VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 28.02.2008 - A 1 K 667/07 - asyl.net: M13334
https://www.asyl.net/rsdb/M13334
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Dorfschützer, Änderung der Sachlage, politische Entwicklung, Reformen, Menschenrechtslage, Kurden, Gruppenverfolgung, Sippenhaft, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

en Klägern steht ein Anspruch auf Aufhebung des Widerrufs der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, nicht zu.

Die materiellen Widerrufsvoraussetzungen nach § 73 Abs. 1 AsylVfG sind gegeben. Im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt liegen bei zusammenfassender bewertender Betrachtung aller relevanter Umstände und Aspekte für die Kläger die für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft maßgeblichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht (mehr) vor. Die zum Zeitpunkt der Anerkennungsentscheidung maßgeblichen Verhältnisse in der Türkei haben sich nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert, dass bei einer Rückkehr der Kläger dorthin diesen wegen der vorgetragenen Verweigerung des Klägers zu 1 im Jahr 1994, das Amt des Dorfschützers zu übernehmen, heute, 14 Jahre danach, keine politischen Verfolgungsmaßnahmen drohen. Die Türkei hat umfangreiche Reformen durchgeführt, die in engem Zusammenhang mit dem Ziel des EU-Beitritts stehen, aber erklärtermaßen auch einer weiteren Demokratisierung zum Wohle ihrer Bürger dienen. Die Behörden verfolgen gegenüber der Folter eine "Null-Toleranz-Politik". Art. 94 ff. des tStGB sehen für Folter eine Mindeststrafe von drei bis zwölf Jahren Haft vor, verschiedene Qualifizierungen sehen höhere Strafen bis hin zu lebenslanger Haft vor. Die Türkei ist den wichtigsten internationalen und europäischen Übereinkommen beigetreten und hat das Prinzip des Vorrangs dieser internationalen Menschenrechtsübereinkommen vor dem nationalen Recht in der Verfassung verankert. Die Staatssicherheitsgerichte wurden aufgelöst und zum 01.06.2005 sind ein neues türkisches Strafgesetzbuch und eine neue türkische Strafprozessordnung in Kraft getreten. Was den Minderheitenschutz und die Ausübung der kulturellen Rechte der Kurden betrifft, hat sich die Situation wesentlich verändert und verbessert. Durch mehrere Verfassungsänderungen und Änderungen des Strafrechts in den letzten Jahren wurde die Meinungsfreiheit gestärkt. Meinungsäußerungen, die das Ziel haben, Kritik auszuüben, sind nach § 301 Abs. 4 tStGB straffrei (vgl. u.a. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: September 2007) vom 25.10.2007; auch VG Ansbach, Urteil vom 29.11.2007 - AN 1 K 06.30925 -, juris; VG Stuttgart, Urteil vom 09.10.2007 - A 1 K 1707/06 -).

Allein auf Grund ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit haben die Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei keine staatlichen Verfolgungsmaßnahmen zu befürchten (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 09.02.2006 - A 12 S 1505/04 -, m.N.; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 24.10.2007 - 3 L 303/04 -; OVG Hamburg, Beschluss vom 16.04.2007 - 4 Bf 241/00A). Eine Sippenhaft gibt es in der Türkei nicht (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: September 2007) vom 25.10.2007).

Dass den Klägern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126, 243 ff.) aus anderen Gründen in der Türkei asylrechtsrelevante Verfolgung droht, ist weder substantiiert dargelegt noch ersichtlich. Wegen der Ausreise aus der Türkei und der Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland droht den Klägern keine Verfolgungsgefahr.