VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 27.02.2008 - VG 23 V 44.05 - asyl.net: M13352
https://www.asyl.net/rsdb/M13352
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Kindernachzug, deutsche Eltern, Beurteilungszeitpunkt, Antragstellung, Volljährigkeit, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Visumsantrag, Sorgerecht, alleiniges Sorgerecht, Ghana, Ghanaer, Stammesrecht, Gewohnheitsrecht, ausländische Gerichtsentscheidungen, Beweislast, ordre public, Kindeswohl, Berufungszulassung, grundsätzliche Bedeutung
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; AufenthG § 32 Abs. 3; AufenthG § 104 Abs. 3; EGBGB Art. 21; FGG § 16a Nr. 2; FGG § 16a Nr. 4; VwGO § 124 Nr. 3
Auszüge:

Die zulässige Verpflichtungsklage, über die ohne den in der mündlichen Verhandlung ausgebliebenen Beigeladenen verhandelt und entschieden werden konnte, weil auf diese Möglichkeit bei der Ladung hingewiesen wurde (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist begründet.

Die Erteilung des Visums zum Kindernachzug richtet sich im vorliegenden Fall nicht nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG (2.), der den Nachzug ausländischer minderjähriger lediger Kinder von Deutschen regelt, sondern nach § 32 Abs. 3 AufenthG.

2. Es ist unerheblich, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 30. April 1998 - 1 C 12/96 -, NVwZ-RR 1998 S. 677 zu § 23 Abs. 1 Nr. 2 AuslG) hinsichtlich der in § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genannten Voraussetzung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen ist. Denn nach dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift, minderjährigen Kindern von Deutschen den Aufenthalt zu ermöglichen, müssen auch die für die Erteilung der Erlaubnis erforderlichen weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen vor Erreichung der Volljährigkeit gegeben sein (vgl. BVerwG, a.a.O.). Dies ist hier nicht der Fall. Der Vater des Klägers zu 1. erwarb die deutsche Staatsangehörigkeit erst nach dem Eintritt der Volljährigkeit des Klägers zu 1.

3 a) § 32 Abs. 3 AufenthG ist für den Kindernachzug des Klägers zu 1. zu seinem Vater gemäß § 104 Abs. 3 AufenthG anwendbar. Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift, den Aufenthalt Minderjähriger zu begünstigen, genügt es für die Erfüllung dieser Voraussetzung, dass der Elternteil, zu dem der Nachzug begehrt wird, in der Zeit vor dem 1. Januar 2005 bis zum Eintritt der Volljährigkeit des nachzugswilligen Kindes Ausländer war, wenn dieser Elternteil - wie hier - im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung deutscher Staatsangehöriger ist.

Der Vater des Klägers zu 1. hält sich seit dem Jahre 1997 rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Er besaß vor seiner Einbürgerung Aufenthaltsgenehmigungen.

b) Nach § 32 Abs. 3 AufenthG ist dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis besitzen. Die in § 32 Abs. 3 2. Alt. AufenthG genannten Voraussetzungen liegen vor. Der Kläger zu 1. erfüllt die altersmäßige Voraussetzung. Es ist unerheblich, dass er mittlerweile 18 Jahre alt ist. Denn maßgeblich für die Einhaltung der in § 32 Abs. 3 AufenthG festgelegten Altersgrenze ist der Zeitpunkt der Antragstellung. Andernfalls würde nämlich der mit der Vorschrift verfolgte Zweck, Kindern unter 16 Jahren die Herstellung der Familieneinheit im Bundesgebiet zu ermöglichen, vielfach aufgrund des Zeitablaufs verfehlt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O., m.w.N.). Der Kläger zu 1. hat das Visum im Alter von 15 Jahren beantragt. Die weiteren Voraussetzungen der Vorschrift müssen im Hinblick auf die gesetzliche Zielsetzung bei Vollendung des 16. Lebensjahres bis zum Eintritt der Volljährigkeit des Kindes gegeben sein, wenn das Kind - wie hier - im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz schon volljährig ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. April 2007 - OVG 12 B 2.05 -).

4. Die Frage, ob der im Bundesgebiet lebende Vater des Klägers zu .1. für diesen Kläger in dem genannten Zeitraum allein personensorgeberechtigt war, beurteilt sich gemäß Art. 21 EGBGB nach ghanaischem Recht. Denn das Rechtsverhältnis zwischen einem Kind und seinen Eltern unterliegt nach dieser Vorschrift dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Das ist hier Ghana. Der Vater des Klägers zu 1. war seinerzeit nach ghanaischem Recht, nämlich nach einer ghanaischen Sorgerechtsentscheidung, allein personensorgeberechtigt. Es mag letztlich auf sich beruhen, ob das Sorgerecht für den Kläger zu 1. dessen Vater mit der Entscheidung des Circuit Court in Accra vom 11. Mai 2004 allein übertragen wurde oder ob mit dieser Entscheidung festgestellt wurde, dass dieses Sorgerecht dem Vater des Klägers zu 1. allein zusteht. Denn jedenfalls war der Vater des Klägers zu 1. nach der Entscheidung alleiniger Inhaber des Sorgerechts.

5. Die Entscheidung ist entgegen der Ansicht der Beklagten wirksam. Es sind weder Umstände vorgetragen noch ansonsten ersichtlich, die nach dem maßgeblichen ghanaischen Recht zur Nichtigkeit der Entscheidung führen. Es kann dahinstehen, ob die Entscheidung - wie die Beklagte vorträgt - unter Anwendung ghanaischen Gewohnheitsrechts, nämlich Stammesrechts, ergangen ist. Denn es ist jedenfalls nicht erkennbar, dass die möglicherweise fehlerhafte Anwendung dieses Rechts nicht nur die Rechtswidrigkeit, sondern die Nichtigkeit der Entscheidung zur Folge hat.

a) Der ghanaische Children's Act verdrängt ghanaisches Gewohnheitsrecht nicht generell. Nach Wanitzek (in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, 175. Lieferung [Stand: Februar 2008], Länderteil "Ghana", III. 5., S. 59 f.) sind lediglich die allgemeinen Bestimmungen des Children's Act über die Kindesrechte, mithin Sec. 1 bis 26 dieses Acts, die sich in dessen mit "Kindesrechte" überschriebenen Teil 1 befinden, von genereller Anwendbarkeit und verdrängen insoweit Gewohnheitsrecht. Sec. 43, nach der u.a. ein Elternteil beim Family Tribunal das Sorgerecht für das Kind beantragen kann, findet sich hingegen in dem mit "Elternschaft, Sorgerecht, Umgangsrecht und Kindesunterhalt" überschriebenen Teil 111 des Children's Act. Selbst nach dem Vorbringen der Beklagten hat der Children's Act nur grundsätzlich Vorrang vor dem Gewohnheitsrecht und stellt der Rückgriff auf Gewohnheitsrecht einen von zwei Wegen dar, die nach ghanaischem Recht beschritten werden können, um das Sorgerecht für Kinder zu erlangen (S. 3 f. der deutschen Übersetzung der Studie). Nach Gewohnheitsrecht getroffene Sorgerechtsentscheidungen sind im Übrigen in der ghanaischen Rechtswirklichkeit nach wie vor weit verbreitet.

b) Es mag letztlich auf sich beruhen, ob der seit 1997 in Deutschland lebende Vater des Klägers zu 1. im Zeitpunkt des Erlasses der in Rede stehenden Sorgerechtsentscheidung noch ghanaischem Gewohnheitsrecht unterlag. Denn der Umstand, dass er diesem Recht damals nicht mehr unterlag, hat jedenfalls nicht zur Folge, dass die Entscheidung nichtig ist. Die Voraussetzungen, unter denen Entscheidungen ghanaischer Gerichte nichtig sind, die das Sorgerecht für ein Kind einem ghanaischen Staatsangehörigen, der nicht (mehr) ghanaischem Gewohnheitsrecht unterliegt, nach diesem Recht (allein) übertragen oder die feststellen, dass dieses Sorgerecht einem derartigen Ghanaer nach ghanaischem Gewohnheitsrecht (allein) zusteht, sind weder dargelegt noch ansonsten ersichtlich, insbesondere nicht abschließend bzw. vollständig. Es heißt in der genannten Studie lediglich, dass die Anwendung ghanaischen Gewohnheitsrechts auf ghanaische Staatsangehörige, die sich - wie der Vater des Klägers zu 1. - freiwillig auf Dauer im Ausland aufhalten, fehlerhaft (S. 11 unten der deutschen Übersetzung) und - ohne (nähere) Begründung - eine nach diesem Recht zu ihren Gunsten erwirkte Sorgerechtsentscheidung nichtig sein kann (S. 8 oben der deutschen Übersetzung). Die fehlende Information über die Voraussetzungen der Nichtigkeit von Sorgerechtsentscheidungen der genannten Art geht zu Lasten der Beklagten, da die Nichtigkeit der Entscheidung vom 11. Mai 2004 eine anspruchsvernichtende Tatsache ist.

6. Die ghanaische Sorgerechtsentscheidung vom 11. Mai 2004 ist in diesem Verfahren anzuerkennen. Wie sich aus § 16 a FGG ergibt, sind ausländische gerichtliche Entscheidungen in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit grundsätzlich anzuerkennen, wenn nicht einer der dort aufgeführten Ausschlussgründe vorliegt. Die genannte Entscheidung enthält nicht etwa nur eine tatsächliche Feststellung des ghanaischen Gerichts, an die die deutschen Gerichte und Behörden nicht gebunden sind (dazu Zimmermann in: Kuntze/UVinkler, FGG, Komm., 15. Aufl. 2003, § 16 a Rn. 4 c). Die Entscheidung sollte vielmehr rechtliche Wirkungen äußern. Das zeigt sich u.a. daran, dass sie als "custody order" überschrieben und am Ende nochmals als "order" bezeichnet ist.

a) Der Ausschlussgrund des § 16 a Nr. 2 FGG ist nicht erfüllt. Er setzt voraus, dass einem Beteiligten, der sich zur Hauptsache nicht geäußert hat und sich hierauf beruft, das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht ordnungsgemäß oder nicht so rechtzeitig mitgeteilt worden ist, dass er seine Rechte wahrnehmen konnte. Dieser Ausschlussgrund, dessen Zweck darin besteht, dass die Beteiligten von dem Ausgangsverfahren Kenntnis erhalten, damit sie ihre Rechte wahrnehmen können und insoweit das rechtliche Gehör gewahrt ist (vgl. Zimmermann, a.a.O., § 16 a Rn. 6), ist nicht etwa deshalb erfüllt, weil die Sorgerechtsentscheidung ohne Beteiligung der Mutter des Klägers zu 1. getroffen wurde. Denn der Ausschlussgrund kommt nur zur Anwendung, wenn, sich der Betroffene darauf beruft, dass er sich zur Hauptsache nicht äußern konnte (vgl. Zimmermann, a.a.O., Rn. 6 c). Die Mutter des Klägers zu 1., zu der dieser Kläger und sein Vater ihren glaubhaften Angaben zufolge weiterhin keinen Kontakt haben und die möglicherweise keine Kenntnis von der getroffenen Entscheidung hat, hat sich bisher nicht auf die Versagung rechtlichen Gehörs berufen.

b) Die Anerkennung der Sorgerechtsentscheidung ist auch nicht nach § 16 a Nr. 4 FGG ausgeschlossen. Der dort geregelte ordre-public-Vorbehalt setzt voraus, dass die Anerkennung der Entscheidung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, insbesondere wenn die Anerkennung mit den Grundrechten unvereinbar ist. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Es ist unerheblich, dass die Entscheidung auf Antrag einer Tante des Klägers zu 1., am Tag der Antragstellung, lediglich auf der Grundlage einer eidesstattlichen Versicherung der Antragstellerin und der Anhörung eines die Antragstellerin vertretenden Anwalts sowie ohne Beteiligung des Klägers zu 1. und seiner Eltern ergangen ist. Denn die Anerkennung der Übertragung des Sorgerechts für den Kläger zu 1. allein auf dessen Vater bzw. die Anerkennung der rechtsverbindlichen Feststellung, dass dieses Sorgerecht dem Vater des Klägers zu 1. allein zusteht, führt unter Berücksichtigung der übrigen Umstände des Falles nicht zu einem Ergebnis, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts, insbesondere mit elementaren deutschen Rechten des Klägers zu 1., den Grundrechten seiner Eltern auf Pflege und Erziehung dieses Klägers (vgl. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) oder mit dem Kindeswohl, offensichtlich unvereinbar ist. Die Sorgerechtsentscheidung entspricht dem Willen und den Interessen des Klägers zu 1. und seines Vaters. Die Entscheidung, nach der der Vater des Klägers zu 1. u.a. allein personensorgeberechtigt für diesen Kläger ist, ist - wie oben ausgeführt - eine Voraussetzung für die Erteilung des begehrten Visums. Das Interesse der Mutter des Klägers zu 1. an dem Sorgerecht, das allenfalls gering sein kann, erscheint nicht schützenswert. Sie hat das Sorgerecht schon jahrelang nicht mehr wahrgenommen und ausgeübt. Sie verließ den Kläger zu 1. im Alter von etwa sechs Jahren und hat seither keinen Kontakt mehr zu ihm. Sie konnte an dem Verfahren, in dem die Sorgerechtsentscheidung erging, faktisch nicht beteiligt werden, da ihr Aufenthaltsort unbekannt war - und heute noch ist -. Das Ergebnis, zu dem die Anerkennung der Entscheidung führt, steht nicht in einem augenfälligen Widerspruch zum Kindeswohl.

II. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG muss der Ausländer, zu dem ausländische Familienangehörige nachziehen wollen, eine Niederlassungserlaubnis, eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG oder Aufenthaltserlaubnis besitzen. Es ist unerheblich, dass der Vater des Klägers zu 1. im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht (mehr) Ausländer und nicht (mehr) im Besitz eines der genannten Aufenthaltstitel ist. Denn diese Voraussetzungen müssen nach dem Sinn und Zweck des § 32 Abs. 3 AufenthG bei der Vollendung des 16. Lebensjahres bis zum Eintritt der Volljährigkeit des nachzugswilligen Kindes gegeben gewesen sein, wenn der ausländische Elternteil, zu dem der Nachzug erfolgen soll, - wie hier - im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung deutscher Staatsangehöriger ist.

Die Berufung ist gemäß § 124 a Abs. 1 VwGO zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Nr. 3 VwGO). Sie wirft die Frage auf, ob Entscheidungen ghanaischer Gerichte, nach denen das Sorgerecht für ein in Ghana lebendes Kind nach ghanaischem Gewohnheitsrecht einem Elternteil ghanaischer Staatsangehörigkeit, der sich freiwillig auf Dauer außerhalb von Ghana aufhält, - allein - zusteht, nach ghanaischem Recht wirksam sind. Diese Frage. bedarf im Sinne der Rechtseinheit einer Klärung, da sie sich in einer Vielzahl von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren stellt, die auf den Nachzug minderjähriger lediger Kinder ghanaischer Staatsangehörigkeit zu einem im Bundesgebiet lebenden Elternteilghanaischer Staatsangehörigkeit gerichtet sind, dessen alleinige Personensorgeberechtigung von der Wirksamkeit einer derartigen Sorgerechtsentscheidung abhängt. Sie wird im Ergebnis von verschiedenen Kammern des Verwaltungsgerichts Berlin unterschiedlich beurteilt (vgl. einerseits Urteil der 35. Kammer vom 24. März 2006 - VG 35 V 6.05 - und Urteil der 14. Kammer vom 9. Januar 2008 - VG 14 V 1.07 -, andererseits Urteile der 12. Kammer vom 21. Februar 2007 - VG 12 V 38.04 - und vom 27. Juni 2007 - VG 12 V 13.05 -).