SG Reutlingen

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Zitieren als:
SG Reutlingen, Gerichtsbescheid vom 03.04.2008 - S 2 AY 1686/07 - asyl.net: M13275
https://www.asyl.net/rsdb/M13275
Leitsatz:

Der Ausländer trägt die Beweislast dafür, dass er die Aufenthaltsdauer nicht i. S. d. § 2 Abs. 1 AsylbLG rechtsmissbräuchlich verlängert hat (entgegen BSG, Urteil vom 8.2.2007 - B 9b AY 1/06 R - ASYLMAGAZIN 5/2007, S. 38); dabei ist auf den gesammten Zeitraum des Aufenthalts abzustellen; konnte der Ausländer seiner Ausreisepflicht durch die Ausreise in einen Drittstaat genügen, kommt es auf die Zumutbarkeit der Rückkehr ins Herkunftsland nicht an.

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, Beweislast, Beurteilungszeitpunkt, freiwillige Ausreise, Zumutbarkeit, Drittstaat, Ausreisepflicht
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; AuslG § 42 Abs. 4; AufenthG § 50 Abs. 4
Auszüge:

Die Klägerin zu 1 hat keinen Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i. V. m. dem SGB XII.

Die Klägerin zu 1) hat jedoch die Dauer ihres Aufenthaltes rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Bei dem Tatbestandsmerkmal der nicht rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer handelt es sich um eine anspruchsbegründende Tatsache, für die der Betroffene die objektive Beweislast trägt. Die Gegenansicht (BSG, Urteil vom 08.02.2007, Az.: B 9b AY 1/06 R, FEVS 58 [2007], S. 337 [341]; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 16.10.2007, Az.: L 11 AY 28/05, Juris, Rdnr. 22; Hohm, in: ders. [Hrsg.], Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG, § 2 [2006] Rdnr. 93) berücksichtigt nicht, dass § 2 Abs. 1 AsylbLG die rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer gerade nicht als anspruchsvernichtende Tatsache normiert hat, wie dies durch eine für anspruchsvernichtende Normen typische negative Formulierung (etwa: "es sei denn, dass sie die Dauer des Aufenthaltes rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben") zum Ausdruck hätten kommen können (vgl. beispielhaft § 10 Abs. 1 SGB II, §§ 145, 476 Bürgerliches Gesetzbuch). Wenn man davon ausgeht, dass selbst eine solche "es-sei-denn"-Formulierung im Sozialrecht nicht zu einer Beweislastumkehr führt (so Rixen, in: Eicher/Spellbrink [Hrsg.], SGB II, 2. Aufl. 2008, § 10 Rdnr. 140), dann muss die übliche Beweislastverteilung – sie trägt sowohl hinsichtlich des Vorhandenseins positiver als auch für das Fehlen negativer Tatbestandsmerkmale derjenige, der einen Anspruch geltend macht (vgl. nur Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 103 Rdnr. 19a, m.w.N.) – im vorliegenden Zusammenhang mangels anderer Normierung erst Recht gelten.

Unter rechtsmissbräuchlicher Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer versteht § 2 Abs. 1 AsylbLG auch eine von der Rechtsordnung missbilligte, subjektiv vorwerfbare und zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition, die ein Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) erlangt hat (BSG, Urteil vom 08.02.2007, Az.: B 9b AY 1/06 R, FEVS 58 [2007], S. 337 [339]; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.11.2007, Az.: L 7 AY 4504/06, Juris, Rdnr. 19). Darunter fällt auch der Verbleib eines Ausländers in Deutschland, dem es möglich und zumutbar wäre, auszureisen (BSG, Urteil vom 08.02.2007, Az.: B 9b AY 1/06 R, FEVS 58 [2007], S. 337 [339], m.w.N.).

Der fehlende Rechtsmissbrauch muss sich allerdings nicht nur auf die 36 bzw. 48 Monate des Bezuges von Leistungen nach dem § 3 AsylbLG (so aber wohl LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.11.2007, Az.: L 7 AY 4504/06, Juris, Rdnr. 20; SG Karlsruhe, Urteil vom 07.04.2006, Az.: S 4 AY 5256/05, Juris, Rdnr. 18), auf den Zeitraum, für den die Leistungen begehrt werden (so aber wohl LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 18.12.2007, Az.: L 11 AY 31/07, Juris, Rdnr. 28; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 16.10.2007, Az.: L 11 AY 28/05, Juris, Rdnr. 22, anders aber bei Rdnr. 24) oder gar nur auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung beziehen, sondern auf den gesamten Zeitraum der Anwesenheit in der Bundesrepublik Deutschland (ebenso LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.03.2007, Az.: L 7 AY 1386/07 ERB, Juris, Rdnr. 19; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20.12.2005, Az.: L 7 AY 40/05, Juris, Rdnr. 21; Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 17. Aufl. 2006, § 2 AsylbLG Rdnr. 13; Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Aufl. 2008, § 2 AsylbLG Rdnr. 4).

Dies folgt bereits aus dem Wortlaut, der keinerlei entsprechende Einschränkung in zeitlicher Hinsicht enthält, und wird durch den Zweck der Vorschrift bestätigt. § 2 Abs. 1 AsylbLG will ausschließen, dass jemand Leistungen nach dem SGB XII erhält, der sich bei nicht rechtsmissbräuchlichem Verhalten gar nicht mehr in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten würde. Dazu ist es aber notwendig, dass jede rechtsmissbräuchliche Beeinflussung des Aufenthaltes in Deutschland anspruchsschädlich ist und nicht durch bloßen Zeitablauf gleichsam wieder geheilt werden kann. Dass die Aufenthaltsdauer im Laufe des Aufenthaltes rechtsmissbräuchlich verlängert worden ist, schließt daher in jedem Fall eine Gleichstellung mit Ausländern, die unverschuldet nicht ausreisen konnten, aus (so ausdrücklich Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Aufl. 2008, § 2 AsylbLG Rdnr. 4) und zwar auf Dauer ( Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Aufl. 2008, § 2 AsylbLG Rdnr. 4). Da die rechtmissbräuchliche Beeinflussung des Aufenthaltes nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass dies jedenfalls in den Fällen, in denen diese Beeinflussung in der Nichtausreise besteht, zur Folge hat, dass sich die Betroffenen nicht mehr in Deutschland aufhalten würden, ist der Rechtsmissbrauch in diesen Konstellationen stets kausal für die verlängerte Aufenthaltsdauer.

Entgegen der in der obergerichtlichen Rechtsprechung bisweilen erörterten Frage, ob eine Rückkehr in das Heimatland möglich war (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.11.2007, Az.: L 7 AY 4504/06, Juris, Rdnr. 20), kommt es darauf im hier maßgeblichen Zusammenhang nicht an. § 2 Abs. 1 AsylbLG knüpft gerade nicht an die Zumutbarkeit der Rückkehr in das Herkunftsland an, sondern nur an die Zumutbarkeit, den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (auch durch Ausreise in ein Drittland) zu beenden (so wohl auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20.12.2005, Az.: L 7 AY 40/05, Juris, Rdnr. 21, das auch nur auf die Möglichkeit der Ausreise aus dem Bundesgebiet abstellt; offen gelassen vom Bayerischen VGH, Beschluss vom 23.07.2002, 12 CE 02.683, Juris, Rdnr. 18). Der Vorwurf der Rechtsmissbräuchlichkeit beruht nach der oben zitierten Rechtsprechung des BSG auf der Nichtbefolgung der Ausreisepflicht, die aber gerade nicht die Pflicht beinhaltet, das Heimatland aufzusuchen, sondern nur die Pflicht, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Dies wird bestätigt durch den für die hier interessierende Zeit bis zum 31. Dezember 2004 geltenden § 42 Abs. 4 AuslG (jetzt § 50 Abs. 4 AufenthG), nach dem der Ausländer durch die Einreise in einen anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaften seiner Ausreisepflicht nur genügt, wenn ihm Einreise und Aufenthalt dort erlaubt sind, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Ausreise in einen der Europäischen Gemeinschaften nicht angehörenden Staat zur Erfüllung der Ausreisepflicht ungeachtet der Rechtmäßigkeit ausreicht. Damit hätte die Klägerin zu 1) jedenfalls in den Jahren 1995 bis 1998 ihrer Ausreisepflicht bereits auf dem Landweg durch die tatsächliche Einreise in die Republik Polen, die Tschechische Republik oder die Schweizerische Eidgenossenschaft genügen können. Der Frage, ob zumindest zeitweilig auch die Ausreise nach Kroatien, das Heimatland des damaligen Ehemannes der Klägerin zu 1) möglich und zumutbar gewesen war, kommt damit keine Bedeutung zu.