Im Anwendungsbereich von Verwaltungsvorschriften kann sich die Rechtswidrigkeit aus einem Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG ergeben (Kopp/Ramsauer, a.a.O., Rz. 54 m.w.N.).

So liegt es hier. Mit dem Gleichbehandlungsgebot in Verbindung mit der Verwaltungspraxis, wie sie in dem Erlass Nr. 09/2006 des Ministeriums des Innern des Landes Brandenburg vom 8. Dezember 2006 niedergelegt ist, war die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis an den Antragsteller nicht vereinbar. Denn von der Bleiberechtsregelung waren unter anderem diejenigen Ausländer ausgeschlossen, die wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt worden waren, wobei Geldstrafen von bis zu 50 Tagessätzen grundsätzlich außer Betracht blieben (Nr. 3.4 des Erlasses). Dieses Ausschlusskriterium ist im Falle des Antragstellers durch die gegen ihn am 3. Juni 2002 vom Amtsgericht Tiergarten wegen (vorsätzlichen) Menschenhandels verhängte Freiheitsstrafe von 6 Monaten erfüllt.

Ob vom Antragsteller eine aktuelle Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, was die Beschwerde verneint, ist danach nicht entscheidungserheblich.

b) Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts hat der Antragsgegner auch das ihm in § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfGBbg eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt.