OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21.02.2008 - 10 A 11002/07.OVG - asyl.net: M13316
https://www.asyl.net/rsdb/M13316
Leitsatz:

Zur Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei.

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Jesiden, Gruppenverfolgung, Änderung der Sachlage, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Situation bei Rückkehr, Großgrundbesitzer, Dorfschützer, Schutzbereitschaft, Tur',Abdin, Christen (syrisch-orthodoxe), interne Fluchtalternative, Westtürkei,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1
Auszüge:

Die Berufung der Klägerin, über die der Senat nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130 a VwGO entscheidet, ist zulässig und begründet.

Das Verwaltungsgericht hätte die Klage der Klägerin gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 7. Februar 2007, mit dem die Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte sowie die Feststellung, dass sie die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AusIG 1990 (heute: § 60 Abs. 1 AufenthG) hinsichtlich der Türkei erfüllt, widerrufen wurde, nicht abweisen dürfen. Denn dieser Widerrufsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Dabei teilt das Gericht nicht den vom Bundesamt und ihm folgend auch vom Verwaltungsgericht der Prüfung zugrunde gelegten Ausgangspunkt, maßgeblich für die nachträgliche erhebliche Änderung der Verhältnisse sei das Bestehen bzw. Nichtbestehen einer Gruppenverfolgung der Yeziden in der Südosttürkei. Diesen Ansatz, der allerdings von der dem Senat bekannten Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte geteilt wird (vgl. dazu insbesondere: VG Osnabrück, Urteil vom 12. Dezember 2006 - 5 A 311/06 -, weniger deutlich: VG Freiburg, Urteil vom 25. Juli 2006 - A 6 K 11023/05, AuAS 2006, S. 224 = AuAS 2007, S. 70 sowie VG Darmstadt, Urteil vom 19. April 2007 - 7 E 2413/05.A -, Asylmagazin 2007, Heft 6, S. 23), hält der Senat für unzutreffend (vgl. dazu bereits das den Beteiligten bekannte - rechtskräftige - Urteil des beschließenden Senats vom 5. Juni 2007, a.a.O.). Diese Rechtsmeinung beruft sich nicht nur zu Unrecht auf die beiden Entscheidungen des OVG Schleswig vom 29. September 2005 (1 LB 41/04, aufgehoben durch Beschluss des BVerwG vom 24. Mai 2006 - BVerwG 1 B 130.05) und des OVG NRW vom 14. Februar 2006 (15 A 2119/02.A), in denen - anders als im vorliegenden Verfahren - erstmals um die Anerkennung als politischer Flüchtling gestritten wurde und nicht um den Widerruf einer seinerzeit ausgesprochenen Anerkennung, sondern ist nach Auffassung des Senats auch aus zwei Gründen abzulehnen.

Zum einen gibt es hiergegen einen methodologischen Einwand. Dieser ergibt sich aus der Größe der in Rede stehenden Gruppe und der zu fordernden Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse. Aus der früheren Rechtsprechungspraxis des Senats wie auch aus einschlägigen Gutachten (vgl. etwa die Auflistung yezidischer Dörfer in Türkisch-Kurdistan, in: Schneider [Hg.]: Die kurdischen Yezidi. Ein Volk auf dem Weg in den Untergang, 1984, S. 100 sowie: Sternberg-Spohr: Bestandaufnahme der Restbevölkerung der Volksgruppen der kurdischen Ezidi [Yezidi, Jesiden] und der christlichen Assyrer in der Süd-Ost-Türkei [Kurdistan-Türkei] im März 1993 [Teil I - Ezidi], März 1993 [update Sommer 1993]) ist von drei bis vier - früheren - Siedlungsgebieten der Yeziden in der Südost-Türkei auszugehen: Vom Tur'Abdin-Gebiet in der Provinz Mardin, vom Besiri/Kurtalan-Gebiet in der Provinz Siirt (sowie in der erst vor einigen Jahren geschaffenen Provinz Batman) und vom Viransehir-Gebiet in der Provinz Urfa sowie von dem kleineren Gebiet bei Diyarbakir/Bismil in der Provinz Diyarbakir. In diesen drei bzw. vier Gebieten leben zum gegenwärtigen Zeitpunkt offensichtlich kaum mehr als ca. 500 Yeziden. Die Zahl ergibt sich aus einer sehr ins Detail gehenden Zählung des Yezidischen Forums von Ende März 2006 (vgl. dazu die schriftliche Stellungnahme des Yezidischen Forums vom 4. Juli 2006, S. 11). Diese Größenordnung ist hier auch zugrunde zu legen. Zwar geht das Auswärtige Amt aufgrund von Angaben von Yeziden aus dem Viransehir-Gebiet von ca. 2.000 Yeziden aus (vgl. dazu die Auskunft vom 20. Januar 2006, den "Lagebericht" vom 11. Januar 2007 [Stand: Dezember 2006], S. 26 sowie die Auskunft vom 26. Januar 2007), jedoch ist diese Zahl - trotz ihrer Wiederholung - nicht näher spezifiziert und nachvollziehbar gemacht. Im Übrigen nennt das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 26. Januar 2007 (S. 7) selbst eine Zahl von 500 verbliebenen Yeziden, die das türkische Kultus- und Tourismusministerium für das Jahr 2000 ermittelt hat.

Ist danach aber von einer Population von gegenwärtig nur 500 bis 600 Yeziden in der gesamten Südost-Türkei auszugehen und berücksichtigt man noch, dass sich diese auf drei bis vier (frühere) Siedlungsgebiete verteilen, so kann man nach Auffassung des Senats schwerlich noch von einer wirklichen "Gruppe" sprechen, die Opfer einer Gruppenverfolgung sein kann. Erinnert sei dabei an die Bemerkung des seinerzeitigen und inzwischen verstorbenen Sachverständigen Prof. Wießner, der schon in seinem Gutachten vom 15. Juli 1996 an den HessVGH feststellte: "Auch wenn eine genaue Bestandsaufnahme der yezidischen Restbevölkerung nur durch eine neue Feldforschung vor Ort behoben werden könnte, ist davon auszugehen, dass die Größe der Restbevölkerung irrelevant ist. - Es handelt sich nach meinen Feststellungen nur noch um Restgruppen, in der Regel ältere Menschen, deren Familienangehörige schon in Europa leben und die auf eine Möglichkeit warten, ihren Angehörigen folgen zu können. Das Yezidentum in der Osttürkei äst praktisch tot." Diese Einschätzung erhält noch größere Bedeutung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Situation van drei bis vier früheren Siedlungsgebieten in Rede stehen und sich deren sozialen, stammesmäßigen, wirtschaftlichen und religiösen Verhältnisse durchaus unterschiedlichen darstellen können und es damit an einer gewissen Homogenität der Lebenssituationen fehlen kann, um für alle Gebiete eine Gruppenverfolgung zu prüfen und einheitlich zu entscheiden.

Zum anderen steht bei dem hier in Rede stehenden Widerruf der Asylanerkennung der Klägerin inmitten die Frage, ob es gerade ihr wegen der nachträglichen Änderung der Verhältnisse zumutbar ist, in die Türkei zurückzukehren. Geboten ist daher keine generalisierende Betrachtungsweise und Erörterung einer Gruppenverfoigung, sondern es ist stattdessen zu fragen, ob die als asylberechtigt anerkannte Klägerin bei einer Umsiedlung in die Türkei einer politischen Verfolgung ausgesetzt ist. Diese Frage kann nur konkret für die Person der Klägerin und für ihre Lebensverhältnisse beantwortet werden. Dabei spielen naturgemäß auch Referenzfälle eine Rolle. Sie sind aber hier nur insoweit relevant, als sie für die auf die Klägerin bezogene Prognose der künftigen Verfolgungsgefahr bedeutsam sind.

Um beurteilen zu können, was die Klägerin bei einer Rückkehr zum heutigen Zeitpunkt erwartet, ist es zunächst geboten, sich zu vergegenwärtigen, in welcher Situation ihre Eltern seinerzeit ersichtlich Mitte der 1980er Jahre ihren Heimatort und ihr Heimatland verlassen haben.

Vor diesem Hintergrund muss man das Lebensschicksal der Eltern der Klägerin sehen, die - ohne dass dies von der Beklagten aufgrund der lange zurückliegenden Zeit deren Asylverfahrens noch im Einzelnen aufklärbar wäre - ganz ersichtlich mit dieser Fluchtwelle der yezidischen Bevölkerung aus dem Dorf in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind. Es blieben - wie sich aus der Darstellung des in Bürogemeinschaft mit dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin arbeitenden Rechtsanwalts glaubhaft ergibt - nur noch ganz wenige ältere Yeziden zurück (wie dessen Großeltern), die im Alter ihre angestammte Heimat nicht mehr verlassen wollten und die durch ihre Familie (etwa den als Rechtsanwalt in Deutschland praktizierenden Enkel) eine finanzielle und soziale Absicherung erfuhren, die ihnen ein Ausharren möglich machte. Wie in hohem Maße allerdings problematisch selbst für die alten Menschen das Ausharren in war, belegt dem Senat der Umstand, dass nach der glaubhaften Darstellung des Prozessbevollmächtigen der Klägerin auch sie vor ca. fünf Jahren ihr Heimatdorf verlassen haben und in die Bundesrepublik Deutschland ausgereist sind.

Alle diese Übergriffe auf die Yeziden geschahen mit Billigung der örtlichen Polizei und der Gendarma sowie auch der Großgrundbesitzer der umliegenden Dörfer, denn sonst wären solche Repressalien in dieser Häufigkeit, Dichte und Asylrelevanz über einen so langen Zeitraum undenkbar.

Entscheidenden Einfluss auf die Verhältnisse vor Ort hatte dabei die kurdische Großgrundbesitzerfamilie Celebi. Die Familie Celebi ist die einflussreichste Familie innerhalb des Deskurti-Stammes (eines von zwei in Midyat und Umgebung maßgeblichen Stammes (vgl. dazu und zum Folgenden das Sachverständigengutachten von Aydin, Übersetzung vom 13. April 1999, an das VG Berlin, Abschrift S. 8 f). Schon immer pflegte der Deskurti-Stamm und insbesondere auch die Familie Celebi sehr gute Beziehungen zur türkischen Regierung und unterstützte die türkischen Sicherheitskräfte in ihrem bewaffneten Kampf gegen die kurdische Guerilla. Dabei war es gerade die Familie Celebi, die sich in den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der PKK seit Sommer 1984 hervortat und in großem Umfang der Regierung Dorfschützer zur Verfügung stellte, die dann zusammen mit den türkischen Sicherheitskräften gegen die bewaffnete PKK kämpften. Das Engagement der von der Familie Celebi gestellten Dorfschützer war so groß, dass sie einen besonders schlechten Ruf genossen und bekannt waren für die meisten schwerwiegenden Straftaten wie Usurpation, Raub, Vergewaltigung, Körperverletzungen und Mord. Von staatlichen Stellen wurden weder die Dorfschützer noch die Familie Celebi für diese Verbrechen zur Verantwortung gezogen. Sie waren dem türkischen Staat im seinem Kampf gegen die PKK nützlich und deshalb ließ man sie schalten und walten. Die vom Staat gebilligte Dorfschützerarmee - sie soll aus bis zu 3.000 wehrfähigen Männern bestanden haben - war naturgemäß auch ein Machtfaktor in der Region Midyat und hat den Einfluss und die Macht der Familie Celebi noch weiter gesteigert. Wie der Gutacher Aydin 1999 feststellte (a.a.O., S. 9) besaß die Familie Celebi in der Region Midyat die uneingeschränkte Überlegenheit und unterdrückte die Bevölkerung durch ihre bewaffneten Kräfte, die Dorfschützer.

Der Senat ist angesichts dessen und unter Berücksichtigung der insoweit maßgeblichen Beweiserleichterung davon überzeugt, dass die Großgrundbesitzerfamilie Celebi und höchstwahrscheinlich auch Seyhmuz Celebi persönlich mit seiner Dorfschützerarmee für diese Zustände in dem ehemaligen Yezidendorf verantwortlich waren und die Übergriffe wenn nicht befohlen so doch billigend in Kauf genommen und auch davon profitiert haben.

Mit Blick auf den von der Beklagten verfügten Widerruf der Asyanerkennung ist nun zu fragen, ob sich diese Verhältnisse in dem Dorf im Kreis Midyat nachträglich inzwischen erheblich und nicht nur vorübergehend so geändert haben, dass der Klägerin eine Umsiedlung dorthin zumutbar ist. Diese Frage ist zu verneinen.

Denn eine wirkliche Befriedung des kurdischen Südostens durch die Anerkennung der kulturellen und politischen Rechte der kurdischen Bevölkerung hat nicht stattgefunden. Damit blieben und bleiben die traditionellen Machtzentren vor Ort, die Großgrundbesitzer, für den türkischen Staat weiterhin wichtig und sie erfahren grundsätzlich eine Anerkennung und Unterstützung wie bisher. Dementsprechend sind beispielsweise die Dorfschützerwehren, die nie vollständig entwaffnet wurden, inzwischen wieder erstarkt und nehmen ihre Funktion als paramilitärische regierungstreue Schutztruppe wahr (vgl. IMK - Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 15/2007 vom 22. bis 7. Februar 2007 S. 1). Damit sind sie aber auch für die Großgrundbesitzer wiederum der regionale Machtfaktor, mit deren Hilfe sie ihre Macht erhalten und sogar ausbauen können.

In allen dem Senat vorliegenden Auskünften und Stellungnahmen gibt es keinen einzigen Fall eines Yeziden, dem eine Reintegration in das Dorf oder auch nur in ein anderes Dorf im Tur'Abdin gelungen wäre - geschweige denn auf eine längere Sicht. Vielmehr sind alle Versuche von Yeziden - ohne den Gründen nachgehen zu wollen - voll und ganz gescheitert.

Unter diesen Umständen kann der heute 15-jährigen Klägerin - die ja noch ein Kind und in der Bundesrepublik Deutschland geboren und aufgewachsen ist und noch nie in der Türkei und erst recht nicht einem von seinen Bewohnern verlassenen südostanatolischen Dorf auch nur vorübergehend gelebt hat, zugemutet werden, allein und ohne Rückhalt durch ihre Familie, von Freunden und früheren Nachbarn in das ihr fremde und von ihren Eltern vor mehr als 20 Jahren wegen politischer Verfolgung verlassene Dorf umzusiedeln. Die Klägerin ist nicht nur nicht vor erneuter politischer, religiöser Verfolgung hinreichend sicher, sondern im Gegenteil droht ihr nach allen dem Senat bekannten Umständen ein völliges auch aus religiösen Gründen bedingtes Scheitern. Selbst wenn sie es - wofür sie allerdings in keiner Weise die Fähigkeiten und Möglichkeiten besitzt - versuchen sollte, in dem Dorf Fuß zu fassen, wird man sie aus dem ehemaligen Yezidendorf schnell vertreiben, damit sie die längst etablierten Verhältnisse vor Ort nicht stört.

Schließlich hat der Senat noch erwogen, den Widerrufsbescheid des Bundesamtes deshalb zu bestätigen, weil der Klägerin eine Umsiedlung - wenn auch nicht in das Heimatdorf ihrer Eltern - so doch in eine Kreisstadt ihrer Heimatregion zumutbar ist. Jedoch auch dies ist - wobei die Beklagte selbst eine solche Möglichkeit nicht in Betracht gezogen hat - nicht möglich. Eine Umsiedlung etwa in die Kreisstadt Midyat, dessen Verhältnisse die Klägerin im Übrigen auch nicht kennt, scheitert ersichtlich daran, dass die Großgrundbesitzerfamilie Celebi auch dort entscheidenden Einfluss hat. Das belegen zumindest die zuvor mitgeteilten Fälle 2 und 5. Von daher ist der Klägerin als Yeziden - zumal als 15-jähriges Kind - ein Fußfassen auch in der Kreisstadt Midyat ebenfalls nicht möglich. Dabei ist in der Tat bezeichnend, dass es selbst nach den Angaben des Auswärtigen Amtes in der Stadt Midyat überhaupt nur fünf Yeziden gibt, die sich ständig dort aufhalten (vgl. die Auskunft vom 26. Januar 2007, S. 2 Mitte).

Letztlich bleibt zu prüfen, ob der Klägerin bei einer Umsiedlung in die Türkei eine Wohnsitznahme im Westen zuzumuten ist. Aber auch eine solche kommt jedenfalls schon vom Tatsächlichen her nicht in Betracht. Diese Möglichkeit, die ebenfalls schon die Beklagte nicht erwogen hat, verbietet sich wohl deshalb, weil selbst das Auswärtige Amt eine solche Alternative in seinen Auskünften nicht in Betracht gezogen und der Sachverständige Baris in seinem Gutachten vom 17. April 2006 (S. 2) für den Senat überzeugend ausgeführt hat, dass Yeziden dort wegen ihrer Religion, Herkunft und Kultur nicht überleben können und sich dort weniger als ein Dutzend Yeziden aufhalten. Noch abwegiger erscheint diese Vorstellung, wenn man bedenkt, dass die Klägerin ein 15-jähriges Kind ist, das aller Voraussicht nach unbegleitet in die Türkei übersiedeln müsste. Dass der Klägerin eine Umsiedlung mit anschließender Verleugnung ihrer Religion, Herkunft und Kultur, letztlich also mit einer Selbstaufgabe, nicht zumutbar ist, liegt auf der Hand.