Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in Form einer sippenhaftähnlichen Gefährdung von Familienangehörigen von Mitgliedern militanter Organisationen (hier: PKK) oder wegen des Verdachts der Unterstützung militanter Organisationen.
Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in Form einer sippenhaftähnlichen Gefährdung von Familienangehörigen von Mitgliedern militanter Organisationen (hier: PKK) oder wegen des Verdachts der Unterstützung militanter Organisationen.
(Leitsatz der Redaktion)
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Nach diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft nicht vor. Seit dem rechtskräftigen Beschluss des Schleswig-Holsteinischen OVG vom 26.10.2000 sind keine Änderungen der maßgeblichen Verhältnisse in der Weise eingetreten, dass Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könnten. Dabei legt das Gericht für das Widerrufsverfahren denselben Prognosemaßstab zugrunde, der bei verständiger Würdigung im Beschluss des OVG (a.a.O.) angelegt worden ist. Denn aufgrund der Annahme einer Sippenhaft musste das Gericht von einer bereits im Heimatland bestehenden Gefahr ausgehen, weil der der Annahme zugrunde liegende den Bruder Mustafa betreffende Sachverhalt bereits vor dessen Ausreise zu dessen Stigmatisierung als PKK-Aktivist und damit auch noch längere Zeit vor der Ausreise des Klägers zu dessen Vorfolgungsgefahr im Sinne der Sippenhaft geführt hatte (s. dazu das Urteil des OVG Saarlouis vom 04.09.1996, a.a.O.). Das OVG Schleswig-Holstein hat damit den herabgeminderten Prognosemaßstab angelegt. Dieser ist auch für die Prognose künftiger Verfolgungsgefahr im Widerrufs-Verfahren maßgeblich (vgl. VG Aachen, Urteil vom 08.11.2006, - 6 K 2059/05.A <Juris>).
Zwar haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang acht Gesetzespakete verabschiedet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 25.10.2007). Die Kernpunkte sind: Abschaffung der Todesstrafe, Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des nationalen Sicherheitsrates, Zulassung von Unterricht in anderen in der Türkei gesprochenen Sprachen als türkisch, die Benutzung dieser Sprache in Rundfunk und Fernsehen, erleichterte Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelung zur Erschwerung von Parteiverboten, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter.
Auch wenn mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets am 01.06.2005 die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt hat, hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo jedoch nicht Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.01.2007). So sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007; Kaya, Gutachten vom 25.10.2004 an OVG Münster, Gutachten vom 10.09.2005 an VG Magdeburg und vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen; Oberdiek, Gutachten vom 02.08.2005 an VG Sigmaringen; Aydin, Gutachten vom 25.06.2005 an VG Sigmaringen; ai, Stellungnahme vom 20.09.2005 an VG Sigmaringen; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation - Mai 2006 und Oktober 2007). Der EU-Fortschrittsbericht der Kommission vom 09.11.2006 attestiert der Türkei zwar Fortschritte auch im Bereich der Justiz und der Menschenrechte. Die Türkei müsse aber in einigen Bereichen die Menschenrechtslage wesentlich verbessern. Noch immer werde - insbesondere außerhalb regulärer Haft - in der Türkei gefoltert. Die Einhaltung der Menschen- und Minderheitenrechte besonders in den Kurdengebieten werde nach wie vor nicht europäischen Maßstäben gerecht.
In der Rechtsprechung wird weiter nahezu einhellig die Einschätzung vertreten, dass Folter in der Türkei noch so weit verbreitet ist, dass von einer systematischen, dem türkischen Staat zurechenbaren Praxis, nicht lediglich von Exzesstaten einzelner Angehöriger der Sicherheitskräfte auszugehen ist (vgl. OVG Münster, Urt. v. 26.06.2004 - 8 A 3852/03.A - <Juris> = Asylmagazin 10/2004, 30; Urt. v. 19.04.2005 - 6 A 273/04.A - <Juris> -; Urt. v. 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - <Juris> - und Urt. v. 17.04.2007 - 8 A 2771/06.A; OVG Koblenz, Urt. v. 12.03.2004 - 10 A 11952/03 - <Juris> = Asylmagazin 7-8/2006, 27; OVG Weimar, Urt. v. 18.03.2005 - 3 KO 611/99 -, Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 29.11.2004 - 3 L 66/00 -, Asylmagazin 1-2/2005, 32; OVG Saarland, Urt. v. 01.12.2004 - 2 R 23/03 -, Asylmagazin 4/2005, 30; OVG Bautzen, Urt. v. 19.01.2006 - A 3 B 304/03 -; VG Berlin, Urt. v. 01.03.2006, Asylmagazin 7-8/2006, 37 und Urt. v. 13.10.2006, Asylmagazin 1-2/2007, 32; VG Frankfurt, Urt. v. 02.03.2006, Asylmagazin 6/2006, 20; VG Weimar, Urt. v. 30.06.2005 - 2 K 20643/04 -; VG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2006 - 26 K 1747/06 -; Urteil vom 24.08.2006 - 4 K 1784/06.A - <Juris> - und Urteil vom 24.01.2007 - 20 K 4697/05.A - <Juris> -; VG Ansbach, Urteil vom 06.03.2007, AuAS 2007, 141; VG Münster, Urteil vom 08.03.2007 - 3 K 2492/05.A - <Juris> -: VG Bremen, Urt. v. 30.06.2005 - 2 K 1611/04 -).
Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007).
In Reaktion auf diese Zunahme von Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29.06.2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft. Dementsprechend hat sich das Reformtempo seit Anfang 2005 deutlich verlangsamt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Aufgrund. der zunehmenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen Militär wurde die Debatte über eine weitere Demokratisierung in der Türkei nunmehr von der Sicherheitsfrage verdrängt (vgl. NZZ vom 24.10.2007). In einem Memorandum des Generalstabsamtes vom 24.04.2007 haben sich die türkischen Streitkräfte gegenüber dem EU-Beitritt der Türkei negativ positioniert; dies und die intensivierten militärischen Auseinandersestzungen in der Türkei haben die Sicherheitskräfte ermutigt, die Reformgesetze zu missachten (vgl. Kaya, Gutachten vom 20.06.2007 an OVG Bautzen). Angesichts dieser Entwicklung ist völlig offen, ob der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei zur Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft konsequent fortgeführt und insbesondere auch umgesetzt wird.
Es kann zur Überzeugung des erkennenden Gerichts auch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger aufgrund des Verdachts, sein Bruder habe als militanter Aktivist die PKK unterstützt, bei einer Einreise in die Türkei einem intensiven Verhör unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden. Zwar wird zunehmend die Auffassung vertreten, dass in der Türkei nahen Angehörigen von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen Organisation sog. Sippenhaft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. dazu OVG NRW, Urteil vorn 18.04.2005 - 8 A 273/04.A -, <Juris>; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30.05.2006 -: OVG Hamburg. Urteil vom 02.11.2006 - 4 Bf 4/95.A -, <Juris>). - Unter der klarstellenden Voraussetzung, dass mit Sippenhaft nicht die strafrechtliche Verfolgung von nahen Angehörigen anstelle des Gesuchten gemeint ist, sondern die Gefahr asylerheblicher Repressalien naher Angehöriger in Anknüpfung an verwandtschaftliche Beziehungen, ist die dem zugrunde liegende Einschätzung ist jedoch durchaus umstritten. So nimmt das OVG Berlin-Brandenburg weiterhin die Gefahr von asylerheblicher Verfolgung von nahen Angehörigen von in der Türkeit landesweit per Haftbefehl gesuchten Aktivisten an (Urteil vom 30.05.2006 - OVG 10 B 5.05 -; www.asyl.net) und bezieht sich dabei u.a. auf Kaya; Gutachten vom 27.01.1999 an VG Mainz.
Aufgrund dieser Erkenntnisse hält es das Gericht jedoch nicht für hinreichend sicher, dass der Kläger als Bruder eines landesweit als Aktivist einer militanten staatsfeindlichen Organisation Gesuchten bei der Einreise asylerheblicher Misshandlung ausgesetzt sein wird.
Im Übrigen ist nicht auszuschließen, dass Personen, auf die ein Verdacht der Unterstützung der PKK gefallen ist, nach wie vor im Innern der Türkei einer Folter in Form von physischen und psychischen Zwängen unterzogen werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 23.02.2008; Taylan, Gutachten vom 29.05.2006 an VG Wiesbaden; Kaya, Gutachten vom 10.09.2005 an VG Magdeburg). - Nach allem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten, so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht weggefallen sind. Dass die Beklagte im Lichte neuerer Erkenntnisse die konkrete Verfolgungsgefahr für den Kläger anders bewertet, also aus heutiger Sicht bei der damaligen Sachlage keinen Flüchtlingsstatus mehr gewähren würde, rechtfertigt den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.09.2000, a.a.O. und Urt. v. 08.05.2003, a.a.O.). Damit ist für den angefochtenen Widerrufsbescheid des Bundesamtes kein Raum.
Außerdem steht dem Widerruf der Flüchtlingszuerkennung die Rechtskraft des Beschlusses des OVG Schleswig-Holstein vom 26.10.2000 entgegen. § 73 AsylVfG befreit nicht von der Rechtskraftbindung nach § 121 VwGO), sondern setzt vielmehr voraus, dass die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung der Rücknahme oder dem Widerruf der Flüchtlingseigenschaft nicht entgegensteht (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1998. BVerwGE 108, 30; zur Rechtskraft von urteilsersetzenden Beschlüssen vgl. z.B. Kuntze in Bader u.a., VwGO, 4. A., Anm. 3 zu § 122).