OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 03.06.2008 - 4 A 144/08 - asyl.net: M13366
https://www.asyl.net/rsdb/M13366
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, BSHG, Sozialhilfe, Passbeschaffung, Kosten, Gebühren, notwendiger Lebensunterhalt, Beurteilungszeitpunkt, Kostenerstattung, Ausweisersatz, Zumutbarkeit, Nachrangigkeit
Normen: BSHG § 21; BSHG § 11; AuslG § 4 Abs. 1; AuslG § 39 Abs. 1; BSHG § 2 Abs. 1; AsylbLG § 2 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

1. Zwar richtet sich der Erfolg einer - auf laufende Hilfe zum Lebensunterhalt gerichteten - Verpflichtungsklage in der Regel nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung. Dieser Grundsatz ist jedoch dann nicht anwendbar, wenn der Betroffene - wie hier - die in Rede stehenden Kosten für einen einmaligen sozialhilferechtlichen Bedarf (§ 21 BSHG) bereits aufgewendet hat und deren Erstattung geltend macht. Für diesen Fall ist für die Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen der Zeitpunkt der durch den Hilfsbedürftigen herbeigeführten Bedarfsdeckung maßgeblich (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 14.6.1994 - 6 S 3076/92 - InfAuslR 1996, 346).

2. Die Voraussetzungen des § 21 Abs. i.V.m. § 11 BSHG für den geltend gemachten Anspruch auf Erstattung der in Rede stehenden Passbeschaffungskosten sind erfüllt. Insbesondere gehören Kosten für die Ausstellung eines Passes, zu dessen Besitz ein Ausländer im hier maßgeblichen Zeitraum nach § 4 Abs. 1 AuslG verpflichtet war, zum notwendigen Lebensunterhalt i. S. v. § 11 Abs. 1 BSHG.

Notwendiger Lebensbedarf im Sinne von § 11 Abs. 1 BSHG umfasst das zur Erfüllung notwendiger Bedürfnisse des täglichen Lebens erforderliche Existenzminimum. Dieses Existenzminimum erstreckt sich nicht nur auf elementare körperliche (physiologische) Bedürfnisse des Hilfsbedürftigen wie Nahrung, Heizung und Unterkunft, sondern umfasst auch solche Aufwendungen, die erforderlich sind, damit der Hilfsbedürftige seinen gesetzlichen Pflichten nachkommen kann (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 14.6.1994, a.a.O.).

Im vorliegenden Fall waren die Aufwendungen der Klägerin für die Beschaffung ihres Passes erforderlich, um ihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen, weil sie der Passpflicht nach § 4 Abs. 1 AuslG unterlag. Eine Ausnahme von der Passpflicht nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 und 2 AuslG war ersichtlich nicht gegeben; die Klägerin war weder von der Passpflicht befreit (Nr. 1) noch standen ihr andere Ausweise - wie etwa Reiseausweise - zur Verfügung (Nr. 2).

Soweit die Beklagte vorbringt, die in Rede stehenden Aufwendungen der Klägerin seien nicht zur Erfüllung von gesetzlichen Pflichten erforderlich gewesen, weil sie diesen Pflichten auch mit einem Ausweisersatz gemäß § 39 AuslG hätte entsprechen können, weshalb schon deshalb eine Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 2 AuslG nicht in Rede stehen könne, kann ihr der Senat nicht folgen. Der Ausweisersatz nach § 39 AuslG ersetzt nicht den Pass (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 14.6.1994, a.a.O.). Dessen ungeachtet lagen die Voraussetzungen der Norm nicht vor. Denn dies hätte nach § 39 Abs. 1 Satz 1 AuslG vorausgesetzt, dass die Klägerin einen Pass nicht in zumutbarer Weise erlangen konnte. Dies war hier aber nicht der Fall, weil der Klägerin am 25.2.2004 ohne weiteres einen Pass gegen Entrichtung der entsprechenden Gebühr ausgestellt wurde. Schließlich ist die Frage der Strafbarkeit hier nicht von Bedeutung. Auch wenn eine Strafbarkeit nicht gegeben wäre, würde dies an der gesetzlichen Verpflichtung zum Besitz eines Passes gemäß § 4 Abs. 1 AuslG nichts ändern. Die Passpflicht kann erst nach heutiger Rechtslage auch durch den Besitz eines Ausweisersatzes erfüllt werden (§ 3 Abs. 1 Satz 2 AufenthG).

3. Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass die Klägerin nach Stellung des Antrags auf Übernahme der Kosten für die Beschaffung des Passes diese am 25.2.2004 selbst beglichen hatte.

Zwar kann Sozialhilfe regelmäßig nicht für die Vergangenheit gewährt werden. Etwas anderes gilt nach ständiger Rechtsprechung in Eilfällen und bei Einlegung von Rechtsbehelfen um der Effektivität des Rechtsschutzes willen. Deshalb darf sich ein Hilfeempfänger selbst behelfen und vom Sozialhilfeträger die Übernahme der Kosten verlangen, wenn ihm ein weiteres Zuwarten nicht zumutbar war. Im vorliegenden Fall war der Klägerin im Zeitpunkt der Selbsthilfe am 25.2.2004 das weitere Zuwarten auf die Entscheidung nicht mehr zumutbar. Zwar lag zwischen der Antragstellung und der Bedarfsdeckung durch die Klägerin nur ein kurzer Zeitraum von zwei Wochen; dies ist hier jedoch nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Denn die Beklagte hat die Klägerin im Zusammenhang mit deren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 AuslG mit Schreiben vom 18.2.2004 auf ihre Passpflicht hingewiesen und gebeten, einen solchen bei der zuständigen Botschaft zu beantragen und ihr unter dem 24.2.2004 die Erlaubnis erteilt, sich am 25.2.2004 in der Passangelegenheit nach Berlin zu begeben.

4. Schließlich steht auch der Nachranggrundsatz nach § 2 Abs. 1 BSHG dem Anspruch nicht entgegen. Zwar erhält nach dieser Regelung keine Sozialhilfe, wer sich selbst helfen kann oder wer die erforderliche Hilfe von anderen erhält. Gleichwohl ist die Bejahung eines Sozialhilfeanspruchs mit diesem Grundsatz vereinbar, wenn der Hilfebedürftige den Bedarf aus Mitteln bestritten hat, die ihm ein Dritter im Wege eines Darlehens zur Verfügung gestellt hat, weil der Hilfebedarf nicht rechtzeitig mit Mitteln der Sozialhilfe gedeckt wurde (etwa: BVerwG, Urt. v. 23.6.1994, BVerwGE 96, 152 [153, 155]).