OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.04.2008 - 18 B 291/08 - asyl.net: M13263
https://www.asyl.net/rsdb/M13263
Leitsatz:

Das Aufenthaltsgesetz ist grundsätzlich auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar; Widerspruch und Klage gegen die Ablehnung der Erteilung oder Verlängerung einer deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG haben gem. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG keine aufschiebende Wirkung.

 

Schlagwörter: D (A), Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Ausweisung, Aufenthaltsgesetz, Anwendbarkeit, Freizügigkeitsgesetz/EU, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Aufenthaltserlaubnis, deklaratorische Aufenthaltserlaubnis, Unionsbürgerrichtlinie, Ausreisepflicht, Vollziehbarkeit
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 80 Abs. 1; AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 6 Abs. 1; AufenthG § 4 Abs. 5; RL 2004/83/EG Art. 31; RL 64/221/EWG Art. 8; RL 64/221/EWG Art. 9; AufenthG § 58 Abs. 2
Auszüge:

Das Aufenthaltsgesetz ist grundsätzlich auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar; Widerspruch und Klage gegen die Ablehnung der Erteilung oder Verlängerung einer deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG haben gem. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG keine aufschiebende Wirkung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag, analog § 80 Abs. 5 VwGO festzustellen, dass die Klage 22 K 366/08 gegen die Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 28. November 2007 aufschiebende Wirkung hat, zu Recht abgelehnt. Der Klage kommt nicht gemäß § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung zu, die durch einen entsprechenden Ausspruch festzustellen wäre. Eine aufschiebende Wirkung ist gemäß § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen.

(1) Wie der Senat bereits entschieden hat (vgl. Senatsbeschlüsse vom 16.3.2005 - 18 B 1751/04 -, InfAuslR 2005, 245 = EZAR NF 19 Nr. 7, und vom 2.12.2005 - 18 B 1529/04 -, NVwZ 2006, 1304), ist auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige (im Folgenden: Assoziationsberechtigte) nicht das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern, sondern das Aufenthaltsgesetz anzuwenden.

(2) § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist auch auf die deklaratorische Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG anzuwenden (so ebenfalls Funke-Kaiser in: GK-AuslR, Stand März 2008, § 84 AufenthG Rn. 14; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand August 2006, § 84 AufenthG Rn. 21).

Nach § 84 Abs. 1 S. 1 AufenthG haben Widerspruch und Klage gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis keine aufschiebendeWirkung. Soweit hieraus abgeleitet wird, die Norm sei bereits ihrem Wortlaut nach nur auf konstitutive Aufenthaltstitel anwendbar (vgl. Hamb. OVG, Beschluss vom 9. Mai 2007 - 4 Bs 241/06 -, NVwZ-RR 2008, 60), vermag dies nicht zu überzeugen. Zwar dürfte – wie beispielsweise schon die §§ 4 Abs. 1 S. 2, 5 Abs. 1 AufenthG zeigen – die Formulierung "Erteilung" im Aufenthaltsgesetz durchweg mit der Entstehung eines Aufenthaltsrechts in Verbindung zu bringen sein. Gleiches gilt prinzipiell für den Begriff der "Verlängerung". Dies verdeutlicht schon § 8 Abs. 1 AufenthG, wonach auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis dieselben Vorschriften Anwendung finden wie auf die Erteilung. Andererseits erfasst die Formulierung "Verlängerung" zwanglos sowohl eine konstitutiv als auch eine deklaratorisch wirkende Aufenthaltserlaubnis. Deshalb verbietet sich die Annahme, aus dem Fehlen des Wortes "Ausstellen" (des Aufenthaltstitels) in § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG folge, dass der Gesetzgeber die deklaratorische Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG nicht habe erfassen wollen. Für sie bedurfte es keiner Sonderregelung, weil sie der Sache nach der Verlängerung eines Aufenthaltstitels gleichkommt. Denn das Entstehen eines Aufenthaltsrechts aus Art. 6 und 7 ARB 1/80 setzt wegen der Tatbestandsvoraussetzung einer ordnungsgemäßen Beschäftigung bzw. eines ordnungsgemäßen Wohnsitzes den Besitz eines nationalen Aufenthaltstitels voraus (vgl. EuGH, Urteile vom 26. Oktober 2006 - C-4/05 (Güzeli), InfAuslR 2007, 1, und vom 22. Juni 2000 - C-65/98 (Eyüp), InfAuslR 2000, 329; Senatsbeschlüsse vom 12. März 2004 - 18 B 233/04 - und vom 3. April 2001 - 18 B 204/00 -, NVwZ-RR 2001, 793 = EZAR 029 Nr. 15).

Der Gesetzeszweck erfordert es ebenfalls nicht, § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nur auf konstitutive Aufenthaltstitel anzuwenden (so sinngemäß ebenfalls Hamb. OVG, Beschluss vom 9. Mai 2007 - 4 Bs 241/06 -, a.a.O.).

Mit der Norm wird vor allem nicht – wovon das Hamburgische OVG ausgeht – der Zweck verfolgt, eine Ausreisepflicht vollziehbar zu machen. Sie dient vielmehr dazu, für den Fall von Widerspruch und Klage die nach den §§ 50 und 58 Abs. 2 AufenthG begründete Vollziehbarkeit zu erhalten. Sofern eine solche nicht entstanden ist, gehen von § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG keine Wirkungen aus. Damit wird hinreichend dem Umstand entsprochen, dass durch die Ablehnung der nach § 4 Abs. 5 AufenthG beantragten (deklaratorischen) Aufenthaltserlaubnis wegen des kraft Assoziationsrechts entstehenden materiellen Aufenthaltsrechts nicht zwangsläufig die Ausreisepflicht eines Ausländers begründet wird. Bei deren Fehlen stellt sich also auch nicht die Frage nach der Anwendbarkeit des § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Vielfach wird es jedoch so sein, dass mit der Ablehnung eines entsprechenden Antrags zugleich ein assoziationsrechtlich begründetes Aufenthaltsrecht verneint wird. Dann aber ist ohnehin das allgemeine Aufenthaltsrecht und damit zugleich § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG anzuwenden (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O.).

Die Vorschrift ist schließlich auch nicht assoziationsrechtskonform dahin auszulegen, dass sie die Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG nicht erfasst (so aber wiederum Hamb. OVG, Beschluss vom 9. Mai 2007 - 4 Bs 241/06 -, a.a.O.; ferner auch VG Karlsruhe, Beschluss vom 29. Mai 2006 - 9 K 2044/05 -, juris).

Den für Assoziationsberechtigte geltenden gemeinschaftsrechtlichen Besonderheiten wird – soweit hier von Interesse – in § 4 Abs. 1 und 5 sowie § 50 Abs. 1 AufenthG hinreichend entsprochen. Indem durch § 4 Abs. 1 und 5 AufenthG vom Assoziationsberechtigten nur der Besitz einer deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis gefordert wird, trägt das Aufenthaltsgesetz der Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urteil vom 16. März 2000 - C-329/97 (Ergat), InfAuslR 2000, 217) Rechnung, wonach das Aufenthaltsrecht eines Assoziationsberechtigen kraft Assoziationsrechts besteht, es also insoweit keines konstitutiv wirkenden Verwaltungshandelns bedarf. Dem entspricht es, wenn nach § 50 Abs. 1 AufenthG die Ausreisepflicht eines Assoziationsberechtigten nur entsteht, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht. Sofern Letzteres durch einen ablehnenden Bescheid auf einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis geregelt worden ist, ist die Ausreisepflicht gemäß § 58 Abs. 2 S. 2 vollziehbar; denn die dort enthaltenen Formulierung "Versagung eines Aufenthaltstitels" unterscheidet nicht zwischen einem konstitutiv oder deklaratorisch wirkenden Aufenthaltstitel.

Gemeinschaftsrecht erfordert bezüglich des Entstehens und Fortbestehens der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nicht die Beachtung von Besonderheiten. Solche bestehen nicht. Sie ergäben sich nicht einmal aus den für Unionsbürger geltenden Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 29. April 2004 - RL 2004/38/EG (ABl. L 158 vom 30.4.2004, S. 35; ber. ABl. L 229 vom 29.6.2004, S. 35). Dessen Absatz 2 (umgesetzt in § 7 Abs. 1 Sätze 1 und 5 FreizügG/EU) verlangt lediglich, dass im Falle der Beantragung vorläufigen Rechtsschutzes vor einer gerichtlichen Entscheidung darüber keine Vollstreckungsmaßnahme erfolgen darf. Diese Regelung bewirkt – allerdings ohne den gemeinschaftsrechtlichen Automatismus – in ihrem Kernbereich innerstaatlich die Möglichkeit der Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, so dass sie in diesem Umfang sogar auch einem Assoziationsberechtigten zur Verfügung steht. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet zwar nicht die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozess schlechthin (vgl. § 149 Abs. 1 VwGO), gibt aber dem Bürger einen Anspruch auf einen effektiven Rechtsschutz, der verhindern soll, vor der gerichtlichen Kontrolle "vollendete Tatsachen" zu schaffen. Daraus ergibt sich wegen der Besonderheit der auf eine Ausreise des Ausländers zielenden ausländerrechtlichen Verfahren, dass jene nach entsprechender Initiative des Gerichts während der Dauer eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht abgeschoben werden dürfen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 29. März 2007 - 2 BvR 1977/06 -, NVwZ 2007, 948, vom 5. Dezember 2001 - 2 BvR 527/99, 1337 und 1777/00 -, DVBl. 2002, 688, und vom 18. Juli 1973 - 1 BvR 23/73, 1 BvR 155/73 -, DVBl. 1974, 79).

Das zu den inzwischen durch Art. 31 Abs. 2 RL 2004/38/EG ohnehin außer Kraft getretenen Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG ergangene Urteil des EuGH vom 2. Juni 2005 (C-136/03 (Dörr und Ünal), a.a.O.) führt entgegen der Ansicht des Antragstellers zu keiner anderen Beurteilung.

Wenn somit das Aufenthaltsgesetz auf Assoziationsberechtigte anzuwenden ist und das Gemeinschaftsrecht einer Anwendung der §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 S. 2, 84 Abs. 1 S. 1 AufenthG nicht entgegen steht, dann gelten diese Regelungen auch dann, wenn ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei von der Ausländerbehörde verneint wird. Damit verbleibt kein Raum für die Ansicht des Verwaltungsgerichts, dass die Ausreisepflicht eines türkischen Staatsangehörigen, der sich auf ein Assoziationsrecht nach dem ARB 1/80 beruft, nach dem Verlust eines derartigen Aufenthaltsrechts "naturgemäß" vollziehbar sei, ohne dass die Voraussetzungen des § 58 Abs. 2 AufenthG über die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht erfüllt sein müssen, so dass es deshalb in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes im Rahmen einer allgemeinen Interessenabwägung auf die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Ordnungsverfügung nicht ankomme.

Nach allem ist im vorliegenden Verfahren vorläufiger Rechtsschutz allein über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO möglich, der hier nicht gestellt wurde und über den der Senat deshalb auch nicht entscheiden kann. Von einem solchen Antrag hat der anwaltlich vertretene Antragsteller offensichtlich bewusst abgesehen. Dies folgt schon aus der Wahl des in ausländerrechtlichen Verfahren ungewöhnlichen Feststellungsantrags und wird zudem dadurch bestätigt, dass sich weder die Antragsnoch die Beschwerdebegründung zu den materiellrechtlichen Fragen verhält. Letzteres versperrt darüber hinaus dem Senat ohnehin eine Prüfung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides, weil die Beschwerde – wie gemäß § 146 Abs. 4 VwGO erforderlich – dazu nichts darlegt.