VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 16.04.2008 - 19 B 07.336 - asyl.net: M13349
https://www.asyl.net/rsdb/M13349
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Niederlassungserlaubnis, Sprachkenntnisse, Altfälle, Übergangsregelung, Zuwanderungsgesetz, Lebensunterhalt, Behinderte, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AufenthG § 26 Abs. 4; AufenthG § 104 Abs. 2; AufenthG § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 2; AufenthG § 2 Abs. 3
Auszüge:

Die nach Zulassung statthafte Berufung (§ 124 a Abs. 5 Satz 5 VwGO) erfüllt die Anforderungen des § 124 a Abs. 6 VwGO. Sie erweist sich auch als begründet, weil der Kl. die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 26 Abs. 4, 9 Abs. 2, 104 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erfüllt und bei der gegebenen Sachlage das der Bekl. gegebene Erteilungsermessen auf Null reduziert ist.

2.1 Das Erfordernis eines mindestens 7-jährigen Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen (früher Aufenthaltsbefugnis) erfüllt er offensichtlich, ohne dass es noch auf eine Fiktion gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG oder die Anrechnung der Zeit des Asylverfahrens (§ 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG) ankäme.

2.2 Gemäß § 104 Abs. 2 Satz 1 AufenthG genügt bei Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis vor dem 1. Januar 2005 auch, dass der Ausländer anstatt über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen zu müssen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG) sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen kann. Eine Anwendung der deutschen Sprache in schriftlicher Form wird damit von vornherein nicht verlangt. Wann im Übrigen diese herabgeminderte Anforderung an die mündliche Sprachfähigkeit erfüllt ist, lässt der Gesetzgeber offen. Nach Ansicht des Senats ist hierfür erforderlich, dass der Ausländer zu geläufigen Alltagsthemen wenigstens Sätze mit Subjekt, Verbum und Objekt bilden und entsprechende Sätze anderer mehr als nur selten verstehen kann (so auch VG Berlin, U. v. 19.12.2007 - VG 5 V 22.07 in AuAS 2007, S. 50 ff.). Nach der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Überzeugung des Senats erfüllt der Kl. diese Anforderungen noch.

2.3 Es verbleibt somit die Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG, nämlich dass der Lebensunterhalt (§ 2 Abs. 3 AufenthG) gesichert ist. Diese ist hier offensichtlich nicht erfüllt, denn der Kl. (und seine Frau) leben seit nunmehr ca. elf Jahren ausschließlich von öffentlicher Fürsorge. Eine familiäre Unterstützung durch den Sohn kann für eine eigenständige Sicherung des Lebensunterhaltes grundsätzlich nicht berücksichtigt werden, da dies gemäß § 2 Abs. 3 Satz 4 AufenthG nur bei - hier nicht einschlägigem - Familiennachzug vorgesehen ist.

Von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG wird allerdings abgesehen (§ 26 Abs. 4 Satz 2 AufenthG), wenn der Ausländer diese aus den in § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG genannten Gründen, also wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen kann. Hier macht der Kl. eine körperliche Behinderung geltend, die auch durch einen Ausweis (Behinderung: 50 %) belegt und durch ärztliche Atteste konkretisiert ist.

Der Bevollmächtigte stellt wesentlich auf den Grad der Behinderung als Ursache für die mangelnde Sicherung des Lebensunterhalts ab. Dies erscheint wenig überzeugend, denn viele Menschen mit einem gleich hohen oder gar höheren Behinderungsgrad als der Kl. sind durchaus in der Lage, ihren Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Fürsorge zu verdienen.

Die Bekl. vertritt hierzu im Wesentlichen die Auffassung, dass der Kl. seinen Lebensunterhalt nicht nur bzw. nicht überwiegend wegen seiner körperlichen Behinderung nicht sichern könne, sondern dass er vor allem aus gesundheitsunabhängigen Gründen wie Alter und allgemeiner wirtschaftlicher Lage keine Beschäftigung gefunden habe. Auch dies kann nicht überzeugen, denn damit würde die vom Gesetzgeber geschaffene humanitäre Regelung des § 26 Abs. 4 AufenthG in Zeiten einer schlechten Wirtschafts- bzw. Beschäftigungslage sowie bei älteren Ausländern leer laufen.

Nach Rechtsauffassung des Senats bedarf es hier vielmehr einer konkreten Betrachtung dahingehend, inwieweit der Ausländer aufgrund der der Behinderung zugrunde liegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei einer ihm theoretisch möglichen Tätigkeit seinen Lebensunterhalt - gemessen an sozialgesetzlichen Maßstäben - verdienen könnte. Vorliegend wird für den Kl. eine leichte Arbeit von bis zu 3 Stunden (Dr. S.) bzw. bis zu 6 Stunden (Dr. H.) für möglich gehalten. Geht man von einer vertretbaren Halbtagstätigkeit mit 4 Stunden/Tag an fünf Arbeitstagen/Woche und 4,3 Wochen/Monat sowie einem realistisch erzielbaren Stundenlohn von 3,50 Euro aus, würde der Kl. trotz Behinderung durchschnittlich 301,- Euro Monat Brutto erwirtschaften können. Der den Kl. betreffende Anteil der nach SGB II geleisteten Zahlungen (Stand 3.1.2007) liegt demgegenüber mit 496,- Euro deutlich höher. Gleiches gilt bei einer Vergleichsbetrachtung mit dem derzeitigen Sozialhilfesatz (Grundsicherung 312,- Euro, Mehrbedarf 39,- Euro, Mietzuschuss anteilig 143,37 Euro) mit insgesamt 494,37 Euro. Selbst bei einem von Seiten der Bekl. in der mündlichen Verhandlung für möglich gehaltenen Stundenlohn von 5,- Euro läge das erzielbare Einkommen des Kl. mit ca. 430,- Euro noch unter den vorgenannten Werten. Die sich aus §§ 2 Abs. 3 Sätze 5, 6 i.V.m. §§ 16 und 20 AufenthG, §§ 13, 13 a BAföG und § 18 SGB IV ergebenden Beträge lägen noch höher, dienen jedoch erkennbar anderen Zwecken und wären deshalb für den beabsichtigten Daueraufenthalt des KI. nicht heranzuziehen.

Insgesamt könnte der Kl. somit selbst bei einer ihm möglichen Arbeitsleistung seinen Lebensunterhalt nicht sichern; in welchem Umfang der Unterhaltsbedarf nicht gedeckt werden könnte (hier zu ca. 40 %), ist dabei unerheblich (vgl. Renner, Kommentar zum Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, Rn. 21 zu § 9 AufenthG). Da es sich bei § 9 Abs. 2 Sätze 6, 3 AufenthG um eine zwingende Regelung handelt, ist im Falle des Kl. somit (auch) von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen. Für die Anwendung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist angesichts der spezialgesetzlichen Regelung des § 9 Abs. 2 AufenthG grundsätzlich kein Raum mehr; jedenfalls aber wäre im Rahmen der Absehensregelung des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG die in § 9 Abs. 2 Sätze 3, 6 AufenthG zum Ausdruck kommende Intention des Gesetzgebers ermessenslenkend zu berücksichtigen.

Auch bei Vorliegen sämtlicher Tatbestandsvoraussetzungen des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ist die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ins Ermessen der Behörde gestellt. Gesichtspunkte, die gegen die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis an den Kl. sprächen, sind jedoch nicht erkennbar und wurden von der Bekl. in der mündlichen Verhandlung auch nicht geltend gemacht. Hierfür könnten auch keine Gesichtspunkte herangezogen werden, auf deren Erfüllung der Gesetzgeber im Rahmen der Regelung der §§ 9 Abs. 2, 104 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bereits verzichtet hat, sondern allenfalls andere einer Verfestigung eines Aufenthaltsrechts entgegenstehende Umstände, u.a. wenn ein Ausländer erheblich strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Hierfür liegen beim Kl. jedoch keinerlei Anhaltspunkte vor. Letztlich ist damit das Ermessen der Bekl. soweit reduziert, dass allein die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ermessensgerecht erscheint. Dementsprechend hat der Senat auch unmittelbar eine entsprechende Verpflichtung der Bekl. ausgesprochen und von einem Bescheidungsurteil abgesehen.