VGH Bayern

Merkliste
Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 25.03.2008 - 19 ZB 08.342 - asyl.net: M13306
https://www.asyl.net/rsdb/M13306
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung, Ausweisung, Ermessensausweisung, Verstoß gegen Rechtsvorschriften, Straftat, Körperverletzung, Strafverfahren, Einstellung des Verfahrens, Geringfügigkeit, Unschuldsvermutung, Ausländerbehörde, Bindungswirkung, Sachaufklärungspflicht, Wiederholungsgefahr, Strafaussetzung zur Bewährung
Normen: VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 3; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2; StPO § 153; StPO § 154; EMRK Art. 6 Abs. 2
Auszüge:

1. Die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage, ob eine Ausweisung nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG voraussetzt, dass der Ausländer wegen des ihm zur Last gelegten, eine Straftat darstellenden Gesetzesverstoßes bereits verurteilt worden ist, bedarf keiner Klärung in einem Berufungsverfahren. Diese Frage hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO); sie ist bereits höchstrichterlich entschieden (vgl. BVerwGE 107, 58 [63]).

a) Nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG kann ein Ausländer dann ausgewiesen werden, wenn er einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen hat. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG setzt nicht voraus, dass der Ausländer wegen des Gesetzesverstoßes, der eine Straftat darstellt, verurteilt worden ist (vgl. BVerwGE 107, 58 [63]). Ausreichend sind vielmehr auch ordnungsbehördliche Verfahren oder Straftaten, die nicht zu einer gerichtlichen Verurteilung geführt haben (vgl. Hamburgisches OVG, B. v. 6.3.2002 - 3 Bf 205/01 -, AuAS 2002, 139 [140]). Vor allem können auch staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren, die nicht in eine Anklageerhebung einmünden, etwa weil das Verfahren gemäß §§ 153 ff. StPO eingestellt wurde, zur Begründung einer Ausweisung gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG herangezogen werden (vgl. Hamburgisches OVG, B. v. 6.3.2002 - 3 Bf 205/01 -, AuAS 2002, 139 [140]; BayVGH, B. v. 15.12.2003 - 10 B 03.1725 -, BayVBl 2004, 403 [404]). Dem steht die Unschuldsvermutung, die im Rechtsstaatsprinzip begründet (vgl. BVerfGE 22, 254 [265]) und zudem in Art. 6 Abs. 2 EMRK niedergelegt ist, nicht entgegen (vgl. BVerwGE 107, 58 [63]; BVerwG, B. v. 21.5.1986 - 1 B 74.86 -, InfAuslR 1986, 273 [274]).

Mit der Ausweisung ist keine strafrechtliche Sanktion im Sinne eines sozialethischen Unwerturteils verbunden (vgl. Hamburgisches OVG, B. v. 6.3.2002 - 3 Bf 205/01 -, AuAS 2002, 139 [140]). Es handelt sich vielmehr um eine Maßnahme polizeirechtlichen Charakters zur Bekämpfung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (vgl. BVerwG, B. v. 21.5.1986 - 1 B 74.86 -, InfAuslR 1986, 273 [274]). Ausländerrechtliche Maßnahmen sind deshalb an weniger strenge Voraussetzungen geknüpft als eine strafrechtliche Sanktion (vgl. Hamburgisches OVG, B. v. 6.3.2002 - 3 Bf 205/01 -, AuAS 2001, 139 [140]). Die Unschuldsvermutung wird dadurch nicht berührt (vgl. BVerwGE 107, 58 [63]; BVerwG, B. v. 21.5.1986 - 1 B 74.86 -, InfAuslR 1986, 273 [274]).

b) Voraussetzung ist jedoch stets, dass der Rechtsverstoß, der zur Grundlage der Ausweisung gemacht wird, zweifelsfrei feststeht (vgl. BVerwGE 107, 58 [63]; BayVGH, B. v. 15.12.2003 - 10 B 03.1725 -, BayVBl 2004, 403 [404]). Dies setzt regelmäßig eigene Ermittlungen der Ausländerbehörde zur Prüfung der Frage, ob ein Verstoß gegen Rechtsvorschriften vorliegt, voraus. Auch wenn ein derartiger Verstoß zu bejahen ist, darf im Rahmen der nach § 55 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 AufenthG anzustellenden Ermessenserwägungen nicht unberücksichtigt bleiben, ob und in welchem Maß den Betroffenen hinsichtlich des Rechtsverstoßes, der zum Anlass für die Ausweisung genommen werden soll, ein Vorwurf trifft (vgl. VG Hamburg, U. v. 11.1.2001 - 8 VG 3964/99 -, InfAuslR 2001, 218 [219]). Dies gilt namentlich dann, wenn die Erfüllung eines Straftatbestandes zum Anlass für die Ausweisung genommen wird, ohne dass es zur Eröffnung eines diesbezüglichen Strafverfahrens gekommen ist. Der Ausländer darf keinen Nachteil dadurch erfahren, dass kein Strafverfahren gegen ihn eröffnet wurde (vgl. VG Hamburg, U. v. 11.1.2001 - 8 VG 3964/99 -, InfAuslR 2001, 218 [219]).

2. Hiervon ausgehend begegnet die Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts – jedenfalls im Ergebnis – keinen ernstlichen Zweifeln (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Allerdings bedürfen Maßnahmen nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG – schon aufgrund des generalklauselartigen Charakters der Regelung – erhöhter Anforderungen an die Begründungstiefe einer zu treffenden Entscheidung. Regelmäßig unerlässlich sind ausführliche Darlegungen zum Vorliegen einer Wiederholungsgefahr, sofern die Ausweisung mit einem Verstoß gegen Strafnormen begründet wird. Das Urteil des Verwaltungsgerichts wird dem nur eingeschränkt gerecht. Gleichwohl kann dies die Zulassung der Berufung nicht rechtfertigen, wenn – wie hier – das Ergebnis der Entscheidung offensichtlich richtig ist (vgl. BVerwG, B. vom 10.3.2004 - 7 AV/03 -, NVwZ-RR 2004, 542 [543]). Im Einzelnen ist Folgendes festzustellen:

a) § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG stellt eine Generalklausel für die Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch Verstöße gegen die Rechtsordnung dar. Die Vorschrift ist so zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, andererseits aber immer dann beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig oder geringfügig aber nicht vereinzelt ist (vgl. BVerwGE 102, 63 [66]). Eine vorsätzlich begangene Straftat kann zwar grundsätzlich nicht als geringfügig in diesem Sinne angesehen werden (vgl. BVerwGE 102, 63 [66]; BayVGH, B. v. 15.12.2003 - 10 B 03.1725 -, BayVBl 2004, 403 [404]). Allerdings kann es auch bei vorsätzlich begangenen Straftaten unter engen Voraussetzungen Ausnahmefälle geben, in denen auch ein vorsätzlich begangener Rechtsverstoß als geringfügig zu bewerten ist (vgl. BVerwG, U. v. 18.11.2004 - 1 C 23.03 -, InfAuslR 2005, 213 [215]; BVerwGE 102, 63 [66 f.]). Das kann trotz der gebotenen ordnungsrechtlichen Beurteilung etwa dann der Fall sein, wenn ein strafrechtliches Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt worden ist (vgl. BVerwGE 102, 63 [66 f.]).

Eine solche Ausnahme ist aber nicht nur auf Fälle der Verfahrenseinstellung wegen Geringfügigkeit beschränkt; sie kommt vielmehr auch im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung in Betracht, wenn besondere Umstände des Einzelfalls zu der Bewertung führen, dass es sich um einen geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften handelt (vgl. BVerwG, U. v. 18.11.2004 - 1 C 23.03 -, InfAuslR 2005, 213 [215]). Letzteres kann dann anzunehmen sein, wenn es sich offenbar um eine erstmalige strafrechtliche Verfehlung handelt, das Strafmaß gering ist und Anhaltspunkte für eine Wiederholungsgefahr nicht erkennbar sind (vgl. BVerwG, U. v. 18.11.2004 - 1 C 23.03 -, InfAuslR 2005, 213 [215]).

Dem liegt zugrunde, dass bei erstmaligen Verfehlungen nicht allzu schwerer Art, nicht sogleich zum scharfen Schwert der Ausweisung gegriffen werden darf. Allerdings gilt dieser Grundsatz nicht absolut. Vielmehr sind im Hinblick auf den ordnungsrechtlichen Zweck der Ausweisung Fälle denkbar, bei denen der Ausländer sich lediglich einmal rechtswidrig verhalten hat oder mehrere geringfügige Verstöße vorliegen und trotzdem eine Ausweisung aus spezialpräventiven Erwägungen heraus geboten ist. Erforderlich ist in einem solchen Fall jedoch stets, dass das Interesse der Allgemeinheit an der Bekämpfung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung das persönliche Interesse des Ausländers und seiner Familienangehörigen in ganz erheblichem Umfang überwiegt (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: Dezember 2005, RdNr. 23 zu § 55 AufenthG).

b) Nach diesem Maßstab begegnen – im Ergebnis – weder die Ausweisungsverfügung der Beklagten noch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtlichen Bedenken. Der Kläger hat ohne ersichtlichen Grund eine vorsätzliche Körperverletzung zum Nachteil einer ihm körperlich unterlegenen Frau begangen. Ein solcher Verstoß kann nicht mehr als geringfügig angesehen werden. Anhaltspunkte für einen Ausnahmefall liegen nicht inmitten. Zwar ist der Kläger zum ersten Mal strafgerichtlich verurteilt worden, doch hatte er nach den Feststellungen der Beklagten bereits vor der der Verurteilung zugrunde liegenden Straftat vom 24. Dezember 2005 am 27. Februar 2005 unter erheblichem Alkoholeinfluss (1,1 mg/l) in Bayreuth versucht, einer Frau auf offener Straße ins Gesicht zu schlagen. Die Geschädigte konnte ausweichen und wurde deshalb nur leicht gestreift.

Das Verfahren wurde zwar gemäß § 154 StPO eingestellt. Dies steht jedoch nach dem zuvor Gesagten einer Berücksichtigung im Rahmen des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG nicht entgegen.

Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass gegen den Kläger bereits am 15. April 2006, also wenige Monate nach dem der Verurteilung wegen Körperverletzung zugrunde liegenden Geschehen vom 24. Dezember 2005, erneut – diesmal wegen des Verdachts der versuchten gefährlichen Körperverletzung – ermittelt werden musste.

Die aufgeführten Rechtsverstöße lassen erkennen, dass der Kläger – offenbar infolge des von ihm selbst eingeräumten Alkoholmissbrauchs – zu unkontrollierten Handlungen und Aggressionen neigt und gegenwärtig nicht in der Lage ist, dem ein ausreichendes Maß an Selbstbeherrschung und Eigenkontrolle entgegenzusetzen.

Angesichts des vom Kläger eingeräumten massiven Alkoholmissbrauchs, dem gegenwärtig keine ausreichenden kompensatorischen Maßnahmen – etwa in Form einer regelmäßigen Teilnahme an Suchtbekämpfungsmaßnahmen (Anonyme Alkoholiker; Anti-Aggressionstraining usw.) – gegenüberstehen, muss davon ausgegangen werden, dass in der Person des Klägers besondere Umstände vorliegen, die eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen geboten erscheinen lassen.

Dem steht nicht entgegen, dass die Freiheitsstrafe im Urteil des Amtsgerichts Erlangen vom 8. August 2006 zur Bewährung ausgesetzt wurde und das Gericht dabei davon ausging, dass sich der Kläger diese Verurteilung ausreichend zur Warnung dienen lassen und keine weiteren Straftaten mehr begehen werde. Zwar soll der strafrichterlichen Prognose bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr in aller Regel wesentliche Bedeutung zukommen. Die Ausländerbehörde ist rechtlich jedoch nicht an die Beurteilung des Strafrichters gebunden (BVerwGE 106, 302 [309]; 102, 12 [20 f.]); sie darf beim Vorliegen „überzeugender Gründe“ abweichen (vgl. BVerwG, B. v. 29.7.1977, NJW 1977, 2037; BayVGH, U. v. 28.4.1980 - 10 B 80 A. 183 -, BayVBl 1981, 467 [468]; OVG Münster, B. vom 25.4.1995 - 18 B 3183/93 -, NVwZ-RR 1996, 173).