VG Hannover

Merkliste
Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 28.02.2008 - 6 A 4289/04 - asyl.net: M13329
https://www.asyl.net/rsdb/M13329
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Jesiden, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Sicherheitslage, Islamisten, interne Fluchtalternative, Nordirak, Existenzminimum, persönliche Bindungen, Registrierung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die Klage ist begründet.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrensgesetz - AsylVfG - ist die mit der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - verbundene Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylVfG) unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Danach ist im Fall der Kläger ein Widerruf ihrer Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen, denn nach den der Beklagten vorliegenden Erkenntnissen hat sich die durch Anschläge und gewalttätige Angriffe auf Angehörige religiöser Minderheiten im Irak gekennzeichnete Sicherheitslage zwischenzeitlich derart verschlechtert, dass in Bezug auf die Zahl der Referenzfälle und der Intensität von Übergriffen von einer Gruppenverfolgung der Angehörigen der jezidischen Bevölkerungsminderheit durch nicht-staatliche Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst, c) AufenthG ausgegangen wird (Bundesministerium des Innern, Erlass vom 15.5.2007 - M I 4 -125 421 IRQ/0), insbesondere der islamisch orientierten Terroristen zugeschriebene Massenmord durch die Bombenanschläge zur Zerstörung der von Jeziden bewohnten Modellsiedlungen Til Ezer und Sibha Sheikh Khidir vom 14. August 2007, bei dem etwa 400 Menschen getötet und mehrere Hundert verletzt worden sind (vgl. Welt vom 17.8.2007 "Zahl der Toten ... steigt auf mehr als 400"; Gesellschaft für bedrohte Völker "Die Yezidi im Irak - November 2007"), hat diese Tatsachenlage bestätigt. Auch die Beklagte geht nach der der Kammer erteilten Auskunft des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31. Januar 2008 - 420-7406-10/08 - weiterhin von einer Gruppenverfolgung der Jeziden in den nicht kurdisch verwalteten Provinzen des Irak aus.

Es bestehen keine Zweifel daran, dass die Kläger irakische Staatsangehörige sind und der Glaubensgemeinschaft der Jeziden angehören.

Ob die Annahme einer inländischen Fluchtalternative für Jeziden im Nordirak nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG trotz Annahme einer Gruppenverfolgung ein zulässiger Grund für das Festhalten am Widerrufsbescheid vom 23. Februar 2005 wäre, ist fraglich. Mit der Tatsache, dass die Jeziden im Zentralirak nunmehr einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure unterliegen, ist das entscheidende Argument für die Zulässigkeit des Widerrufs auch der Eigenschaft von Flüchtlingen aus dem Nordirak, nämlich der landesweite Wegfall der Gefahr einer politischen Verfolgung durch den irakischen Staat mit Ende des Irak-Krieges (BVerwG, Urt. vom 25.8.2004 - BVerwG 1 C 22.03 NVwZ 2005 S. 89, 90), gegenstandslos geworden. Eine andere Erkenntnislage oder Bewertung der bereits seit den 90er-Jahren bestehenden inländischen Fluchtalternative in Nordirak allein berechtigt aber nicht zum Widerruf der Flüchtlingseigenschaft (BVerwG, Urt. vom 19.9.2000, a.a.O.).

Diese Rechtsfrage kann aber vorliegend offen bleiben, denn es liegen auch keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Kläger vor der Gefahr, im Irak eine politische Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure zu erleiden, in eine der drei kurdisch verwalteten Nordprovinzen des Landes ausweichen und dort eine ausreichende Lebensgrundlage finden könnte. Selbst für muslimische Kurden, die nicht ursprünglich in den Provinzen Dohuk, Arbil und Sulaimaniya registriert waren, bestehen nur dann ausreichende Möglichkeiten einer Niederlassung in einer dieser Provinzen, wenn sie dort zum Einen über persönliche Beziehungen verfügen ("Sponsor"), die ihnen die Registrierung und damit im Ergebnis die Einbeziehung in die Verteilung grundlegender Versorgungsleistungen ermöglichen, und zum Anderen über verwandtschaftliche oder andere Kontakte in die sozialen Strukturen eingebunden werden können (UNHCR, Gutachten vom 28.7.2007 für das VG Berlin, S. 15 ff.). Dafür, dass solche Voraussetzungen für eine existenzsichernde Niederlassung der Kläger im Norden des Landes gegeben wären, hat die Befragung der Kläger in der mündlichen Verhandlung keine hinreichenden Anhaltspunkte ergeben. Das Gericht ist auf der Grundlage der Befragung der Kläger in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass die Kläger aus Dohola, einen Ort außerhalb des Nordiraks stammen. Sie haben zwar eine zeit lang bei Dohuk bei einem Freund gewohnt. Dies geschah jedoch im Zusammenhang mit dem Umstand, dass die Kläger aufgrund individueller Verfolgungsmaßnahmen durch das Baath-Regime "in die Berge" gegangen sind. Hinreichende Anhaltspunkte für eine Verwurzelung der Kläger im Nordirak, die den Schluss zu lassen könnte, die Kläger könnten in ihrem Einzelfall nach 20jähriger Abwesenheit aus dem Irak im Nordirak eine Existenzgrundlage finden, ergeben sich daraus nicht. Es ist den Klägern nicht zu widerlegen, das sie im Nordirak über keinen "Sponsor" verfügen, der zumindest theoretisch Ihnen zu einer gesicherten Existenz im Nordirak verhelfen könnte.