Keine extreme allgemeine Gefahrenlage für Rückkehrer nach Afghanistan.
Keine extreme allgemeine Gefahrenlage für Rückkehrer nach Afghanistan.
(Leitsatz der Redaktion)
Die Berufung ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Die Klage ist hinsichtlich des Begehrens festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG - diese Vorschrift ist am 1. Januar 2005 an die Stelle von § 53 Abs. 6 AuslG getreten, § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG in der Fassung des Art. 3 Nr. 20 sowie Art 15 Abs. 3 des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I 1950) - vorliegen, unbegründet.
Allerdings erfasst § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur einzelfallbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituationen. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist mit Blick auf Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG der Rückgriff auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG jedoch bei einer allgemeinen Gefahr ausnahmsweise dann nicht gesperrt, wenn die Situation im Zielstaat der Abschiebung so extrem ist, dass die Abschiebung den Einzelnen "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde" (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. November 2007 - 10 B 47.07 -).
Die Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004), deren Art. 15 Buchst. c) durch einen neuen Satz 2 in § 60 Abs. 7 AufenthG umgesetzt worden ist und die nach Ablauf der Umsetzungsfrist ohnehin Beachtung beansprucht, stellt die Rechtsprechung zur extremen Gefahrensituation jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang nicht in Frage. Denn dieses Kriterium hat zweifelsfrei unverändert Geltung zumindest für die Fälle einer Gefahr, der die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt ist, die aber nicht unter Art. 15 Buchst. c) der Qualifikationsrichtlinie zu fassen ist. Letztere Regelung und § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bleiben nämlich mit dem Begriff "innerstaatlicher bewaffneter Konflikt", die Qualifikationsrichtlinie zudem mit dem der "willkürlichen Gewalt", hinter § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zurück, wo ohne Blick auf Anlass oder Hintergrund allein auf die drohende Beeinträchtigung bestimmter Rechtsgüter abgestellt wird. In Bezug auf die nicht durch willkürliche Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts bestimmten Bedrohungssituationen für die Bevölkerung oder eine bestimmte Gruppe ist gegen die in der innerstaatlichen höchstrichterlichen Rechtsprechung herausgestellten Maßstäbe allein mit Blick auf die Qualifikationsrichtlinie jedenfalls nichts zu erinnern (vgl. dazu Hessischer VGH, Urteil vom 9. November 2006 - 3 UE 3238/03.A -).
Vorliegend kommt es - wie weiter unten noch näher darzulegen ist - im Hinblick auf die Konfliktlage auf die Frage des Erfordernisses einer Zuspitzung hin zur extremen Gefahr und damit einen eventuellen Auslegungsbedarf der Richtlinie nicht an, weil bereits die in der Qualifikationsrichtlinie geforderte ernsthafte individuelle Bedrohung nicht festzustellen ist.
§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, zu dem sich die oben angesprochene, an Art. 15 Buchst. c) der Qualifikationsrichtlinie anknüpfende Frage einer erforderlichen Zuspitzung der Gefahr infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts vor allem stellt, trägt das streitige Begehren nicht. Dazu bedarf es keiner näheren Beschäftigung mit dem Charakter der in Afghanistan bestehenden Unsicherheit der allgemeinen Lage als bewaffneter Konflikt und der Frage nach dem Erfordernis einer extremen Gefahr wegen Betroffenheit der gesamten Bevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe. Denn trotz der zunehmenden Zahl von Attentaten, Überfällen und Übergriffen sowie sonstiger gewaltsamer Auseinandersetzungen kann ein Ausgesetztsein im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, womit die in Art. 15 Buchst. c) der Qualifikationsrichtlinie genannte ernsthafte Bedrohung aufgegriffen worden ist, nicht festgestellt werden. Dass es sich hierbei um eine Bedrohung handelt, die für den einzelnen um Schutz Nachsuchenden festgestellt werden muss, also das bloße allgemeine Vorkommen im Heimatstaat nicht ausreicht, ist nach der Funktion der (subsidiären) Schutzgewährung im Einzelfall und nach dem Wortlaut von Art. 15 Buchst. c) sowie dem Erwägungsgrund Nr. 26 der Qualifikationsrichtlinie nicht ernstlich zu bezweifeln (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. Mai 2007 - 1 B 217.06 -).
Zwar hat sich die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan entgegen den Erwartungen, die nicht zuletzt mit der Stationierung der ISAF und der Hilfe beim Aufbau der Polizei verbunden waren, - wie laufend den allgemein zugänglichen Quellen zu entnehmen ist - negativ entwickelt. Sie ist jedoch nicht so kritisch, dass jeder in sein Heimatland zurückkehrende und nach Kabul gelangende Afghane berechtigter Weise die Sorge hegen muss, Opfer eines Übergriffs oder Anschlags zu werden oder in sonstiger Weise von rivalisierenden ethnischen, religiösen oder sonst motivierten Gruppen oder Banden in seinem Leben oder seiner Unversehrtheit geschädigt zu werden, also ernsthaft individuell bedroht zu sein. Wenngleich sich das in der Qualifikationsrichtlinie angesprochene Willkürhafte bei Gewalt gerade auch in einer Unberechenbarkeit und einem dadurch bedingten Mangel an Ausweichmöglichkeiten manifestiert, bedarf es dennoch einer gewissen Dichte der gefährlichen Vorkommnisse, um von einer Ernsthaftigkeit der Bedrohung sprechen zu können. Denn die Bedrohung ist ein objektives Faktum und auch ihre Ernsthaftigkeit geht über den Bereich subjektiven - von Ängstlichkeit oder Robustheit bestimmten - Empfindens hinaus. In der Spannweite zwischen einer quasi absoluten Sicherheit und einer geradezu unausweichlichen Rechtsgutbeeinträchtigung ist daher abwägend nach der Zumutbarkeit der Konfrontation mit einer bestimmten Situation zu fragen. Dies setzt neben der Berücksichtigung der Häufigkeit einschlägiger Vorkommnisse in Relation zur Größe des betrachteten Gebietes insbesondere die Feststellung eventueller räumlicher Schwerpunkte sowie der Anlässe und Zielpersonen oder -objekte von Gewaltaktionen voraus, da sich u.a. danach bestimmt, inwieweit das Verhalten des Einzelnen und seine Entfaltungsmöglichkeiten beeinflusst werden. Dies zugrunde legend lässt sich nicht feststellen, dass die Sicherheitslage, auch soweit sie von den innerstaatlichen, teils mit Waffeneinsatz einhergehenden Geschehnissen (mit-)bestimmt wird, Schutz für den Einzelnen erfordert. Die Auseinandersetzungen, seien sie zwischen Ethnien, Religionsrichtungen, Warlords und ihren jeweiligen Anhängern oder Regierungskräften und Taliban, sind jedenfalls noch nicht so stark in den Bereich Kabul hineingetragen, dass sich der Einzelne begründeter Weise als ernsthaft bedroht sehen muss.
Die für Rückkehrer nach Afghanistan weiter einzustellenden Gefahren für die Schutzgüter des § 60 Abs. 7 AufenthG sind solche allgemeiner Art im Sinne des Satzes 3 der Vorschrift.
Der Senat hat sich mit der Frage eines verfassungsrechtlich gebotenen Abschiebungsschutzes für afghanische Staatsangehörige bereits wiederholt befasst und unter Betrachtung der spezifischen Umstände verschiedener Gruppen eine extreme Gefahrenlage für einzelne besondere Fallgruppen anerkannt. Eine extreme Gefahr ist wegen Fehlens eines subsidiären sozialen Netzwerkes für alte, behinderte und schwer erkrankte Personen ohne Bezugspersonen in Afghanistan, die für eine Hilfestellung in Betracht kämen, bejaht worden (vgl. Urteil des Senats vom 15. Mai 2003 - 20 A 3332/97.A -).
Eine relevante Zuspitzung der Lage ist - vorbehaltlich besonderer Umstände - auch für Frauen konkret zu befürchten, die ohne männliche Begleitung nach Afghanistan zurückkehren müssen und nicht in intakten Strukturen Aufnahme finden. Alleinstehende Frauen sind in hohem Maße schon dann gefährdet, wenn sie die erforderlichen Schritte zur Beschaffung des Lebensnotwendigen unternehmen, weil sie gesellschaftlich nicht akzeptiert, sondern eher als "Freiwild" betrachtet und als moralisch verwerflich behandelt werden (vgl. Urteil des Senats vom 20. März 2003 - 20 A 4270/97.A -, in dem bei einer unverheirateten Frau auf die bei realistischer Betrachtung der konkreten Umstände allein zu erwartende Rückkehr gemeinsam mit einem Bruder abgestellt worden ist).
Extrem kritisch kann sich auch die Lage von Personen darstellen, die unter gesundheitlichen Problemen leiden, die nicht als individuelle erhebliche Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG einzuordnen sind, aber doch eine die Grundelemente in Behandlung und Medikamentation übersteigende Versorgung benötigen. Die medizinischen Möglichkeiten in Afghanistan entsprechen den Verhältnissen eines der ärmsten Länder der Welt; sie sind, zumal nach jahrelangen Kämpfen, höchst unzureichend und können so im Einzelfall zu einer kurzfristigen, rabiaten Verschlechterung der Verfassung bis hin zur Lebensgefahr führen. Schließlich können sich Zuspitzungen noch aus Umständen ergeben, die ihrer Art nach schon andere, regelmäßig vorrangige Schutzgründe - Asyl oder § 60 Abs. 1 bis 3 und 5 AufenthG - tragen könnten, dort aber aus welchen Gründen außer mangelnder Glaubhaftigkeit auch immer nicht zum Erfolg geführt haben. Insofern ist, soweit dabei von einer Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gesprochen werden kann, vor allem an Angehörige früherer Regime - etwa Kommunisten oder Taliban - zu denken, wenngleich hier allenfalls ausnahmsweise Wahrscheinlichkeit und Dringlichkeit der Gefahr den hier betrachteten Anforderungen für einen unerlässlichen Abschiebungsschutz genügen dürften (vgl. zu den Fallgruppen im Einzelnen noch den Beschluss des Senats vom 23. April 2007 - 20 A 2199/06.A - m.w.N.).
Im Übrigen hat der Senat bisher die Voraussetzungen für eine Überwindung von § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bzw. der Vorgängerregelungen verneint.
Der Senat verbleibt - ungeachtet eventuellen Auslaufens des von David (27.03.2006) geschilderten Hilfsprogramms von IOM, das einer relevanten Zuspitzung der Gefahrenlage jedenfalls entgegenstand/-steht (vgl. Urteil des Senats vom 5. April 2006 - 20 A 5161/04.A -) bei seiner Einschätzung, dass für Rückkehrer aus Deutschland nach Afghanistan nicht allgemein die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG bejaht werden können. Die möglichen Feststellungen tragen nicht den von der Vorinstanz gezogenen Schluss, Personen, die nicht in einem funktionierenden Familien- oder Stammesverband Aufnahme finden, gerieten in Afghanistan in eine völlig aussichtslose Lage (im Ergebnis für männliche Flüchtlinge mittleren Alters ebenso Hess. VGH, Urteil vom 7. Februar 2008 - 8 UE 1913/06.A, Sächsisches OVG, Urteil vom 23. August 2006 - A 1 B 58/06 - und OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Mai 2006 - 12 B 9.05 -; ähnlich (jedenfalls, wenn Angehörige in Kabul leben) OVG Schleswig, Urteil vom 21. November 2007 - 2 LB 38/07 -; abweichend (extreme Gefahr bei Fehlen von familiärem Rückhalt) VG Gießen, Urteil vom 13. Dezember 2006 - 2 E 871/06.A -, VG München, Urteil vom 11. September 2006 - M 23 K 03.52145 -, VG Karlsruhe, Urteil vom 9. November 2005 - A 10 K 12302/03 -).