VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 21.05.2008 - 8 K 1025/07 - asyl.net: M13385
https://www.asyl.net/rsdb/M13385
Leitsatz:

Das Fehlen hinreichender Eigeninitiative zur Erlangung eines Passes erfüllt den Tatbestand des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG in der Regel nicht.

(amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Altfallregelung, Verzögerung der Aufenthaltsbeendigung, Passbeschaffung, Mitwirkungspflichten, Kausalzusammenhang, Libanon, Libanesen, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Identität ungeklärt, Passpflicht, Zumutbarkeit, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 4; AufenthG § 48 Abs. 3; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1a; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4; AufenthG § 5 Abs. 3
Auszüge:

Das Fehlen hinreichender Eigeninitiative zur Erlangung eines Passes erfüllt den Tatbestand des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG in der Regel nicht.

(amtlicher Leitsatz)

 

Die zulässige Klage hat Erfolg. Die Kläger haben einen Anspruch auf die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

I. Streitgegenstand in diesem Verfahren ist nicht allein der von den Klägern konkret geltend gemachte Anspruch aus § 25 Abs. 5 AufenthG, sondern zugleich alle weiteren möglichen Ansprüche, die aus Kapitel 2, Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes herrühren.

II. Die Kläger zu 1) bis 9) erfüllen die Anspruchsvoraussetzungen des § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG in vollem Umfang.

Den Klägern kann nicht vorgehalten werden, dass sie die Beklagte vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht oder behördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich hinausgezögert hat (§ 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufentG). Bei der Auslegung dieser Vorschrift ist nach der Rechtsprechung der Kammer – wie es auch die Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern vom 02.10.2007 (PGZU – 128 406/1) vorsehen – ein großzügiger Maßstab anzulegen (vgl. VG Hamburg, Urt. v. 30.01.2008 – 8 K 3678/07, juris). Dies erfordert eine enge Auslegung der Tatbestandsmerkmale, sodass lediglich Handlungen von einigem Gewicht den Tatbestand erfüllen. Dies folgt bereits aus dem Gesetzeswortlaut, der – im Gegensatz zu § 25 Abs. 5 Satz 3 und 4 AufenthG (vgl. dazu OVG Münster, Beschl. v. 18.09.2006 – 18 A 2388/06, juris) – nicht jedes Verschulden des Ausländers im Hinblick auf das Ausreisehindernis und nicht jedes Unterlassen einer zumutbaren Mitwirkungshandlung genügen lässt. Einem Anspruch aus § 104a Abs. 1 AufenthG stehen vielmehr nur bestimmte im Einzelnen bezeichnete Handlungen entgegen. Unter den Begriff des Täuschens fallen dabei vor allem Falschangaben über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände. Ein Hinauszögern oder Behindern liegt dann vor, wenn aktiv aufenthaltsbeendenden Maßnahmen entgegengewirkt wird, indem nachweislich beispielsweise Dokumente vernichtet oder unterdrückt werden oder der Betreffende untertaucht. Hingegen spricht bereits der Wortlaut dagegen, das Tatbestandsmerkmal bei bloßen Verstößen gegen allgemeine Mitwirkungspflichten etwa nach § 48 Abs. 3 AufenthG als erfüllt anzusehen. Es genügt deshalb nicht, wenn es ein Ausländer beispielsweise an hinreichenden selbstinitiativen Bemühungen um einen Pass fehlen lässt. Die Begriffswahl, die an bestimmte Handlungen anknüpft und die fehlende Mitwirkung bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gerade nicht aufführt, weist vielmehr darauf hin, dass eine unterlassene Mitwirkung nur dann den Tatbestand erfüllt, wenn dem eine konkrete Aufforderung der Ausländerbehörde zu einer ganz bestimmten Mitwirkungshandlung vorangegangen ist (vgl. ebenso OVG Münster, Beschl. v. 12.02.2008 – 18 B 230/08, juris; VG Hamburg, Urt. v. 14.02.2008 – 10 K 2790/07, zur Veröffentlichung in juris vorgesehen).

Eine solche enge Auslegung des Ausschlussgrundes des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG entspricht dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Ziel des Gesetzgebers war es ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/5065, S. 201), den im Bundesgebiet seit Jahren geduldeten und hier integrierten Ausländern eine dauerhafte Perspektive zu geben. Dabei hatte der Gesetzgeber diejenigen geduldeten ausreisepflichtigen Ausländer im Blick, deren Abschiebung nach aller Voraussicht auch in nächster Zeit nicht möglich sein wird. Mit § 104a AufenthG sollte – insofern anknüpfend an den Bleiberechtsbeschluss der Innenministerkonferenz vom 17.11.2006 – ein Schlussstrich gezogen werden. Langjährig hier lebende, rechtstreue und integrierte Ausländer sollten den allgemein als unbefriedigend erachteten Status fortlaufender Duldungen verlassen und in einen gesicherten Status wechseln können.

Soweit die Beklagte darüber hinaus eine hinreichende Mitwirkung der Kläger bei der Passbeschaffung vermisst und lediglich äußerst zurückhaltende und formale Bemühungen mit der Zielsetzung, gerade keinen Pass bzw. Passersatzpapier zu erhalten, feststellt, folgt daraus nach der hier zugrunde zu legenden Auslegung von § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG kein Ausschlussgrund. Soweit die Beklagte die Kläger zu konkreten Schritten aufgefordert hat, um ein libanesischen Pass oder ein Passersatzpapier ("Laissez-Passer") zu beschaffen, sind die Kläger dem nachgekommen.

Nachweisliche Anhaltspunkte dafür, dass die Erfolglosigkeit dieser Anträge einer bloß formalen Mitwirkung der Kläger zuzurechnen sein könnte, liegen dem Gericht nicht vor. Die ablehnende Haltung der Botschaft wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass sowohl die Schwester als auch der Bruder des Klägers zu 1), die beide in Deutschland leben, über libanesische Reisepässe besitzen bzw. besessen haben. Im Gegensatz zu den Klägern in diesem Verfahren verfügten bzw. verfügten beide über Aufenthaltstitel in Deutschland, sodass es an der Vergleichbarkeit mit der Situation der Kläger fehlt. Bei Zusicherung einer Aufenthaltserlaubnis durch die Beklagte wäre es auch den Klägern nach ihrem Bekunden in der mündlichen Verhandlung möglich, die entsprechenden Identitätspapiere im Libanon zu besorgen und einen Pass zu erhalten.

Von einer von den Klägern bezweckten Erfolglosigkeit der Vorsprache bei der Botschaft kann schließlich nicht deshalb ausgegangen werden, weil nach den Erkenntnissen der Beklagten aus anderen Verfahren eine freiwillige Rückkehr von (angeblich) passlosen Libanesen in ihre Heimat immer wieder zu beobachten ist. Insofern entspricht dies zwar den Erkenntnissen der Clearingstelle Rheinland-Pfalz für Flugabschiebung und Passbeschaffung in Trier vom 19.09.2005, die als Anlage der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Sigmaringen vom 26.09.2005 beigefügt sind. Darin heißt es, dass die Botschaft des Libanon nach allgemeiner Erfahrung bei ernsthafter Mitwirkung und freiwilliger Ausreisebereitschaft definitiv Heimreisedokumente für ihre Staatsangehörigen ausstelle, auch wenn es sich dabei um eine vor dem Jahr 2000 eingereiste und nicht straffällige Familie handele. Weiter heißt es allerdings, dass nicht beantwortet werden könne, welchen konkreten Mitwirkungshandlungen eine vor dem Jahr 2000 eingereiste Familie erbringen müsse, weil es sich in diesen Fällen um individuelle Absprachen zwischen der Botschaft und den Betroffenen handele. Letzteres macht deutlich, dass gänzlich unklar ist, unter welchen Bedingungen die Botschaft Passersatzpapiere entgegen ihrer offiziellen Haltung ausstellt. Gänzlich unklar ist deshalb auch, ob die Kläger bei ihren Besuchen in der Botschaft in der Lage gewesen wären, eine solche individuelle Absprache zu treffen und die dann möglicherweise verlangten Mitwirkungshandlungen vorzunehmen. Schon deshalb kann von einem nachweislichen Hinauszögern bzw. Behindern der Aufenthaltsbeendigung nicht ausgegangen werden.

III. Den Klägern kann nicht das Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1a und 4 AufenthG entgegengehalten werden.

Soweit die Beklagte einwendet, die Identität der Kläger sei ungeklärt (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG), trifft dies nicht zu. Begründete Zweifel an der Identität der Kläger sind während der nunmehr 18 Jahre ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik niemals entstanden und werden auch heute nicht geltend gemacht. Im Rahmen des Asylverfahrens hat der Kläger zu 1) im Übrigen eine Geburtsurkunde vorgelegt, die sich in Kopie bei den Sachakten befindet. Diese Geburtsurkunde bestätigt die Angaben des Klägers im Wesentlichen, wie der Dolmetscher des Bundesamtes im Rahmen der Anhörung bekundet hat. Soweit das Geburtsdatum um einen Tag abweicht, genügt dies nicht, um von einer ungeklärten Identität auszugehen. Für die Richtigkeit der Angaben der Kläger spricht schließlich, dass die Beklagte Verwandte in der Bundesrepublik ausfindig gemacht hat, die den gleichen Namen tragen.

Dem weiteren Einwand der Beklagten, die Passpflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG i.V. mit § 3 AufenthG sei nicht erfüllt, vermag das Gericht ebenfalls nicht zu folgen. Nach der oben dargelegten offiziellen Haltung der Botschaft des Libanon können die Kläger ohne Vorlage eines Aufenthaltstitels oder einer entsprechenden Zusicherung keinen Pass erhalten. Ein zumutbarer Weg, wie die Kläger gleichwohl einen Pass erlangen können, ist weder von der Beklagten dargetan worden noch sonst ersichtlich (vgl. § 48 Abs. 2 AufenthG). Gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG muss die Beklagte deshalb von der Erfüllung der Passpflicht absehen. Das ihr nach dieser Vorschrift eingeräumte Ermessen ist zugunsten der Kläger auf Null reduziert.