VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 18.03.2008 - 3 A 555/05 - asyl.net: M13324
https://www.asyl.net/rsdb/M13324
Leitsatz:
Schlagwörter: Demokratische Republik Kongo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Krankheit, Infektionsgefahr, Malaria, Semi-Immunität, G-6-PDH-Mangel, Stoffwechselerkrankung, Kinder, Finanzierbarkeit, medizinische Versorgung, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die zulässige und auch sonst statthafte Klage ist begründet.

Die Beklagte ist verpflichtet festzustellen dass für den Kläger aufgrund seiner G-6-PDH-Mangelerkrankung derzeit ein Abschiebungsverbot in Bezug auf die DR Kongo gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht; die darauf bezogene Abschiebungsandrohung ist aufzuheben (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8.07 - Rn. 25).

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind nach diesen Maßstäben in Bezug auf den Kläger im Hinblick auf die allgemeine Lage in der DR Kongo nicht erfüllt. Einer in diesem Sinne extremen Gefahrenlage werden kongolesische Staatsangehörige bei einer heutigen Rückkehr in den Kongo nach den vom Gericht in das Verfahren eingeführten und ausgewerteten Erkenntnisquellen nicht ausgesetzt sein. Hierzu hat das Nds. OVG (Urt, v. 21 - 1 L 3965/98 -; Beschluss vom 12.12.2001 - 1 LA 3419/01 -; im Ergebnis ebenso: OVG Hamburg, Urt. v. 02.11.2001 - 1 Bf 242/98.A -; OVG Saarland, Urt. v. 14.01.2002 - 3 R 1/01 - m.w.N., UA S. 69), dem der Einzelrichter auch für das vorliegende Verfahren in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung der Kammer folgt, für den insoweit inhaltlich vergleichbaren § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG ausgeführt: ...

Dies gilt auch für die erheblich höhere Gefahr einer Erkrankung an Infektionskrankheiten als in Deutschland, zumal sich der Steigerungsfaktor im Wesentlichen aus den klimatischen Unterschieden ergibt und Medikamente gegen Malaria und andere Infektionskrankheiten in den Apotheken der Region Kinshasa erhältlich sind (Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Kinshasa, Auskunft an den VGH BW vom 18.05.2001; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 01.02.2008, S. 19).

Die gesundheitlichen Risiken, denen speziell der Kläger im Falle seiner Einreise in die DR Kongo aufgrund seiner Erkrankung an G-6-PDH-Mangel ausgesetzt wäre, führen nach Überzeugung des Gerichts allerdings abweichend von den vorstehenden Ausführungen aufgrund der vorliegenden medizinischen Erkenntnisse dazu, dass in seinem Einzelfall die Beklagte zu verpflichten ist, ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen. Der bei ihm diagnostizierte G-6-PDH-Mangel, durch den bestimmte Infektionen, Medikamente und Nahrungsmittel eine Hämolyse - Auflösung der roten Blutkörperchen - bewirken, führt zwar unter den in der Bundesrepublik Deutschland herrschenden Normalbedingungen nicht zu ernsthaften Krankheitserscheinungen, vielmehr kann ihm regelmäßig bereits wirksam durch eine entsprechende Ernährung (insbesondere durch Vermeidung bestimmter Hülsenfrüchte) und frühzeitige Behandlung von Infektionen mit den verträglichen Medikamenten begegnet werden. Unter den nach den vorliegenden Erkenntnismitteln in der DR Kongo herrschenden medizinischen, hygienischen und klimatischen Verhältnissen, die durch das Auftreten zahlreicher und schwerer Infektionskrankheiten bei gleichzeitig stark eingeschränkter medizinischer Versorgung der Bevölkerung gekennzeichnet sind, müsste der Kläger als ein nicht an die dortigen Lebensverhältnisse gewöhntes Kleinkind jedoch mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, sich innerhalb von wenigen Wochen nach seiner Einreise in die DR Kongo schwerwiegend zu infizieren. Zu den Infektionen, die besonders geeignet sind, eine Hämolyse zu verursachen, zählen virale Hepatiden, Atemwegserkrankungen, Infektionen des Gastrointestinaltraktes und septische Erkrankungen einschließlich Typhus. Wenn auch möglicherweise bei G-6-PDH-Mangel eine erhöhte Resistenz gegenüber Malaria bestehen kann (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Aufl. 1998, Seite 588), bewirken gerade zahlreiche und in der DR Kongo gebräuchliche Malariamedikamente wie Chloroquine, Primaquine und Chinin ebenfalls eine hämolytische Anämie, so dass in seinem speziellen Fall nicht von der Verfügbarkeit einer geeigneten Therapie ausgegangen werden kann. Andere Medikamente sind nach den seitens der Kläger im Verfahren 3 A 3217/01 vorgelegten Erkenntnismitteln für ein zweieinhalbjähriges Kind ungeeignet. Hinzu kommt, dass hämolytische Prozesse bei G-6-PDH-Mangel zu einer signifikanten Erhöhung von Bilirubin in der Galle führen, welches sich mit Kalzium zu schwer löslichem Kalzium-Bilirubinat verbindet und auf diese Weise Gallensteine bildet (vgl. Leitlinien der Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung Nr. 068/006). Aufgrund dieser Faktoren ist die für den Kläger im Falle seiner Abschiebung in die DR Kongo bestehende Gefahr für Gesundheit und Leben so deutlich erhöht, dass ihm Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren ist.

Daran ändert auch der Umstand nichts, dass in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (vgl. Berichte vom 14.12.2005 - S. 25 -, 05.09.2006 - S. 18 -, 01.02.2008 - S. 19 -) jeweils wortidentisch, aber ohne jede Konkretisierung ausgeführt wird, auch für Patienten mit Glucose-6-Phosphatdehydrogenase-6-Mangel seien geeignete Malariamedikamente erhältlich. Angesichts der in den selben Lageberichten ausführlich dargestellten, sehr schlechten Situation des Gesundheitswesens ist es nach Überzeugung des Gerichts (unter Berücksichtigung auch der aktualisierten Ausführungen Frau Dr. ... vom 10. März 2008; Bl. 33 GA) ausgeschlossen, dass der 2 1/2-jährige Kläger (ggf. mit Hilfe seiner Eltern) als in Deutschland geborenes, mithin in Bezug auf Malaria insoweit nicht immunisiertes Kleinkind seine Versorgung durch Ärzte und mit Medikamenten in Anbetracht des desolaten Zustands des Gesundheitswesens in der DR Kongo auch nur ansatzweise in der Lage sein würde, allein schon die mit seiner Erkrankung verträglichen Malariamedikamente zu beschaffen oder gar bei fehlerhafter Verwendung qualifizierte ärztliche Hilfe zeitnah zu erhalten. Das gilt umso mehr für alle Situationen, in denen aufgrund weiterer, in den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen ausführlich dargestellter Umstände (Nahrungsmittelunverträglichkeit, Infektionsrisiken u.a.) solche qualifizierte Notfallhilfe zwingend erforderlich, aber nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand für den Kläger unerreichbar ist. Völlig unklar ist zudem, wie der Kläger oder seine Eltern die erforderlichen Geldmittel aufbringen sollten, ohne die nach den genannten Lageberichten im Bereich des Gesundheitswesens ohnehin weder Therapie noch Medikamente erreichbar sind. Es gibt inzwischen lediglich ein Regierungsprogramm für eine kostenlose Tuberkulosediagnose, wobei aber auch dann die Behandlung nicht kostenfrei ist (vgl. Lagebericht v. 01.02.2008, S. 19). Nicht zuletzt das Erfordernis einer auch nur ansatzweise lebensrettenden Grundsätzen genügenden Gesundheitsversorgung lassen sämtliche (theoretischen) Stellungnahmen außer Betracht, die der Landkreis Göttingen zur Verfahrensakte des Bundesamtes gereicht hat, wobei Prof. Dr. ... vom Uni-Klinikum München in seiner Stellungnahme vom 25.11.2003 zudem ausdrücklich erwähnt, dass die in der DR Kongo extrem häufigen Infektionen die oben bereits benannte Hämolyse auslösen, ohne auch nur ansatzweise zu würdigen, wie der Kläger (im Gegensatz zu nicht an dem G-6-PDH-Mangen Erkrankten) zusätzlich zur Infektion die Behandlung der Zerstörung seiner roten Blutkörperchen in den dortigen desolaten Verhältnissen bewerkstelligen (und bezahlen) soll.