VG Ansbach

Merkliste
Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 01.04.2008 - AN 1 K 07.30772 - asyl.net: M13290
https://www.asyl.net/rsdb/M13290
Leitsatz:

Zur Verjährung der Strafverfolgung wegen "separatistischer Progaganda" in der Türkei; hinreichende Sicherheit vor sippenhaftähnlicher Verfolgung.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, Separatisten, Strafverfahren, Misshandlungen, Folter, Sippenhaft, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, politische Entwicklung, Reformen, Menschenrechtslage, TKPS, Sozialistische Partei des Türkei-Kurdistan, PSK, KOMMAR, Verjährung, Amnestie, Anti-Terrorismus-Gesetz
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Zur Verjährung der Strafverfolgung wegen "separatistischer Progaganda" in der Türkei; hinreichende Sicherheit vor sippenhaftähnlicher Verfolgung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für den Widerruf der mit Bescheid vom 13. Mai 1993 ausgesprochenen Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte und der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG lagen zum gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht vor.

Das Bundesamt hat auch zutreffend das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG verneint.

Das Verwaltungsgericht Karlsruhe sah in seinem Urteil vom 3. Februar 1993 - A 7 K 10298/90 - eine Gefährdung der Klägerin, da ihr Ehemann und sie selbst für die TKSP politisch aktiv gewesen seien. Es bestünde die beachtliche Wahrscheinlichkeit der Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens auf Grund von Staatsschutzbestimmungen des tStGB und während der polizeilichen Voruntersuchungen die Gefahr von körperlichen Misshandlungen der Klägerin bis hin zur Folter durch unrechtmäßig handelnde Beamte, da die Klägerin als politische Gegnerin angesehen werde.

Die vom Verwaltungsgericht Karlsruhe angenommene Gefährdungssituation für die Klägerin besteht nicht mehr.

Seit November 2002 hat die AKP-Regierung ein umfangreiches gesetzgeberisches Reformprogramm verwirklicht, das als das umfassendste in der türkischen Geschichte seit den Atatürkschen Reformen in den 1920er Jahren gilt. Kernelemente der türkischen Reformpolitik, die vorsichtig bereits Anfang/Mitte 2002 von der Vorgängerregierung eingeleitet wurde (u.a. Abschaffung der Todesstrafe im August 2002) sind die – nach üblicher Zählung – acht "Reformpakete" aus den Jahren 2002 bis 2004. Mit Inkrafttreten des letzten Gesetzespaketes am 1. Juni 2005 hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt. Die Kernpunkte der acht "Reformpakete" sind: Abschaffung der Todesstrafe, Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des Nationalen Sicherheitsrates (Eindämmung des Einflusses des Militärs), Zulassung von Unterricht in anderen in der Türkei gesprochenen Sprachen als Türkisch (de facto Kurdisch), die Benutzung dieser Sprachen in Rundfunk und Fernsehen, erleichterte Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelungen zur Erschwerung von Parteischließungen und Politikverboten, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter, Ermöglichung der Wiederaufnahme von Verfahren nach einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Einführung von Berufungsinstanzen. Im Bereich der Strafjustiz kam es bereits seit 2002 zu entscheidenden Verbesserungen z.B. bei den strafrechtlichen Bestimmungen zur Verfolgung von Meinungsdelikten. Die neuen, zum 1. Juni 2005 in Kraft getretenen Gesetze sollen eine Strafbarkeit, die sich im Rahmen von EU-Standards hält, bewirken. Im Rahmen der im Mai 2004 verabschiedeten Verfassungsänderungen wurde außerdem Artikel 90 der Verfassung über internationale Abkommen geändert und der Vorrang der von der Türkei ratifizierten völkerrechtlichen und europäischen Verträge gegenüber den nationalen Rechtsvorschriften verankert (vergleichbar Art. 25 GG). Geraten internationale Menschenrechtsübereinkommen mit nationalen Rechtsvorschriften in Konflikt, haben die türkischen Gerichte jetzt internationale Übereinkommen anzuwenden.

Die Reformen standen in engem Zusammenhang mit dem Ziel des Beginns von EU-Beitrittsverhandlungen, zielen aber erklärtermaßen auch auf eine weitere Demokratisierung der Türkei zum Wohle ihrer Bürger ab. Bestehende Implementierungsdefizite sind u.a. darauf zurückzuführen, dass viele Entscheidungsträger in Verwaltung und Justiz aufgrund ihrer Sozialisation im kemalistisch-laizistisch-nationalen Staatsverständnis Skepsis und Misstrauen gegenüber der islamisch-konservativen AKP-Regierung hegen und Reformschritte als von außen oktroyiert und potentiell schädlich wahrnehmen. In ihrer Berufspraxis setzen sie dem großes Beharrungsvermögen entgegen und verteidigen damit aus ihrer Sicht das Staatsgefüge als Bollwerk gegen Separatismus und Islamismus. Die Regierung setzt sich jedoch nachdrücklich dafür ein, durch zahlreiche erklärende und anweisende Runderlasse die Implementierung der beschlossenen Reformen voranzutreiben und die sachgerechte Anwendung der Gesetze sicherzustellen. Besonders wichtige Posten, wie z.B. der des Gouverneurs der Provinz Diyarbakir, wurden mit Persönlichkeiten besetzt, die das Reformwerk ausdrücklich unterstützen (zum Ganzen: Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 11. November 2005 und vom 25. Oktober 2007). Der Klägerin droht wegen ihrer Tätigkeit für die in der Türkei verbotene TKSP bzw. KOMKAR keine Strafverfolgung mehr.

Die illegale TKSP (Sozialistische Partei des Türkei-Kurdistan) hat sich Ende 1974/75 aus der Organisation Özgürlük Yolu gebildet. Sie hat sich nach dem 3. Kongress im Jahr 1993 in PSK umbenannt. Die PSK hat ebenso wie KOMKAR keine "dezidiert separatistischen Ziele" im Sinne eines eigenen Kurdenstaates (vgl. Rumpf, Gutachten vom 9.3.1999 an das OVG Hamburg). Nach Kaya (Gutachten vom 7.4.1999 an das OVG Hamburg) tritt die PSK für die nationale Befreiung und das freie Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes ein, wobei sie zwei Lösungen für möglich hält. Eine davon ist die Abtrennung und Gründung eines unabhängigen Staates durch das kurdische Volk. Die zweite liegt in der Entscheidung des kurdischen Volkes für ein demokratisches Zusammenleben mit dem türkischen Volk. Die PSK bevorzugt die zweite Lösung, mit der eine Föderation zweier gleichberechtigter Teilstaaten angestrebt wird (ebenso: Oberdiek, Gutachten vom 28.10.1998 an das OVG Hamburg; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21.12.1998 an das OVG Hamburg). Eine Gewalttätigkeit der PSK ist ebenso wie bei der KOMKAR nach Rumpf und Kaya nicht bekannt.

Hiervon ausgehend hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe damals zutreffend angenommen, dass der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Bestrafung (nur) nach Art. 8 ATG wegen separatistischer Propaganda gedroht hätte. Eine Bestrafung auf der Grundlage der Art. 141 und 142 tStGB a.F. war dagegen bereits ab dem Jahr 1991 ausgeschlossen, da diese Bestimmungen durch das Gesetz Nr. 3713 vom 12. April 1991 (Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus) abgeschafft worden waren (Kaya, Gutachten vom 19.6.1993 an das VG Schleswig).

Eine Strafverfolgung wegen einer Straftat nach Art. 8 ATG ist im Falle der Klägerin jedoch nicht mehr möglich, da Verjährung eingetreten ist. Art. 8 ATG sah bis 1995 eine Höchststrafe von 5 Jahren vor, so dass nach Art. 102 tStGB a.F. eine Klageverjährung nach fünf Jahren eintrat. Bei Vorliegen einer verjährungsunterbrechenden Handlung hätte sich diese Frist auf maximal 7,5 Jahre verlängern können (Art. 104 tStGB a. F.), so dass auch in diesem Fall Verjährung eingetreten wäre (Dr. Tellenbach, Gutachten vom 4.6.2007 an das VG Freiburg). Im übrigen würden die Aktivitäten auch von der Amnestie durch das Gesetz Nr. 4616 vom 21. Dezember 2000 erfasst, welches auf vor dem 23. April 1999 begangene Straftaten Anwendung findet, und eine Strafminderung von 10 Jahren vorsieht. Dieses Gesetz würde sogar auf Straftaten nach Art. 169 tStGB a.F. (Unterstützung einer bewaffneten Organisation) Anwendung finden (vgl. Dr. Tellenbach, a.a.O. und Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21.11.2005 an das VG Freiburg).

Auch soweit es den seit ... verschwundenen Ehemann der Klägerin betrifft, welcher als Aktivist der TKSP tätig war, ist die Klägerin vor Verfolgungsmaßnahmen des türkischen Staates hinreichend sicher. Eine Gefahr der "Sippenverfolgung" oder sippenhaftartiger Praktiken zu Lasten der engeren Angehörigen politisch Verdächtigter oder Verfolgter besteht nicht mehr. Das gilt selbst bei Angehörigen prominenter türkischer Regimegegner oder solcher Personen, die etwa in Deutschland zu Haftstrafen verurteilt worden sind (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 1.12.2006 - 10 A 10887/06 -; VGH Kassel, Urteil vom 17.1.2007 - 6 UE 1237/05.A).

Das Bundesamt verweist in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, dass dem Auswärtigen Amt seit vier Jahren kein einziger Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden wäre. Auch die türkischen Menschenrechtsorganisationen haben nach Angaben des Auswärtigen Amtes explizit erklärt, dass diesem Personenkreis keine staatlichen Repressionsmaßnahmen drohen (Lagebericht vom 25.10.2007). Damit steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass jedenfalls nunmehr – fast achtzehn Jahre nach der Ausreise der Klägerin und in Anbetracht der geschilderten Reformen in der Türkei – seitens des türkischen Staates oder anderer nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG keinerlei (Verfolgungs-) Interesse an der Klägerin mehr besteht. Die Klägerin ist deshalb vor Übergriffen, die die Voraussetzungen des Art. 16 a Abs. 1. GG und des § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllen könnten, hinreichend sicher.