OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.05.2008 - OVG 2 M 17.08 - asyl.net: M13356
https://www.asyl.net/rsdb/M13356
Leitsatz:

Zur Lebensunterhaltssicherung bei Familienzusammenführung.

 

Schlagwörter: D (A), Prozesskostenhilfe, Erfolgsaussichten, Aufenthaltserlaubnis, Familienzusammenführung, Kinder, Lebensunterhalt, atypischer Ausnahmefall, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, Deutschverheiratung, deutsche Kinder, Zumutbarkeit
Normen: ZPO § 114, VwGO § 166; AufenthG § 32 Abs. 3; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; GG Art. 6
Auszüge:

Zur Lebensunterhaltssicherung bei Familienzusammenführung.

(Leitsatz der Redaktion)

Die Beschwerde der Klägerinnen ist begründet. Die Klägerinnen haben nach § 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 121 ZPO einen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Rechtsanwalts für das erstinstanzliche Verfahren.

In Anwendung dieser Vorgaben kann nicht festgestellt werden, dass ein Erfolg in der Hauptsache hier fern liegt; vielmehr bestehen unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens hinreichende Erfolgsaussichten für die Klage der minderjährigen Kinder auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Nachzugs zu ihrer Mutter (vgl. dazu § 32 Abs. 3 AufenthG).

Vom Ausgangspunkt geht zwar das Verwaltungsgericht zutreffend davon aus, dass der Lebensunterhalt der Kinder nicht gesichert ist, weil die Klägerin zu 3., wie auch deren Ehemann, Leistungen nach dem SGB II beziehen und daher nicht in der Lage sind, den Lebensunterhalt der Familie ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu bestreiten.

Abweichend von der Bewertung des Verwaltungsgerichts bestehen hier aber möglicherweise besondere, atypische Umstände, die es ausnahmsweise erlauben, von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen. Die Worte "in der Regel" im System der Rechtsgrundlagen für Aufenthaltstitel beziehen sich auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheidet. Ausnahmefälle sind demgegenüber durch atypische Umstände gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Oktober 2007, AuAS 2008, 28). Ein derartiger Ausnahmefall kann etwa vorliegenden, wenn der Versagung der Aufenthaltserlaubnis höherrangiges Recht entgegensteht, insbesondere die Versagung mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen nicht vereinbar ist. Als solche Wertentscheidung kommt insbesondere Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG in Betracht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. März 1999, InfAuslR 1999, 332; OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. November 2006, InfAuslR 2007, 67). Die darin enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, entspricht einem Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei Entscheidungen über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen zu im Bundesgebiet lebender Personen angemessen berücksichtigen (vgl. näher u.a. BVerfG, Beschlüsse vom 8. Dezember 2005 - BVerfGK 7, 49 und vom 23. Januar 2006, InfAuslR 2006, 320).

Unter Berücksichtigung dessen liegt es hier nicht fern, dass der begehrte Kindernachzug der Klägerinnen zu 1. und 2. zu ihrer Mutter durch atypische Umstände gekennzeichnet ist, die so bedeutsam sind, dass es ausnahmsweise geboten sein könnte, von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen, wobei insoweit eine abschließende Prüfung nicht Aufgabe des summarischen Verfahrens der Prozesskostenhilfe ist, sondern dem beim Verwaltungsgericht anhängigen Klageverfahren vorbehalten bleiben muss.

Bedeutsam ist hier der Umstand, dass bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren der minderjährigen Klägerinnen zu 1. und 2. nicht nur deren Bindung an die berechtigterweise im Bundesgebiet lebende Mutter im Rahmen einer Eltern-Kind-Beziehung zu berücksichtigen ist, sondern darüber hinaus auch die familiäre Bindung der Mutter an den hier lebenden deutschen Ehemann sowie an den am 22. März 2007 geborenen gemeinsamen Sohn mit deutscher Staatsangehörigkeit, die nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtes nicht beabsichtigen, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und in die Dominikanische Republik auszuwandern. Die bestehende Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Klägerin zu 3. mit ihrem Sohn deutscher Staatsangehörigkeit kann daher nach summarischer Prüfung nur inder Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind aber nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind - wie hier - deutscher Staatsangehörigkeit ist und ihm wegen der Beziehung zu einem anderen Elternteil das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 8. Dezember 2005 - BVerfGK 7, 49 und vom 23. Januar 2006, InfAuslR 2006, 320). Angesichts dessen erscheint es möglich, dass es hier ausnahmsweise geboten ist, den öffentlichen Belang, den Kindernachzug von einer gesicherten wirtschaftlichen Grundlage abhängig zu machen, zurücktreten zu lassen und damit von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen, weil sonst die Versagung der Aufenthaltserlaubnis der Klägerinnen zu 1. und 2. mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen zum Schutz der Familie in Kollision stehen dürfte. Die Klägerin zu 3. wäre dann nämlich gezwungen, zur Fortsetzung der familiären Bindung an ihren Sohn deutscher Staatsangehörigkeit die durch Art. 6 Abs. 2 GG gewährleistete im Interesse der Kinder liegende Elternverantwortung zu Gunsten der Klägerinnen zu 1. und 2. aufzugeben. Die Folge wäre eine endgültige oder jedenfalls mehr als vorübergehende Trennung der Mutter von ihren Töchtern, die derzeit in der Dominikanischen Republik leben. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt der fünf- und siebenjährigen Kinder zur allein sorgeberechtigten Mutter deren Persönlichkeitsentwicklung dient und sie die Mutter brauchen, zumal der Vater der Kinder nicht bekannt ist und damit tatsächlic

h keine Elternverantwortung wahrnimmt.