VG Neustadt a.d.W.

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Zitieren als:
VG Neustadt a.d.W., Urteil vom 02.06.2008 - 4 K 186/08.NW - asyl.net: M13365
https://www.asyl.net/rsdb/M13365
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei (hier: Kurde, der wegen Verdachts der Unterstützung der PKK verfolgt worden ist).

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, politische Entwicklung, Reformen, Kurden, PKK, Verdacht der Unterstützung, Beweislast, Menschenrechtslage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei (hier: Kurde, der wegen Verdachts der Unterstützung der PKK verfolgt worden ist).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet. Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (die frühere Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen) unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Für die Rechtmäßigkeit der Widerrufsentscheidung ist entscheidend, dass die für die Anerkennungs- und Feststellungsentscheidung maßgebenden Voraussetzungen nachträglich entfallen sind, die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nunmehr ausgeschlossen ist. Dabei erfolgt die Beurteilung des Ausschlusses künftiger Verfolgung unter Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten. Maßgebend sind die tatsächlichen Verhältnisse im Heimatland im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung. Bei einem Asylberechtigten, der in seinem Heimatstaat bereits Verfolgungsmaßnahmen erleiden musste, ist der Widerruf rechtmäßig, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht (BVerwG, DVBl 2006, 511; vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 5. Juni 2007 - 10 A 11576/06.OVG -).

Denn die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (die frühere Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen) am 8. Januar 1998 sind im ausschlaggebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 2. Juni 2008 nicht entfallen. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hatte den Klägern aufgrund des genannten Verpflichtungsurteils des VG Trier mit Bescheid vom 25. Februar 1998 Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zuerkannt, weil das Verwaltungsgericht Trier davon ausgegangen war, den Klägern drohe im Falle einer Rückkehr eine asylrelevante Verfolgung. Der Kläger zu 1) sei seit den frühen 80er Jahren verdächtigt worden, mit der PKK zu sympathisieren und diese sogar zu unterstützen.

Die Beklagte hat sich in ihrem Widerrufsbescheid vom 7. Februar 2008 lediglich darauf berufen, die Rechtslage und Menschenrechtssituation habe sich in der Türkei seit dem Ausspruch der Vergünstigung deutlich zum Positiven verändert. Die Gefahr, gewaltsamen und menschenrechtswidrigen Übergriffen der Sicherheitsbehörden ausgesetzt zu werden, habe deutlich abgenommen. Ausführungen zum individuellen Verfolgungsschicksal der Kläger finden sich jedoch nicht. Der bloße Zeitablauf oder die bloße Änderung der allgemeinen politischen Verhältnisse im Heimatland des Asylberechtigten ohne konkreten Bezug auf diesen stellt jedoch grundsätzlich keine nachträgliche wesentliche Sachverhaltsänderung dar. Nach Auffassung der Kammer (s. auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18. November 2005 - 10 A 10580105.OVG -) kann einem wegen des Vorwurfs der Unterstützung der PKK vorverfolgten Kurden ungeachtet der neueren innenpolitischen Entwicklung in der Türkei eine Rückkehr dorthin wegen drohender politischer Verfolgung nach wie vor nicht zugemutet werden. Zwar hat die innenpolitische Entwicklung in der Türkei im Zusammenhang mit den Bemühungen um einen EU-Beitritt, die mit dem Ende des Ausnahmezustandes in den Provinzen von Diyarbakir und Sirnak am 30. November 2002 begonnen hat, zu grundlegenden Veränderungen geführt. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang acht Gesetzespakete verabschiedet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. Oktober 2007, Seite 8/9). Die Reformpolitik der türkischen Regierung zielt erklärtermaßen auch auf eine weitere Demokratisierung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei zum Wohle ihrer Bürger ab und wurde seitdem auch weiter vorangebracht. Hierdurch wurde auch ein Mentalitätswandel bei großen Teilen der Bevölkerung eingeleitet (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. Oktober 2007, Seite 5). Eine Befriedung des kurdischen Südostens durch die Anerkennung der kulturellen und politischen Rechte der kurdischen Bevölkerung hat bisher allerdings nicht in ausreichendem Maße stattgefunden. Nach einer kurzen Phase der Ruhe und Erschöpfung ist in den letzten Jahren der bewaffnete Kampf der PKK gegen die türkischen Sicherheitskräfte in der Südosttürkei wieder aufgeflammt (vgl. den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007, S. 17 f.; FAZ vom 23. Februar 2008). Auch ist die Gefahr, im Rahmen einer Ingewahrsamnahme als ernstzunehmender Gegner des türkischen Staates misshandelt zu werden, noch nicht gebannt. Insbesondere solche politische Aktivisten müssen auch derzeit noch im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit schwerwiegenden Übergriffen rechnen, wenn sie als exponierte und ernstzunehmende Gegner des türkischen Staates in Erscheinung treten (s. zuletzt Urteil der Kammer vom 7. Februar 2008 - 4 K 1560/07.NW -). Darunter sind solche Aktivisten zu verstehen, die sich mit ihren politischen Ideen und Strategien gegen die tragenden Grundprinzipien der Türkei wenden und dabei zu deren Umsetzung maßgeblichen Einfluss auf die türkische Innenpolitik oder auf ihre Landleute zu nehmen versuchen oder sonst eine auf Breitenwirkung zielende Meinungsführerschaft übernehmen. Diese Schwelle wird dabei unter anderem dann überschritten, wenn die Betreffenden als Auslöser oppositioneller Aktivitäten, als Organisatoren entsprechender Veranstaltungen oder als Anstifter und Aufwiegler zu gegen den türkischen Staat gerichteten Kampagnen auftreten oder wenn ihre Verlautbarungen bzw. Vorgehensweisen die Vermutung nahe legen, sie verfügten über besondere Kenntnisse der Szene oder über hervorgehobene Autorität bei ihren Gefolgsleuten oder seien mit ihrem Engagement in militante Organisationen eingebunden. Gleiches gilt vor diesem Hintergrund erst recht, wenn die Betreffenden damit im Zusammenhang bereits zur Fahndung ausgeschrieben sind, weil gegen sie ein staatsschutzrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. März 2006 - 10 A 10665/05.OVG -).

Danach kann die Gefahr erneuter Misshandlung oder menschenrechtswidriger Behandlung im Falle einer Rückkehr der Kläger in die Türkei nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Die beweispflichtige Beklagte hat nicht ausreichend dargelegt, dass die individuellen Gründe, die seinerzeit zu einer Stattgabe der Klage der Kläger geführt haben, nachträglich weggefallen sein sollen. Der Kläger zu 1) war als Unterstützer der PKK in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten und von diesen misshandelt worden. Vor diesem Hintergrund ist nicht ausgeschlossen, dass er und seine nächsten Angehörigen bei einer Rückkehr in die Türkei das besondere Augenmerk der Sicherheitskräfte erneut auf sich lenken könnten. Trotz der dargestellten Reformbemühungen der zurückliegenden Jahre kommt es vor allem im Vorfeld offizieller strafrechtlicher Ermittlungen gegenwärtig noch zu Übergriffen, die dem türkischen Staat zurechenbar sind und jedenfalls von asylerheblicher Art und Intensität sein können (s. auch den aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007). Vorverfolgt ausgereiste Asylbewerber sind deshalb auch gegenwärtig vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher.